Ein Beitrag zur Strategiedebatte

Das Scheitern der Primarschule in Hamburg ist eine schwere schulreformerische Niederlage. Jetzt die Gegner der Schulreform zu diffamieren, ist wenig hilfreich, es schadet höchstens. Wir Reformer können der Verantwortung für den Misserfolg nicht ausweichen; denn wer reformieren will, verursacht Widerstände. Trotz beachtlicher strategischer Leistungen der Hamburger Schulreformer: Die Reformstrategie war zu ehrgeizig und die Aufklärung verbesserungsfähig. Es gibt keinen Grund, das Ziel der gemeinsamen Schule für alle aufzugeben, aber wir sollten bei Strategie und Taktik dazulernen.

Um diese in den verschiedenen Bundesländern zu analysieren, ist wegen der föderalistischen Zersplitterung der Schulstrukturen und der Namensgebung eine Begriffsklärung erforderlich.

  • Einerseits gibt es die zweigliedrige Mittelschullösung: Bei dieser besteht die vertikale Schulstruktur der Sekundarstufe aus dem Gymnasium sowie einer Schulform, die zum mittleren Abschluss führt; daneben existieren in den genannten Ländern jeweils auch Gesamtschulen. Die Mittelschullösung existiert in allen neuen Ländern sowie im Saarland. Weil jedes Land die neue Schulform unterschiedlich bezeichnet, wird diese um der besseren Verständlichkeit willen im Folgenden Mittelschule genannt.
  • Andererseits wird eine zweigliedrige Oberschul-Lösung eingeführt: Bei dieser Reform gibt es ein Nebeneinander von Gymnasium und einer Schulform, die grundsätzlich auch zur Hochschulreife führt. Diese zweigliedrige Oberschul-Lösung wird in den drei Stadtstaaten realisiert und im Saarland ist sie geplant. Zwischenlösungen dazu gibt es in Rheinland-Pfalz, in dem neben einer Realschule plus, die zur Fachhochschulreife führt, noch die Gesamtschule und das Gymnasium existiert, sowie in Schleswig-Holstein, wo es zusätzlich noch eine Regionalschule gibt, die nur zum mittleren Abschluss führt. In Richtung auf eine zweigliedrige Oberschul-Lösung befinden sich auch Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, in denen auf Antrag der Schulträger Haupt-und Realschulen zu Oberschulen bzw. Gemeinschaftsschulen umgewandelt werden können. Da fast alle Länder unterschiedliche Bezeichnungen für die neue Schulform verwenden, wird im Folgenden für die neue Schulform von Oberschulen gesprochen, die zum Teil um die länderspezifische Bezeichnung ergänzt wird.

Bei der Definition bleibt das Sonderschulwesen außen vor; denn die Inklusion sollte in der Primarstufe beginnen, müsste dann allerdings in der Sekundarstufe fortgesetzt werden.

zweigliedrige Mittelschullösung

 

zweigliedrige Oberschul-Lösung

 

Namensgebung für Mittelschule

weitere allg. Schulformen

   

Namensgebung für Oberschule

Brandenburg

Oberschule

Gesamtschule, Gymnasium

 

Berlin

Integrierte Sekundarschule (ISS)

Mecklenburg- Vorpommern

regionale Schule

Gesamtschule, Gymnasium

 

Bremen

Oberschule

Saarland

erweiterte Realschule

Gesamtschule, Gymnasium

 

Hamburg

Stadtteilschule

Sachsen

Mittelschule

Gesamtschule, Gymnasium

 

Niedersachsen

Oberschule

Sachsen- Anhalt

Sekundarschule

Gesamtschule, Gymnasium

 

Nordrhein-Westfalen

Gemeinschaftsschule

Thüringen

Regelschule

Gesamtschule, Gymnasium

 

Rheinland- Pfalz

Realschule plus, führt nur Fachhochschulreife

       

Schleswig- Hol-stein

Gemeinschaftsschule

 

Hamburger Schulreform war äußerst ehrgeizig

Die geplante Hamburger Schulreform gehörte zu den ehrgeizigsten pädagogischen Reformprojekten der Nachkriegszeit. Innerhalb einer Legislaturperiode wurde sie geplant, beschlossen und sollte sowohl im Primar- wie im Sekundarbereich I starten. Sie forderte jede allgemeine Schule organisatorisch, räumlich, sächlich und vor allem didaktisch heraus.

