Ein Gespräch mit Micha Pallesche, Schulleiter der Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe

Eine Medienschule von Anfang an – der Prozess ist wichtig, das Produkt steht im Zentrum

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Barbara Riekmann, Micha Pallesche

Die Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule hat in den vergangenen Jahren ihre Lernkultur grundsätzlich verändert. Im Zentrum stehen die individuelle Arbeit an Wochenplänen und Lernweglisten, das themenorientierte Arbeiten als fächerübergreifender Unterrichtsansatz, ein erweitertes Bildungsangebot im Rahmen einer gebundenen Ganztagsschule sowie ein kontinuierliches Lerncoaching. Als Medienschule von Anfang an ist die Schule mehrfach ausgezeichnet worden. In diesem Jahr hat sie den Deutschen Schulpreis im Themenkreis Demokratiebildung erhalten.

In Ihren Veröffentlichungen betonen Sie, dass die digitale Kultur und die Bausteine einer neuen Lernkultur in der Entwicklung Ihrer Schule eng miteinander zusammenhängen. Hat die Digitalität Ihre Schule verändert oder war es umgekehrt?

Wir haben uns ab 2014 intensiv mit dem Gedanken befasst, Schule anders zu denken. Damals war klar, dass wir an unserer Lernkultur arbeiten wollen. Das war der Ausgangspunkt. Aber die Tatsache, dass digitale Medien eine immer größere Rolle in unserer Gesellschaft spielen, wollten wir in unser Profil aufnehmen, und zwar zunächst mal, um die Lernprozesse zu unterstützen. Uns wurde aber relativ schnell klar, dass es um mehr geht, nämlich um ein grundlegend anderes Verständnis. Digitale Geräte eben nicht mehr nur als Tools zu sehen, mit denen analoge Prozesse optimiert werden. Sondern dass es um veränderte kulturelle Praktiken geht, die unsere Gesellschaft verändern und sich natürlich auch in irgendeiner Form im Lernen der Kinder widerspiegeln müssen. Wenn man sich diese Praktiken einer Kultur der Digitalität anschaut, findet sich etwas wie Partizipation, dann geht es um Co-Creation. Gerade in einer Welt, die immer komplexer wird, muss man gemeinschaftlich co-creativ Probleme lösen. Es geht um Ergebnisoffenheit, und es geht auch um Sinnhaftigkeit. Wenn man das berücksichtigt, sind digitale Medien ein Bestandteil des Lernens, aber sie sind kein Add-On mehr, sondern sie sind ganz organisch eingebunden in den Lernprozess.

Wir haben relativ früh damit begonnen, digitale Medien zu nutzen, um Produkte zu schaffen; es ging uns darum, dass Lernende ihre eigenen Materialien, ihren eigenen Content selbst produzieren. Das war damals unser Einstieg, der sehr spannend war, denn letztendlich ging es um die veränderte Praxis.

Welche Beispiele für diese Arbeitsweise würden Sie besonders hervorheben, worauf sind Sie besonders stolz?

Im gesamten Bereich der Produktion sind unsere Schüler:innen unglaublich stark, also im Erstellen von Materialien, von Erklärvideos, von Podcasts, von Audiodateien. Wir legen zugleich großen Wert auf den Bereich des Jugend-Medienschutzes. Auch da sind die Schüler:innen gut aufgeklärt und kritisch. Wir haben eine tolle Schüler:innenzeitung, das „Ernschtle“, sie ist ganz aktuell auch die beste Deutsche Schüler:innenzeitung, die crossmedial arbeitet. Sie erscheint einmal im Jahr als Printmedium, aber auch als Internetseite –ernschtle.de–. Es gibt einen Videokanal, aktuell wird dort ein Podcast erstellt.
Bei den Lernsettings gibt es den einen Bereich, in dem Schüler:innen individualisiert arbeiten, ihre eigenen Lernpfade verfolgen und durch Programme unterstützt werden. Ein zweiter Bereich ist uns sehr wichtig: Wir haben vor fünf Jahren das sogenannte „Themenorientierte Arbeiten“ eingeführt – THEA – bei dem wir Themenfelder aus den 17 Nachhaltigkeitszielen identifiziert haben, um diesen dann die Inhalte der Bildungspläne aus dem Fächerkanon der Nebenfächer zuzuordnen. So entstanden vier Themenfelder in den Klassen 5, 6 und 7. Wir arbeiten en bloc und beleuchten das Themenfeld aus unterschiedlichen Fachperspektiven. Am Ende steht immer ein Produkt. Zum Beispiel haben wir ein Themenfeld, das nennt sich „Das grüne Wunder Wald“; da sind wir 10 Wochen lang im Wald mit dem Forstamt als Kooperationspartner. Die Schüler:innen dokumentieren mit Portfolios, was sie dort wöchentlich machen, und dann entsteht ein Produkt, also entweder ein Erklärvideo, das produziert wird oder ein Modell, das gebaut wird oder ein Marktstand beim Karlsruher Stadtfest, um dort Honig zu verkaufen. Diese Lernnachweise entstehen aus einer guten Kombi aus analogen und digitalen Mitteln.

