Mit der Bildungspolitik der Landesregierung unzufriedene Eltern, Lehrkräfte und Hochschullehrer haben in Niedersachsen ein Volksbegehren auf den Weg gebracht. Die Initiatoren stammen überwiegend aus dem Kreis derer, die sich im Frühjahr und Sommer 2009 massiv gewehrt und öffentliche Proteste dagegen organisiert haben, dass nun auch an den Integrierten Gesamtschulen (IGS) der Bildungsweg bis zum Abitur um ein Jahr verkürzt wird. Als im Jahre 2003 der 13. Schuljahrgang an den Gymnasien gestrichen wurde, traf das nicht die IGS. Was die Landesregierung und die Koalitionsfraktionen von CDU und FDP im Niedersächsischen Landtag sechs Jahre später bewogen hat, diesen Schritt nachzuholen, ist nicht deutlich geworden. Die Vermutung, den IGS solle ein vermeintliches Privileg genommen werden, um die überall im Lande zu beobachtende steigende Nachfrage nach Gesamtschulplätzen zu bremsen, ist jedenfalls nicht abwegig. Die inzwischen vorliegenden Ausführungsbestimmungen sehen für die IGS u.a. vor, dass für einen Teil der Schülerschaft der 10. Schuljahrgang Einführungsphase der gymnasialen Oberstufe ist. Dem anderen Teil ist der Weg zum Abitur nicht verschlossen; er muss aber nach erfolgreichem Abschluss des 10. Schuljahrgangs diesen als Einführungsphase gleichsam wiederholen.
Neun Jahre bis zum Abitur
Die Rückkehr zum neunjährigen Durchlaufen des Gymnasium und der Gesamtschule steht an der Spitze des Gesetzentwurfs, den die Initiative zur Grundlage des Volksbegehrens gemacht hat. An beiden Schulformen sollen die Schuljahrgange 5 bis 13 geführt werden (siehe § 1 im nachfolgenden Kasten). Der Begründung kann entnommen werden, dass die Initiatoren aber keine Einwände dagegen haben, dass den Schulen in „untergesetzlichen“ Regelungen die Möglichkeit angeboten wird, Schülerinnen und Schüler „individuell oder in besonderen Lerngruppen“ schon in acht Schuljahren zum Abitur zu führen.
Als das in den Jahren 2003 bis 2008 bestehende gesetzliche Verbot, neue Gesamtschulen zu errichten, aufgehoben wurde, traf die Niedersächsische Landesregierung gleichzeitig Vorkehrungen dagegen, dass in großer Zahl Gesamtschulen errichtet werden können. Von den Errichtungshürden ist die Heraufsetzung der Mindestgröße von IGS die gravierendste. Mussten bisher IGS mindestens vierzügig, im Ausnahmefall (z.B. Nutzung eines vorhandenen Gebäudebestandes) dreizügig geführt werden, wird jetzt von den Schulträgern, die eine IGS errichten wollen, der Nachweis verlangt, dass eine solche Schule dauerhaft (14 Jahre !) mindestens mit fünf parallelen Klassen pro Schuljahrgang bestehen wird. Eine nachvollziehbare pädagogische oder schulorganisatorische Begründung für diese bei stark rückläufigen Schülerzahlen unangemessene Festsetzung der Mindestgröße von IGS ist nicht bekannt geworden. Nun haben zwar nach den verschärften Errichtungsbedingungen im Schuljahr 2009/10 zwölf neue IGS ihre Arbeit aufgenommen, zu denen noch weitere 19 zu Beginn des nächsten Schuljahres kommen werden. Insgesamt wird es dann in Niedersachsen 60 Integrierte (und 36 Kooperative) Gesamtschulen geben. Damit dürfte aber das Potential für die Errichtung von IGS dieser Größenordnung (900 Schülerinnen und Schüler im Sekundarbereich I) im Flächenland Niedersachsen erschöpft sein. § 2 des Gesetzentwurfs der Initiatoren des Volksbegehrens will deshalb die Rückkehr zu den bis 2008 geltenden Bestimmungen. Dies findet insbesondere die Zustimmung der kommunalen Schulträger, deren Spitzenverbände eine größere Flexibilität bei der Bewältigung ihrer schwierigen Aufgabe verlangen, bei rückläufigen Schülerzahlen und bei einem veränderten Verhalten der Eltern bei der Wahl der weiterführenden Schule für ihre Kinder ihre Sekundarschullandschaft dauerhaft neu zu ordnen.