  • Die Grundschulen sollten als Primarschulen zwei zusätzliche Schuljahre erhalten und häufig zusammengelegt werden. Gleichzeitig sollte die Didaktik reformiert, die personelle, räumliche und sächliche Ausstattung verändert und Lehrkräfte der Sekundarstufe I in der Primarschule eingesetzt werden.
  • Alle Schulen der Sekundarstufe I sollten zwei Schuljahre abgeben.
  • Zeitgleich wird die zweigliedrige Oberschul-Lösung eingeführt: an die Stelle der Haupt- und Realschulen tritt die Oberschule - in Hamburg Stadtteilschule genannt -, die jeweils eine eigene gymnasiale Oberstufe erhält und zur Hochschulreife führt.
  • Auch das Gymnasium – gerade auf acht Schuljahre reduziert – sollte zwei Schuljahre verlieren und auf die innerschulische Auslese verzichten. Als Ausgleich sollten die Gymnasien die Schüler/innen auswählen können und deshalb das Elternrecht eingeschränkt werden.
  • Selbst die berufsbildenden Schulen - vor allem die Fachoberschulen und die beruflichen Gymnasien – sind betroffen, weil sie wegen des starken Ausbaus der gymnasialen Oberstufe mit geringeren Schülerzahlen rechnen müssen.

 

Mit dem Plebiszit leben

Die in der 3. Stufe des Volksbegehrens von allen Fraktionen getragene Schulreform ist am Plebiszit gescheitert. Die Niederlage war eindeutig: nur 44 % der sich Beteiligenden stimmten für, aber 56 % gegen die sechsjährige Primarschule.

Viele Schulreformer sind resigniert: die gemeinsame Schule für alle lasse sich gegenüber einem Gymnasium nicht realisieren; denn fast die Hälfte der Grundschüler/-innen besuchen diese Schulform und noch mehr Eltern wünschen sie für ihre Kinder. Mit dem Plebiszit könnte die Gymnasialklientel jede weitergehende Schulreform ablehnen.

Richtig ist, dass das Schulgesetz ohne die Möglichkeit des Plebiszits wohl umgesetzt worden wäre und wahrscheinlich hätte es einen Regierungswechsel nach einer regulären Wahl überstanden.

So verständlich daher bei Reformanhängern die Emotionen gegen das Instrument des Plebiszits sind: plebiszitäre Elemente finden sich inzwischen in allen Landesverfassungen. Sind sie einmal eingeführt, lassen sie sich nicht mehr rückgängig zu machen, vielmehr werden sie eher ausgebaut. Denn das Vertrauen in die Organe der repräsentativen Demokratie und deren Entscheidungsfindung ist sehr zurückgegangen. Der ARD-Deutschland-Trend von Oktober 2010 hält das Verhältnis der Bürger zur Politik sogar für zerrüttet. Bei stark umstrittenen Entscheidungen wird das Plebiszit zum einzigen Mittel, um Akzeptanz für eine Lösung zu finden. Das zeigt mehr als deutlich Stuttgart 21.

Wer künftig Reformen will, sollte sich auf Plebiszite einstellen.

 

Schulreformen sind möglich – trotz Plebiszite

Trotz des plebiszitären Desasters für die Primarschule in Hamburg – Schulreformen sind weiter möglich. Das zeigt gerade auch Hamburg. Denn der Hamburger Volksentscheid richtete sich einzig gegen die Primarschule. Die im gleichen Schulgesetz vorgesehene zweigliedrige Oberschul-Lösung tritt in Kraft. Die Volksinitiative hat die damit angestrebten gleichen Bildungschancen für die bisher benachteiligten Haupt- und Realschüler/innen nicht in Frage gestellt. Auch die zweigliedrigen Oberschul-Lösungen in Berlin und Bremen wie die behutsameren in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein führten zu keinem organisatorischen Widerstand der Gymnasial-Klientel.

Selbst die Realschul-Anhänger organisierten keinen Widerstand gegen die zweigliedrigen Oberschul-Lösungen in den genannten Ländern, obwohl diese Schulreform den gemeinsamen Unterricht von Realschülern mit den vielfach diskriminierten Hauptschülerinnen und –schülern vorsieht. Einzig in Schleswig-Holstein kam es zu einer Volksinitiative, die aber schon deutlich an der zweiten plebiszitären Hürde scheiterte. Die Initiative wurde neben dem Realschul-Lehrerverband einzig von der FDP getragen. Der Landeselternbeirat der Realschulen war dagegen für die Oberschullösung; das heißt, der gemeinsame Unterricht mit potentiellen Hauptschülerinnen und –schülern ist realisierbar, sofern die ersetzende Schulform aufgewertet wird. Solidarische Lösungen sind durchsetzungsfähig, wenn man selbst nicht betroffen wird oder wenn mit ihm auch Vorteile für die bisher Privilegierteren verbunden sind.