Welche Ausstattung war hierfür notwendig?

Alle Klassen- und Lerngruppenräume haben Präsentationsmöglichkeiten. Wir arbeiten mit schuleigenen Tablets in Tablet-Koffern. Dabei haben wir bewusst keine Eins-zu-Eins-Versorgung, weil wir die Geräte nur nutzen wollen, wenn wir sie brauchen. Für das mobile Lernen ist wichtig, dass die digitale Ausstattung im ganzen Hause und auch außerhalb auf dem ganzen Schulgelände vorhanden ist. Zentral für uns ist der Maker-Space-Raum. Das ist im Grunde ein Filmproduktionsstudio mit Schnittplätzen, Robotik, Coding, 3-D-Drucker, Mikrocontroller usw. Ich glaube, da sind wir sehr privilegiert. Das liegt sicherlich auch daran, dass wir früh dran waren. Wir sind 2014/15 mit dem Medienprofil gestartet, 2017 waren wir die erste Smart-School Baden-Württembergs - früh dran also auch im Kontakt mit dem Schulträger und haben zudem über Preisgelder und Stiftungen Finanzierungsmöglichkeiten erschlossen.
Auf unserer digitalen Lernplattform arbeiten wir mit DiLer, die von einem Team der Gemeinschaftsschule Wutöschingen entwickelt wurde. Auf der sogenannten Next Cloud, einer datenschutzrechtlich abgesicherten Cloud-Lösung auf unserem Server, können die Schüler:innen Daten ablegen, tauschen und damit auch kollaborativ arbeiten.

In Ihrem Schulprofil betonen Sie „Ein Minimum an individuellen und ein Optimum an kooperativen Lernen“. Wie halten Sie diese Balance?

Der Zeitgeist geht aktuell in Richtung Individualisierung. Dies auch, weil neue technische Möglichkeiten vorhanden sind und die künstliche Intelligenz darin ihre Stärken hat, beispielsweise in der Diagnostik und danach natürlich im adaptiven Lernen. KI kann individuelle Lernpfade erstellen, sie kann reagieren, sie kann Feedback geben. Ich sehe darin eine Gefahr, denn es wird außer Acht gelassen, dass die Fragestellungen, die Schülerinnen und Schüler in Zukunft erwartet, so komplex sind, dass sie eben nicht mehr individuell gelöst werden können. Was wir bräuchten, wären reale Problemstellungen, komplexe Fragestellungen, die von Schülerinnen und Schülern möglichst gemeinschaftlich co-creativ gelöst werden. Das wäre jetzt mein Weg mit meiner Schule.

Einen Gedanken würde ich gerne zusätzlich in die Diskussion einbringen. Im Rahmen meiner Doktorarbeit habe ich Lehrkräfte an so genannten Best Practice Schulen gefragt, was für sie Transformation bedeutet. Für die Lehrkräfte war das „Entgrenzen“ von Fach-, Zeit- und Ortsstrukturen das wichtigste Element der Transformation. Wenn man das betrachtet, müssen wir alles nochmal auf den Kopf stellen und aus der Schülerperspektive fragen, wie gutes Lernen eigentlich aussehen muss.

Noch einmal zur KI. Wie gehen Sie damit um?

Wir haben direkt nach dem Erscheinen von ChatGPT vor zweieinhalb Jahren mit der gesamten Schulgemeinschaft einen „Roten Salon“ zu dem Thema gemacht und sind der Frage nachgegangen, was es für das Lernen und auch für uns bedeutet. Wir haben dann neue Formate entwickelt. Beispielsweise haben wir im Kunstunterricht Bilder zur Stadt der Zukunft digital und analog erstellt und miteinander verglichen. Oder wir haben die Projektprüfung umgestellt und erlaubt, dass für den Teil der Verschriftlichung KI benutzt wird - unter der Voraussetzung, dass die PROMs dargestellt und reflektiert werden. Unser Konrektor hat gerade selber einen Chatbot gebaut (Name: FlowERS), der empathisch ist, der ein Coach ist, der Schülerinnen und Schüler begleiten soll. Den Bot nimmt er mit in den Ethikunterricht, um zu diskutieren, ob eine KI überhaupt so etwas wie ein Coach oder eine Begleitung sein kann. KI wird sicherlich die Welt noch mehr verändern als das bisherige Technologien getan haben, aber sie ist nur eine weitere Technologie, sie wird nicht die letzte sein. Was wichtig ist, ist, dass wir Schülerinnen und Schüler dazu befähigen, die Technologie und die ihr zu Grunde liegenden Algorithmen zu verstehen.

Welches sind Ihre nächsten Schritte?

Wir wollen die Schule noch weiter öffnen, das themenorientierte Arbeiten noch weiter entwickeln und die Arbeit an der Demokratiebildung weiter intensivieren. Demokratie muss im aktuellen Mitgestalten und im aktiven Tun in der unmittelbaren Umgebung erfahrbar und spürbar sein. Erst dann kann man ins Große, in die theoretischen Gedanken gehen. Aber die Kinder müssen es erlebt haben, um es zu verstehen.

Ich danke Ihnen recht herzlich für dieses Gespräch.