§ 3 des Gesetzentwurfs der Volksinitiatoren will das Überleben der noch bestehenden Vollen Halbtags(grund)schulen sichern. Diese verfügen im Vergleich zu den „Verlässlichen“ Grundschulen über eine bessere Lehrerausstattung. Nach den zurzeit geltenden schulgesetzlichen Bestimmungen wird es nach dem 31.7.2010 keine Vollen Halbtagsschulen mehr geben.
608.000 Unterschriften erforderlich
Mit dem Sammeln von Unterschriften für ihr Volksbegehren hat die Initiative im November 2009 begonnen. Nach Art. 48 der Niedersächsischen Verfassung ist es erfolgreich, wenn es von zehn vom Hundert der Wahlberechtigten unterstützt wird. Unterschreiben darf, wer zur Wahl des Landtags berechtigt ist, also die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, das 18. Lebensjahr vollendet hat und seit drei Monaten in Niedersachsen wohnt. Maßgebend ist die Zahl der Wahlberechtigten bei der letzten Landtagswahl. Erforderlich sind nach Angaben des Landeswahlleiters etwas mehr als 608.000 gültige Eintragungen in die Unterschriftenlisten. Das Niedersächsische Volksabstimmungsgesetz vom 23. Juni 1994 (NVAbstG) verlangt, dass zunächst als Voraussetzung für die Beantragung der Zulässigkeit des Volksbegehrens innerhalb eines halben Jahres 25.000 gültige, d.h. von den Wohnortgemeinden der Unterstützerinnen und Unterstützer bestätigte Unterschriften nachgewiesen werden. Diese Zahl ist bereits im Februar 2010 überschritten worden. Die Entscheidung über die Zulässigkeit des Volksbegehrens trifft die Landesregierung. Sie wird beispielsweise prüfen, ob die Forderungen innerhalb der Gesetzgebungsbefugnis des Landes liegen. Fällt die Entscheidung negativ aus, kann dagegen der Staatsgerichtshof angerufen werden. Mit der Feststellung der Zulässigkeit beginnt dann eine zweite Halbjahresfrist, innerhalb derer die restlichen Unterschriften gesammelt werden müssen. Das Volksbegehren läuft also bis zum Ende dieses Jahres.
Nach Überwindung der 10 %-Hürde ist der Niedersächsische Landtag am Zuge. Er kann nämlich den mit dem Volksbegehren vorgelegten Gesetzentwurf beschließen. Tut er das nicht, findet darüber ein Volksentscheid statt. Dazu kann der Landtag dem Volk einen eigenen Gesetzentwurf zur Entscheidung mit vorlegen. Durch Volksentscheid ist ein Gesetz beschlossen, „wenn die Mehrheit derjenigen, die ihre Stimme abgegeben haben, jedoch mindestens ein Viertel der Stimmberechtigten, dem Entwurf zugestimmt hat“ (§ 33 Abs. 1 NVAbstG). Weitere Informationen finden sich auf der Homepage der Initiative. Von dort kann auch der Unterschriftenbogen herunter geladen sowie über ein Kontaktformular Material für eine Unterrichtseinheit zum Thema „Direkte Demokratie“ angefordert werden.