Auch die Inklusion von Jugendlichen mit Behinderungen stieß bisher nicht auf nennenswerte Widerstände – abgesehen von einem Teil der Sonderschul-Lehrkräfte. Zwar werden die Integrationsklassen zunächst auf freiwilliger Basis gebildet, dennoch ist es erfreulich, dass Eltern - unter der Bedingung kleinerer Klassen und teilweise doppelten Lehrereinsatzes - ihre Kinder für dieses Modell anmelden. In den Bundesländern Bremen und Schleswig-Holstein wird schon fast die Hälfte der Jugendlichen mit Behinderungen inklusiv beschult. Bremen geht noch darüber hinaus: mit dem Gesetz haben die Eltern ab diesem Schuljahr das Recht, ihre Kinder mit Behinderungen an einer allgemeinen Schule einzuschulen, sofern es deren Ausstattung erlaubt, und jede Schule erhält rechtlich den Auftrag der sonderpädagogischen Förderung. Auch für diese Solidaritätslösung lassen sich bisher genügend Schulen - vor allem Grund-, Haupt- und Gesamtschulen – sowie die Öffentlichkeit gewinnen, so dass es zu keinem organisierten - und plebiszitären - Widerstand gekommen ist.

Partielle solidarische Lösungen haben sich also in jüngerer Zeit im deutschen Bildungswesen durchsetzen lassen. Auch die große solidarische Lösung - die gemeinsame Schule für alle - ist meines Erachtens realisierbar, aber wir müssen die Bevölkerung in breiter Mehrheit mitnehmen, d.h. wir müssen umfassend aufzuklären versuchen und in Schritten vorangehen.

 

Umfassende Überzeugungsarbeit

Breiter Parteienkompromiss

Eine Schulstrukturreform ist bei einer politischen Konfrontation stark gefährdet. Umfassendere schulische Reformen sind ohne die Einbeziehung der CDU fast unmöglich.

So ist bei der zweigliedrigen Oberschul-Lösung die CDU fast immer eingebunden worden:

  • In Schleswig-Holstein gelang es der SPD, die CDU per Koalitionsvertrag zu einer zweigliedrigen Oberschul-Lösung mit dem Zugeständnis einer zusätzlichen Regionalschule zu gewinnen. Ohne die Zustimmung der CDU wäre in Schleswig-Holstein die Oberschullösung missglückt.1
  • In Hamburg erreichten die Grünen, dass die CDU die Primarschule sowie die Oberschullösung mittrug.
  • In Bremen akzeptierte die CDU die Oberschullösung der rot-grünen Koalition auf Grund einer Vereinbarung über einen zehnjährigen Schulfrieden.
  • In Berlin hatte sich die CDU zur Oberschullösung bekannt, bevor sich die rot-rote Regierung zu dieser Reform entschloss.
  • Nur in Rheinland-Pfalz verwirklicht die SPD-Regierung die vorsichtige Form der Oberschullösung ohne die Zustimmung der CDU.

Aber es ist auch gefährlich, nicht die SPD einzubinden. Die SPD war bei der Oberschullösung zumeist Koalitionspartner. Ausnahmen sind bisher das Saarland und Hamburg. Die saarländische Schulreform lässt sich nur mittels einer Verfassungsänderung verwirklichen, die noch der Zustimmung der SPD bedarf. So bleibt als einzige Ausnahme Hamburg. Hier blieb die SPD bei dem Reformgesetz zunächst außen vor. Das hatte erhebliche Auswirkungen auf die Position der Partei und auf die Einstellung ihrer Wählerschaft. Als nicht eingebundene Oppositionspartei kritisierte sie vor allem die Umsetzung der Reform und verunsicherte so einen Teil ihrer Wählerschaft, die wenigstens teilweise den Schulreformzielen nahestand. Die SPD erst nach der sehr erfolgreichen zweiten Phase des Volksbegehrens einzubinden, kam zu spät. SPD und Linke trugen zwar die veränderte Gesetzgebung mit, für eine breite Überzeugung ihrer Mitglieder und Wähler reichte die Zeit aber nicht mehr aus.

