Die Eichendorffschule in Erlangen – ein bayerisches Beispiel für mehr Bildungsgerechtigkeit

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Eine Mittelschule macht sich für mehr Bildungsgerechtigkeit stark

Die Eichendorffschule in Erlangen

Helmut Klemm

Das deutsche Schulsystem ist ungerecht, das bayerische besonders. Wir an der Eichendorffschule in Erlangen erleben es tagtäglich.

Wir können das bayerische Schulsystem nicht ändern. Aber wir können den Ort, den wir jeden Tag gestalten, ein wenig gerechter machen. Der Ganztag, die integrative und flexible Beschulung sowie das eigenverantwortliche und selbstorganisierte Lernen sind dafür von Bedeutung. Aber auch Potenzialentfaltung, eine pädagogisch motivierte Notengebung und eine wertschätzende Haltung den uns anvertrauten jungen Menschen gegenüber.

Der Eichendorffschule gelingt es, den Schülerinnen und Schülern, die von der Grundschule oftmals nur das Gefühl des Scheiterns kennen, die Angst vor Fehlern zu nehmen und ihnen wieder Freude am Lernen zu vermitteln. So begründete Thorsten Bohl, Jury-Sprecher des Deutschen Schulpreises und Direktor der Tübingen School of Education, die Vergabe dieser renommierten Auszeichnung an die Eichendorffschule am 12. Oktober 2023.

Ganztagsschule als notwendige Voraussetzung

Wir betrachten die Ganztagsschule als notwendige Voraussetzung für eine gerechtere Schule. Von unseren ca. 400 Kindern und Jugendlichen aus über 30 Ländern können 70 % eine Migrationsgeschichte erzählen und 35% leben in ärmeren Verhältnissen. Eltern können häufig nicht helfen und die Wohnverhältnisse sind zu oft hinderlich. Wir sagen: Hausaufgaben sind Hausfriedensbruch. Alles schulische Lernen muss in der Schule stattfinden, im Unterricht und zusätzlich in der individuellen Lernzeit, von der jede Ganztagsklasse zwei bis drei Stunden in der Woche hat. Die Ganztagsschule bietet uns den organisatorischen Rahmen für ein dringend benötigtes Mehr an Zeit. Innerhalb des ganztägigen Rahmens setzen wir unsere vier Bildungsprinzipien um:Wissen neu lernen, Potenziale entfalten, zusammen leben und Verantwortung übernehmen-Herausforderungen meistern. Von diesen sind „Wissen neu lernen“ und „Potenziale entfalten“ besonders bedeutsam. Es geht um materialgeleitete, adaptive Unterrichtskonzepte wie den Raum der Mathematik oder die Lernbüroarbeit, um auf die Diversität unserer Schülerschaft angemessen reagieren zu können. Die Potenziale und Talente unserer Kinder und Jugenlichen wollen wir in zahlreichen Arbeitsgemeinschaften zur Entfaltung bringen. Unsere jungen Menschen sollen nicht nur in Mathematik und Deutsch erfolgreich sein. Kunst und Musik, Hegen und Pflegen in unseren vier Biotopen, Filme drehen und BMX fahren sind nicht weniger bedeutsam. Wir verstehen uns als zeitgemäßen Bildungs- und Kulturort.

Der pädagogische Dreiklang: Beziehung-Erziehung-Unterricht

Unsere Lehrkräfte unterrichten keine Fächer, sie initiieren und begleiten das Lernen junger Menschen. Es braucht eine Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden. Zusammen mit unserem langjährigen Bildungspartner ChangeWriters e. V. festigen wir unser Kollegium in der wertschätzenden Haltung den Kindern und Jugendlichen gegenüber und bilden sie regelmäßig fort, immer zu Beginn eines neuen Schuljahres. Als ChangeWriters-Schule haben wir zwei ausgebildete Methodencoaches. Sie bieten Workshops für gelingende Beziehungen in der Eichendorffschule an, für Schülergruppen und Lehrkräfte und führen ein in bis zu 200 Methoden.

Unsere kleinkarierte und das Schulklima negativ beeinflussende Schulordnung ersetzten wir durch unser Schulethos - unsere KICKFAIR Werte. In mehreren moderierten Workshops haben sich Schülerinnen und Schüler die Frage gestellt, wie wollen wir an unserer Schule zusammen lernen und leben? Wir verbringen viele Stunden zusammen, nicht nur im Klassenzimmer, sondern auch in der 45-minütigen freien Zeit, in der Mensa, den beiden Lebensräumen, in den Gängen oder auf dem Pausenhof. Konflikte bleiben nicht aus. Gute Antworten auf die Frage nach einem harmonischen Zusammenleben sind von entscheidender Bedeutung. Eine gute Schule zeichnet sich nicht dadurch aus, dass sie Konflikte ignoriert oder unterdrückt, sondern auch durch die Art und Weise, wie sie Konflikte bewältigt. Die KICKFAIR Werte und die Drei-Halbzeiten-Methode spielen dabei für uns eine bedeutende Rolle.