Bisherige Volksbegehren
Seit Einführung der plebiszitären Elemente in die Niedersächsische Verfassung im Jahre 1993 hat es in Niedersachsen sieben Volksbegehren gegeben, von denen nur ein einziges die 10 %-Hürde überwunden hat. Im Jahre 1997/98 scheiterte das Volksbegehren „WIR gegen die Rechtschreibreform“. Dafür konnten die Initiatoren nur knapp 280.000 Unterschriften sammeln. Das Volksbegehren „Sicherstellung der Unterrichtserteilung an den öffentlichen Schulen“ (2002/03) konnte nicht einmal die Zulassungsschwelle überwinden. Dass für den vorgelegten Gesetzentwurf („Der in den Stundentafeln vorgesehene Unterricht ist zu erteilen“) lediglich 2.174 Unterschriften aufgeboten wurden, hängt mit Sicherheit damit zusammen, dass die Initiatoren Mitglieder der rechtsextremen Partei der „Republikaner“ waren. Erfolgreich war dagegen das ab 1999 durchgeführte Volksbegehren zum vollständigen Erhalt des Kindertagesstättengesetzes, das sich wegen einer negativen Entscheidung der Landesregierung die Zulässigkeit vor dem Staatsgerichtshof erkämpfen musste. Unter dem Motto „Keine Kürzung bei den Kurzen“ gelang es damals einem breiten Bündnis aus Interessengruppen, Vereinen, Verbänden, Kirchen, Gewerkschaften und Eltern mehr als 690.000 Unterschriften zu sammeln. Ein Volksentscheid ist damals deshalb nicht erforderlich geworden, weil der Landtag sich die Forderungen des Volksbegehrens zu Eigen gemacht hat. Die übrigen vier Volksbegehren betrafen nicht den Bildungsbereich.
Dr. Dieter Galas, Langenhagen
Gesetz zur Änderung schulrechtlicher Vorschriften
§ 1
(1) An Gymnasien (§ 11 NSchG) und Gesamtschulen (§ 12 NSchG) werden die Schuljahrgänge 5 bis 13 geführt. (2) Sie können ohne die Schuljahrgänge 11 bis 13 geführt werden.
§ 2
(1) Eine Gesamtschule muss mindestens vierzügig geführt werden. (2) Sie kann dreizügig geführt werden, wenn
- andernfalls unzumutbare Schulwege zu einer anderen Gesamtschule entstünden oder
- sie die einzige Schule im Sekundarbereich I am Standort ist oder
- ein vorhandener Gebäudebestand genutzt werden kann.
§ 3
(1) Zum 1. August 2002 bestehende Volle Halbtagsschulen werden fortgeführt. (2) Ihre pädagogische Arbeit dauert in der Regel fünf Zeitstunden an fünf Vormittagen in der Woche.
Begründung
Ziel des Gesetzes ist es, an den Gymnasien und Gesamtschulen zum neunjährigen Bildungsweg bis zum Abitur zurückzukehren. Damit soll der Bildungsweg entzerrt und weniger stress-beladen gestaltet sowie das gemeinsame Lernen aller Schülerinnen und Schüler gefördert werden (§ 1). Vom Kultusministerium werden in diesem Zusammenhang aber untergesetzliche Regelungen erwartet, wonach individuell oder in besonderen Lerngruppen nach Entscheidung der Schule das Abitur schon nach acht Jahren erreicht werden kann. Wer im Schuljahr 2009/10 ein Gymnasium besucht, soll den achtjährigen Weg zum Abitur fortsetzen können.
Ziel des Gesetzes ist ferner, die Errichtung von Gesamtschulen dadurch zu erleichtern, dass die für sie festgesetzte Mindestgröße reduziert wird. Die zurzeit für Integrierte Gesamtschulen geltende Mindestgröße von fünf parallelen Klassen pro Schuljahrgang, die auch im Ausnahmefall nicht unterschritten werden darf, hindert insbesondere die kommunalen Schulträger im ländlichen Raum, die bei rückläufigen Schülerzahlen notwendige Neuordnung ihrer Schullandschaft kostengünstig zu realisieren (§ 2).
Weiteres Ziel des Gesetzes ist es schließlich, die bestehenden Vollen Halbtagsschulen zu erhalten (§ 3). Sie sollen sich gleichsam als Pilotschulen für eine künftige Gestaltung aller Grundschulen weiter entwickeln können.