Zeit für interne Überzeugungsarbeit

Es hat wenig Sinn, die Parteien möglichst breit einzubinden, wenn man ihnen nicht die Gelegenheit zur Aufklärung ihrer Basis gibt. Dies gilt besonders dann, wenn die geplante Schulreform ein Koalitionskompromiss ist, der nicht im Einklang mit den Wahlprogrammen der Koalitionäre steht. Weder die geplante Primarschulverlängerung in Hamburg und im Saarland noch die zweigliedrige Oberschul-Lösung standen in den Wahlprogrammen der Koalitionsfraktionen – abgesehen von der Oberschullösung bei der CDU und SPD in Hamburg. Die Primarschulverlängerung war für die CDU ein Bruch mit einer Ideologie, die zum Kernbestand der CDU des Nachkriegsdeutschlands gehörte. Die Grünen hatten sich im Wahlkampf zur gemeinsamen Schule für alle bekannt und nicht die zweigliedrige Oberschul-Lösung als Zwischenschritt propagiert.

Sowohl die Preisgabe von jahrelangen harten ideologischen Positionen als auch die Aufgabe von Illusionen zugunsten einer Strategie der Zwischenschritte verunsichern die eigenen Parteimitglieder wie die jeweiligen Wähler, erst recht, wenn dies direkt nach einer Wahl angesichts gegenteiliger Wahlkampfaussagen geschieht. Zur Regierungsfähigkeit gehört auch die Bereitschaft einer Partei zu Kompromissen, doch deren Umsetzung braucht Zeit für die Aufklärung der eigenen Klientel. Dasselbe gilt auch für Organisationen, die die Parteien in ihren Positionen gestützt haben. Auch sie brauchen genügend Gelegenheiten, um ihre Mitglieder und Sympathisanten von der geplanten Reform zu überzeugen. In Schleswig-Holstein gab es zunächst erheblichen Widerstand gegen die Oberschullösung innerhalb der CDU, die nur durch die damalige Standfestigkeit des Ministerpräsidenten überwunden wurde. Mit der schnellen Umsetzung der Reform in Hamburg kam es zu keiner Geschlossenheit in der CDU, vielmehr unterstützten Teile der CDU die Volksinitiative. Ebenso war ein Teil der Grünen - aber auch der GEW und der GGG - von der Strategie der zweigliedrigen Oberschul-Lösung nicht überzeugt, weil ihnen die Reform nicht weit genug ging.

Straße statt Gremien gewinnen

Ein für die gesellschaftlichen – wie für die politischen – Organisationen sehr kritischer Punkt war der Adressat der Aufklärung. Die Schulverwaltung und ihre Unterstützer haben neben Wissenschaftlern und Repräsentanten in einem kaum für denkbar gehaltenen Maße Gremien wie Schulkonferenzen, Organisationen, Gewerkschaften und Teile der Wirtschaft als Unterstützer gewonnen. Doch deren Basis haben sie kaum erreicht, diese hat sich vielmehr gegenüber ihren Gremien emanzipiert. Umgekehrt hat die Volksinitiative vor allem auf die Straße gesetzt und dort mobilisiert. Die Bevölkerung – organisiert oder nicht - will die direkte Ansprache, nicht die Vermittlung durch Gremien.2

Kein Feindbild schaffen

Reformer gewinnen keine Mehrheiten durch eine Dämonisierung des Gegners. Denn es reicht nicht, die Adressaten einer Reform zu aktivieren. Damit gewinnt man keinen Volksentscheid; denn das traditionelle und erst recht das prekäre Milieu ist eher resignativ und apolitisch, wie die Hamburger Wahlbeteiligung überdeutlich gemacht hat.

Wir Reformer brauchen auch die Unterstützung aus bürgerlichen Kreisen. Dazu müssen wir Zweifler überzeugen. Wer in seiner Einstellung schwankt, der beschäftigt sich auch mit Positionen des Gegners. Werden diese diffamiert, identifiziert sich der Gesprächspartner leicht mit ihnen. So überzeugt man nicht.3

Mit Werten überzeugen – sie nicht dem Gegner überlassen

Vorrangig muss die Botschaft überzeugen, nicht jedes Detail der Umsetzung. Das gilt erst recht, wenn es zu einer Volksinitiative kommt. Dann darf deren Botschaft nicht positiver besetzt bleiben als die eigene. Die eigene sollte den Slogan der Gegner entlarven: man darf ihnen nicht den usurpierten Wert überlassen, sondern sollte ihn selbst positiv besetzen.