KICKFAIR Werte statt Hausordnung

Das Ergebnis der Schülerworkshops war zunächst überraschend. Nur sieben Sätze mit je einem vorangestellten Hashtag und zum Teil kryptischen Formulierungen wie z. B. Wir brauchen Raum. Raus aus den Ecken! Es hat etwas gedauert, bis wir Lehrkräfte den Wert dieser Werte für unsere Erziehungsarbeit erkannten. Die sieben Formulierungen bilden alles ab, was wir für ein gutes Miteinander an der Eichendorffschule brauchen. Das Mitgefühl für den anderen, den Respekt vor dem anderen. Die Sätze treffen den Kern und sind doch offen formuliert. Sie müssen verstanden und in den Alltag übersetzt werden, so konkret wie möglich. Wir brauchen Raum kann das Drängeln in den Gängen oder vor dem Pausenverkauf einschließen oder das Bedürfnis nach Rückzugsmöglichkeiten in der freien Zeit. Unsere KICKFAIR Werte sind allgegenwärtig, in jedem Unterrichtsraum und in jedem Logbuch. Wir setzen sie präventiv ein, als Wert des Tages, der Woche oder des Monats, in Projekten, in der Klasse oder im Lernhaus. Oder wir reagieren mit ihnen auf konkrete Verfehlungen, situativ und individuell in pädagogischen Gesprächen oder grundsätzlicher im wöchentlichen Klassenrat oder in den mindestens sechs Vollversammlungen der Schulgemeinschaft.

In der Erziehungsarbeit an der Eichendorffschule werden vorgegebene Regeln durch einvernehmliche Abmachungen ersetzt. An die Stelle von Lob und Tadel treten die Reflexion und das Feedback. Ob es die neue Klasse ist oder der erste Fachunterricht im Werkraum. Der Aufenthalt in der Mensa oder das Lernen in den Lernbüros. Wir setzen auf die Drei-Halbzeiten-Methode auf der Grundlage unserer KICKFAIR Werte. In der ersten Halbzeit werden Abmachungen getroffen und verschriftlicht. Sie sind der Maßstab für unser Handeln. Die zweite Halbzeit ist die gute Praxis. Ihre Dauer ist variabel. In der dritten Halbzeit reflektieren wir die Umsetzung der Abmachungen und geben uns Feedback. Das ist zeitaufwändig und mitunter nervig, aber es ist nachhaltig. Natürlich gibt es auch rote Linien wie Körperverletzung oder Cybermobbing. Hier helfen kein Feedback und keine Reflexion, hier braucht es vielleicht eine Strafanzeige.

Die Eichendorffschule ist eine Hinweisschule

Und dann sind da noch die „-ismen“, vor allem Sexismus und politischer Extremismus. Sie werden über die Elternhäuser, Peer Groups oder soziale Netzwerke in die Schule gespült. Ihnen müssen wir uns stellen. Zusammen mit unseren beiden Jugendsozialarbeiterinnen und unserem Respekt Coach bieten wir zahlreiche themen- und alterspezifische Angebote an. Es geht um Workshops zur Queerfeindlichkeit, Empowerment-Veranstaltungen für Mädchen oder eine Woche der Demokratie für alle Klassen, allein 193 Angebote in den letzten drei Jahren.

Die Eichendorffschule versteht sich nicht als Best Practice. Ihr mehrjähriger, systematischer und ganzheitlicher Schulentwicklungsprozess kann nicht mit Copy & Paste auf andere Schulen eins zu eins übertragen werden. Wir verstehen uns eher als Hinweisschule. Wir können Hinweise geben, wie an einer Ganztagsschule, die sich als zeitgemäßer Bildungs- und Kulturort versteht, das Miteinander gestaltet werden kann, manchmal mehr, selten weniger harmonisch.


KICKFAIR e.V. ist unser zweiter wichtiger Bildungspartner. KICKFAIR steht eigentlich für eine besondere Art des Fußballspielens. Heute ist die langjährige Kooperation mit KICKFAIR e. V. ein fester und integrativer Bestandteil unserer Schulentwicklung und viel mehr als Fußball. KICKFAIR steht an der Eichendorffschule für unsere KICKFAIR Werte – unseren Schulethos. Für die Drei-Halbzeiten-Methode und das Projekt Football Learning Global und damit für Erziehungsarbeit und Demokratiebildung. Für Südexperten und Teamer. Für das bundesweite KICKFAIR-Festival in Ostfildern oder die regionale Zusammenarbeit mit Partnerschulen. Und das alles unter der Federführung unserer KICKFAIR Schule, eine von fünf Schulen der Eichendorffschule. Für uns steht KICKFAIR für Sozialerziehung und Demokratiebildung.

Weitere Informationen:
     Eichendorffschule Erlangen

Artikel aus Die Schule für alle  Heft 2025/2