In Hamburg hatte die Volksinitiative mit dem Slogan „Wir wollen lernen“ den Begriff Lernen positiv besetzt, faktisch meinte sie aber, dass die Kinder bildungsbewusster Eltern ungehindert lernen sollten - ohne Rücksicht auf Schwächere. Dieses Motto wurde durch die Botschaft der Schulreformer "Chancen für alle" kaum demaskiert. Die Reformer hätten den Gegnern den Anspruch des Lernen-Wollens nicht überlassen dürfen, denn gerade sie strebten ja an, dass alle mehr lernen und mehr lernen wollen. Sie hätten also den Begriff Lernen selbst so positiv verwenden sollen, dass sie damit zugleich den Gegner moralisch ins Unrecht setzten, z.B. mit der Botschaft "Wir lernen solidarisch".

 

Strategie der Schritte

Nur einen Schritt auf einmal

Doch wir Reformer sollten uns nichts vormachen. Eine verbesserte Aufklärung allein hätte nicht zum Ziel geführt. Die Strategie der Hamburger Schulreform war überfrachtet. Die Reform hatte gleichzeitig drei große Ziele:

  • die Umgestaltung der Grundschule zu einer sechsjährigen Primarschule,
  • die Umwandlung von Haupt- und Realschulen zu einer Oberschule sowie
  • eine Reform der Übergangs- und der innerschulischen Auslese des Gymnasiums.

Die Einschränkung des Elternrechts für den Gymnasialbesuch war sicher der größte Fehler, dessen Korrektur in der 3. Phase des Volksentscheides zu spät kam. Der dagegen geweckte Widerstand übertrug sich nun voll auf die Primarschule. Das einzig Erschreckende war, dass sich das Plebiszit gegen alle Fraktionen der Bürgerschaft und gegen viele Organisationen durchsetzen konnte.

Vorlaufphase für Modelle und Pioniere

Erschwerend für die Hamburger Schulreform kam hinzu, dass ihr in Hamburg keine Modelle für die Primarschule wie für die Gymnasien ohne innerschulische Auslese vorausgingen. Denn am leichtesten kann man von Modellen im eigenen Land überzeugen. Beim Verweis auf Berlin hatte zunächst die Wissenschaft eine unrühmliche Rolle gespielt.

Bei der Umsetzung einer Reform kann eine zeitliche Streckung hilfreich sein. Schulen, die zur Reform schon bereit sind, belegen die Realisierbarkeit, verringern den Reformdruck und stehen für Gegenkampagnen nicht mehr zur Verfügung. In Bremen und in Rheinland-Pfalz ist man diesen Weg erfolgreich gegangen. In Schleswig-Holstein organisierte sich der Widerstand gegen die Aufhebung der Realschule so spät, dass zum Zeitpunkt der 2. Phase des Volksbegehrens schon ein erheblicher Teil der Realschulen freiwillig als Oberschule/Gemeinschaftsschule gestartet war. In Hamburg kam die zeitliche Streckung erst sehr spät.

Bottom-up-Umsetzung

Der erstaunlichste Erfolg der Hamburger Schulverwaltung war die breite Reformzustimmung bei den Schulkonferenzen: alle Grundschulen und fast alle Haupt- und Realschulen stimmten zu, obwohl sie sich damit auf ganz erhebliche Umstrukturierungen einließen. Das galt auch für bauliche Veränderungen. Maßgeblich dafür war eine Schulentwicklungsplanung von unten: regionale Konferenzen sollten Schulstrukturen vorschlagen, die fast alle von der Schulbehörde übernommen wurden. Das wurde möglich, weil der Senat in Ausbau und Renovierung von Schulgebäuden erheblich investierte.

Die finanzielle Großzügigkeit des Senats bewährte sich auch an einer anderen Stelle: die Schulleitungen von Grund-, Haupt- und Realschulen stimmten der Umstrukturierung und der Zusammenlegung von Schulen zu, obwohl ein Teil von ihnen auf ihre Position verzichten musste. Der Senat glich das durch mehr Funktionsstellen aus.

Als nächstes die zweigliedrige Oberschul-Lösung

Hamburg sollte eine Lehre sein: wenn schon die Primarschule zusammen mit der Oberschullösung nicht in einem Schritt zu realisieren sind, dann erst recht nicht die gemeinsame Schule für alle.

Zwischenschritte sind deshalb meines Erachtens erforderlich. Ein solcher Weg zeichnet sich bundesweit ab: die Zweigliedrigkeit:

  • Bei der zweigliedrigen Mittelschullösung mit Mittelschule und Gymnasium besteht in den fünf neuen Bundesländern sowie im Saarland. Sie gibt es nicht in reiner Form, sondern in jedem Bundesland gibt es zusätzlich noch Gesamtschulen.
  • Die zweigliedrige Oberschul-Lösung wird in reiner Form in den drei Stadtstaaten eingeführt und im Saarland ist die Umwandlung der Mittelschullösung zur Oberschullösung laut Koalitionsvertrag vorgesehen. Rheinland-Pfalz gibt es eine Variante zur Oberschullösung mit Realschulen plus, die zur Fachhochschulreife führen, mit Gesamtschulen und Gymnasien und Schleswig-Holstein realisiert eine Mischform von Mittelschul- und Oberschullösung. Die nordrhein-westfälische Landessregierung will viele der Haupt- und Realschulen auf freiwilliger Basis zu Oberschulen - neben den existierenden Gesamtschulen - umwandeln. Der jüngste Vorstoß zur Oberschullösung kommt aus Niedersachsen: dort stellt die Landessregierung den Kommunen frei, Haupt- und Realschulen in Oberschulen umzuwandeln.

13 der 16 Bundesländer haben entweder schon die Zweigliedrigkeit oder befinden sich auf dem Weg zu dieser Schulstruktur. So verbleiben nur noch die drei Länder Baden-Württemberg, Bayern und Hessen, deren drei Kultusminister sich erneut - bis auf weiteres - auf die traditionelle Schulstruktur eingeschworen haben. Doch sie werden das Ende der Dreigliedrigkeit in Deutschland nicht mehr verhindern können.

Auch das deutsche Sonderschulwesen steht vor seiner Aufhebung. Kam die inklusive Beschulung seit Ende der 60er Jahre kaum voran, haben jetzt die UN-Konvention und ihre Verabschiedung in Bundestag und Bundesrat der Inklusion einen mächtigen Impuls gegeben.

Faktisch hat sich innerhalb von 20 Jahren eine neue Schulstruktur in Deutschland durchgesetzt – zunächst nach der Wende in den neuen und in den letzten fünf Jahren in vielen alten Ländern. Die scharfe bildungspolitische Konfrontation – wie in den siebziger Jahren – blieb dabei aus.

Die jetzige doppelte Struktur der Zweigliedrigkeit wird nicht von Dauer sein. Die Mittelschullösung kann dem ständig steigenden Bildungswillen nicht gerecht werden. Die Schüler/innen suchen verstärkt den Zugang zum Gymnasium und zur Gesamtschule, die Mittelschule wird damit geringer frequentiert. Den neuen Ländern ist zu empfehlen, dem Beispiel des Saarlandes zu folgen und ihre Mittelschulen in Oberschulen umzuwandeln.

Von der Oberschullösung zur gemeinsamen Schule für alle

Die Oberschullösung führt nicht von sich zur Gleichwertigkeit der Oberschule mit dem Gymnasium. Viele Maßnahmen dazu sind erforderlich:

Eine Gleichwertigkeit der beiden Schulformen setzt voraus, dass auch die Oberschule – wie das Gymnasium – nicht mehr differenziert nach Bildungsgängen, sondern nur den einen Bildungsgang zur Hochschulreife kennt, der allerdings wie beim Gymnasium auch den Haupt- und Realschulabschluss einschließt. Bisher ist nur das Bremer Schulgesetz so weit gegangen.

Damit ist die gleiche Attraktivität der beiden Schulformen noch nicht gegeben. So hängt das Ansehen der Oberschule auch davon ab, ob sie Gymnasiallehrer/innen für sich gewinnt. Diese machen ihren Einsatz von gleichen Arbeits-, Gehalts- und Aufstiegsbedingungen wie am Gymnasium abhängig. In Schleswig-Holstein z.B. ist diese Bedingung nicht gegeben. Gleichzeitig ist es auf Dauer unzumutbar, dass an der gleichen Schule Lehrkräfte verschiedener Laufbahnen mit unterschiedlicher Besoldung, Stundenverpflichtung und Aufstiegschance vorhanden sind. Nur Bremen sieht ab jetzt eine einheitliche Lehrerbildung für die allgemeinen Schulen der Sekundarstufe I und II vor.

Die organisatorischen Maßnahmen zur Konvergenz von Oberschulen an den Gymnasialstatus reichen allein nicht aus. Vielmehr müssen auch die Eltern für die Oberschule und ihren anspruchsvollen Bildungsweg gewonnen werden. Der gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedarf ist vorhanden, um möglichst alle Jugendlichen zur Hochschulreife und den weitaus größten Teil zum Hochschulabschluss zu führen. Doch ein Großteil der bildungsbewussten Eltern wird weiterhin seine Kinder auf das Gymnasium senden, viele Oberschulen werden eher Schüler/innen aus weniger bildungsaufgeschlossenen Elternhäusern haben. Diese für anspruchsvolle Bildung und Ausbildung zu gewinnen, bedarf es intensiver Elternarbeit mit zusätzlichen Ressourcen für die Schule.

Viele Oberschüler/innen werden zudem zusätzlichen Förderbedarf aus sozialen, ethnischen oder sonderpädagogischen Gründen haben, da das Gymnasium weiterhin beim Übergang und innerschulisch auslesen darf. Die Oberschulen brauchen dafür zusätzliche Ressourcen. Sie sollten u.a. grundsätzlich als Ganztagsschulen geführt werden und aufs engste mit der Sozial- und Jugendhilfe zusammenarbeiten.

Doch es reicht nicht, die Oberschulen auf ein Gymnasialniveau aufzuwerten und ihnen für ihre erschwerenden Ausgangsbedingungen zusätzliche Ressourcen zu geben. Wenn alle Schulformen auf die Hochschulreife ausgerichtet sind, kann sich nicht eine Schulform dagegen verschließen, bestimmte Schüler/innen nicht fördern zu können zu können und diese entweder nicht aufzunehmen oder abzuschulen.

Abgeschulte Jugendliche sind eine der größten Belastungen für die aufnehmende Schule, denn sie gelten als gescheitert, nehmen sich selbst auch so wahr und müssen mühsam in einen neuen Schul- und Klassenverband integriert werden. Nicht umsonst wird in den Stadtstaaten die Schrägversetzung stark eingeschränkt und in Bremen sogar gesetzlich untersagt. Bremen belegt, dass auch eine Humanisierung des Gymnasiums realisierbar ist.

Die eigentliche politische und gesellschaftliche Herausforderung der Oberschullösung ist die Frage nach der Solidarität: Ist es vertretbar, dass einer Schulform – der Oberschule - mit gleichem Bildungsziel wie dem Gymnasium die sozialen, ethnischen und sonderpädagogischen Belastungen weitgehend einseitig aufgebürdet werden? Von der Schule erwarten wir, dass sie die zunehmende soziale Spaltung durch einen intergenerativen Bildungsaufstieg, der in den letzten Jahren rückläufig war, verringert, dass sie die in Deutschland besonders starke Bildungsbenachteiligung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund behebt und dass sie Schluss macht mit der Aussonderung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen. Diese Aufgaben weitgehend nur einer der beiden Schulformen trotz gleicher Bildungsziele aufzubürden, ist unsolidarisch. Zudem wird der mögliche Umfang einer Chancengleichheit verfehlt. Denn die motivierten und leistungsstarken Kinder und Jugendlichen sind für die Leistungsentwicklung ihrer Mitschüler/innen in der Klasse von erheblicher Bedeutung. Bleibt eine Vorauslese bei einer Schulform erhalten, kann das bei der anderen Schulform auch durch Ausgleichsmaßnahmen nur teilweise wettgemacht werden. Das zeigen u.a. die vielen gescheiterten Versuche, mit zusätzlichen Ressourcen und immer neuen Konzepten die Hauptschule aufzuwerten. Darf sich eine Gesellschaft das leisten, dass sich eine Schulform der Solidarverpflichtung entzieht und damit die leistungsstärkeren Schüler/innen nicht besser, diejenigen mit Benachteiligungen dafür aber schwächer gefördert werden? Aber ist es denn durchsetzbar, dass das Gymnasium einen angemessenen Beitrag zur Förderung von Jugendlichen mit sozialem, ethnischem und sonderpädagogischem Förderbetrag leistet?

Zwei Wege dahin sind denkbar:

  • beim bürokratischen verliert das Gymnasium die Hoheit , ihre Schüler/innen auszuwählen,
  • beim liberalen wird den Gymnasien ein angemessener Solidarbeitrag gegenüber Jugendlichen mit sozialem, ethnischen oder sonderpädagogischen Förderbedarf vorgegeben, den Schulen wird das Konzept, seine Umsetzung und die Auswahl der Schüler/innen anheimgegeben.

Nach den Erfahrungen der Gesamtschulen hat es sich bewährt, dass Schulen auf Grund ihrer Einsichten, Fähigkeiten und Bedingungen ihr eigenständiges Profil entwickeln. Die Preisträgerschulen zeigen den großen Erfolg von Profilschulen bei gleichzeitig sehr unterschiedlichen Konzepten. Die Eigenständigkeit für Lösungen von politischen Vorgaben sollte für Oberschulen und Gymnasien erhalten bleiben. Mit überzeugenden Schritten kann man eine solidarische Verantwortung für alle Schüler/innen dann bei den Gymnasien durchsetzen.

Die Politik sollte einzelne Gymnasien als Modellschulen für soziale, ethnische oder sonderpädagogische Integration gewinnen. Schon jetzt gibt es z.B. in Bremen Gymnasien mit I-Klassen für geistige Behinderungen.

Eine gesetzliche Auflage ist sicher der politisch und gesellschaftlich umstrittenste Schritt: Aufklärung und Strategie sind daher gefragt, aber der Schritt scheint gangbar, sofern den Schulen hinreichend Zeit gegeben wird, ein eigenständiges Umsetzungskonzept zu entwickeln.

Dass ein Ansatz in diese Richtung schon jetzt verwirklicht werden kann, zeigen Berlin und Bremen. Hier können die Gymnasien bei zu vielen Anmeldungen den größten Teil ihrer Schüler/innen auswählen, der Rest wird per Los entschieden. Wegen der stark eingeschränkten Schrägversetzung sehen sich die Berliner wie Bremer Gymnasien jetzt einem breiten Förderauftrag gegenüber.

Das Gymnasium hatte historisch innerhalb des vertikalen Schulaufbaus vier Strukturmerkmale: das Monopol auf die Zuerkennung der Studienberechtigung, das Monopol eines gymnasialen Bildungsganges und das Recht auf eine Übergangs- und innerschulische Auslese.

Mit der Oberschullösung verliert das Gymnasium endgültig seinen Monopolanspruch auf den gymnasialen Bildungsgang und auf die Hochschulreife. Doch die Oberschullösung führt nicht von sich aus zu einer Konvergenz von Oberschule und Gymnasium. Vielmehr muss um die Aufhebung eines in vielen Gesellschaftsbereichen verankerten Vertikalsystems gerungen werden. Aber die Beispiele der Stadtstaaten zeigen, dass Konvergenz- und Ausgleichsstrategien durchsetzbar sind. Werden die vier Strukturmerkmale des Gymnasiums schrittweise überwunden, verbleiben dem Gymnasium noch der Name und das Ansehen.

Der Ausgang des Hamburger Volksentscheids dürfte die meisten Reformer überzeugt haben, dass die gemeinsame Schule für alle nicht in einem Schritt zu verwirklichen ist. Dagegen scheint sich die zweigliedrige Oberschul-Lösung durchzusetzen. Wie die vorangegangene Analyse aufzeigt, bedeutet sie nicht das Ende der Schulstrukturreform. Wer die Gleichwertigkeit von Oberschule und Gymnasium verwirklichen will, überwindet damit zentrale Strukturmomente eines vertikalen Schulsystems. Die gemeinsame Schule für alle wird damit realisierbar.

1 In der jetzigen CDU/FDP-Koalition versucht die FDP, die Oberschullösung zu einer Mittelschullösung umzufunktionieren, stößt allerdings auf vielfältigen Widerstand, auch bei CDU-geführten Kommunen.
2 Diesen Tatbestand hat vor allem der SPD-Bürgerschaftsabgeordnete T. Rabe frühzeitig erkannt.
3Siehe dazu vor allem K. Edler, An die eigene Nase fassen, Hamburger Lehrerzeitung, Sept. 2010. Der Beitrag von K. Edler ist die umfassendste Analyse des Hamburger Volksentscheides, auf den sich auch meine Darstellung stützt.

Siehe zu diesem Thema auch den einstimmigen Beschluss der Mitgliederversammlung vom 13.11.2010: Einschätzung bildungspolitischer Entwicklungen