GGG Magazin
ImFokus – SchuleImFokus:
Die Schule für alle – als guter Ort
GGGaktiv:
– Dachau
– Treffen mit der BMK-Präsidentin
– Verbandsdiskussion über Positionspapier
– Position zum Koalitionsvertrag
Das ganze Heft: DIE SCHULE FÜR ALLE 2025/4
INHALT
Editorial / Impressum
IMPRESSUM WER FÜR UNS SCHREIBT WER FÜR UNS SCHREIBT (Langversion)
Editorial hier lesen
Editorial
Dieter Zielinski
Liebe Mitglieder der GGG, liebe Leserinnen und Leser,
nahezu täglich werden wir mit Meldungen über Gewalt an Schulen konfrontiert. Davon sind die einzelnen Schulen mehr oder weniger betroffen. Immer wieder wird Gewalt auch von außen in die Schulen hineingetragen. Betroffene Schulen müssen reagieren. Dort wo präventive Maßnahmen nicht mehr ausreichen, muss in der Regel mit Sofortmaßnahmen geantwortet werden.
Dies war für uns Anlass genug abzuwägen, ob diesem Thema nicht ein ganzes Magazin gewidmet werden sollte oder sogar müsste. Nun gibt es gerade bezüglich auftretender Gewalt viel professionelles Knowhow in den Schulen selbst und auch unterstützende Hilfen von außen, die bei Bedarf hinzugezogen werden können.
Die Redaktion hat sich deshalb entschieden, die Gewaltproblematik in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Insbesondere auch, weil Schulen auf weitere aktuelle Herausforderungen Antworten finden müssen, wie z.B. eine zunehmende Anzahl von Schülerinnen und Schülern mit psychischen Problemen als Folge der Corona-Pandemie, Cybermobbing als Folge des Umgangs mit digitalen Medien sowie die zunehmende Diversität der Schüler:innen in den Klassenräumen. Auch vorhandene strukturelle Gewalt müsste bearbeitet und letztendlich beseitigt werden.
Mit diesem Magazin wollen wir deshalb Antworten darauf geben, wie in Zeiten gefährdeten Zusammenhalts unsere Schulen beschaffen sein müssen, damit in ihnen möglichst wenig Gewalt entsteht, das Miteinander im Zentrum steht, angstfrei gelernt werden kann und sich alle gut aufgehoben fühlen. Anders ausgedrückt wollen wir darstellen, wie wir die Schule zu einem guten Ort machen können. Was muss strukturell in der Schule getan werden, um einen solchen Zustand zu erreichen? Welche pädagogischen Elemente sind hier wichtig? Aber auch, welche innerschulischen Strategien der Prävention und Intervention sind nötig, damit Kinder und Jugendliche gestärkt werden: Gestärkt werden als Persönlichkeit, für eine wehrhafte Demokratie und für ein Zusammenleben in der Gesellschaft.
Auch wenn die Schule ein solcher „idealer“ Ort wäre, werden Fragen von Konflikten, von gewalttätigen Auseinandersetzungen und Cybermobbing nicht vor den Schultüren halt machen. Eine positive Schulerfahrung kann aber dafür sorgen, dass Kinder und Erwachsene mit Unterschieden respektvoll und wertschätzend umgehen. Dies ist Grundlage für ein friedvolles Zusammenleben und für eine nachhaltige Lernkultur.
Barbara Riekmann erklärt in ihrem Artikel „Angstfrei lernen? – Ja unbedingt!“ den Zusammenhang zwischen erfolgreichem Lernen und den neurophysiologischen Dispositionen des menschlichen Organismus. Was Schule grundsätzlich tun kann, um zu einem Ort des Wohlfühlens und erfolgreichen Lernens zu werden, umreißen Britta Klopsch und Antonia Deckstein. Warum eine gute Schule eine demokratische Schule sein muss, erklärt Helmolt Rademacher. Ahmad Mansour beschreibt, wie die kulturelle Vielfalt in den Klassenzimmern zu Orten des sozialen Zusammenhalts werden können. Die vier Schulbeispiele in diesem Magazin zeigen konkret, was Schulen tun und getan haben, um zu besseren Orten zu werden. Dies alles und noch viel mehr finden Sie zu unserem Themenschwerpunkt. Darüber hinaus finden Sie wie immer auch Berichte und Informationen aus unserem Verbandsleben.
Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, auch im Namen der Redaktion, eine gewinnbringende Lektüre.
GGGaktiv
Berichte aus der bildungspolitischen Verbandsarbeit
Die ganze Rubrik GGG aktiv mit allen Artikeln steht Ihnen zum Herunterladen zur Verfügung.
P. Ehrich: Eine neue Lernkultur für Bayern
Eine wichtige Fachtagung in Dachau mit Ausstrahlung in Bayern
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Peter Ehrich
Unter der Forderung: „Wir brauchen eine Schule, in der eine andere Lernkultur herrscht, die individuelles Lernen fördert und auf die Gemeinschaft ausgerichtet ist“, versammelte sich das von der GGG unterstützte Bündnis Gemeinschaftsschule Bayern am 15. Februar 2025 in der Montessori-Schule Dachau. In der Aula des Schulgebäudes trafen sich Vertreter*innen aus Wissenschaft, Politik, Elternschaft und Schüler*innenvertretungen, um in Vorträgen, Podiumsdiskussionen und offenen Gesprächen über die pädagogischen, gesellschaftlichen und politischen Aspekte der Gemeinschaftsschule zu debattieren.
Hans Wocken: Gelingens- und Scheiternsbedingungen der Gemeinschaftsschule
Der renommierte Bildungswissenschaftler Hans Wocken stellte in seinem Vortrag zentrale Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren für die Einführung der Gemeinschaftsschule in Bayern vor. Wocken, bekannt für sein Engagement für Kinder mit Behinderung, präsentierte drei zentrale Quoten zur Messung gelingender Inklusion: die Förderquote (Schüler*innen mit ausgewiesenem sonderpädagogischem Förderbedarf), die Separationsquote (Schüler*innen, die nicht an allgemeinen Schulen unterrichtet werden) und die Inklusionsquote (Schüler*innen mit Förderbedarf an allgemeinen Schulen).
Die aktuellen Zahlen auf Bundesebene/bayerischer Ebene aus 2023 zeigen eine stagnierende Förderquote von 7,6 /6,6 % und eine Exklusionsquote von ebenfalls 4,2/4,5%, während die Inklusionsquote nur 3,4/2,1 % beträgt (1). Wocken spricht von "Pseudoinklusion" – eine Entwicklung, bei der Schulen durch Diagnostik neue Förderbedarfe schaffen, ohne bestehende Förderschüler*innen in allgemeine Schulen zu integrieren. Die Ursachen sieht er in einer selektiven Haltung vieler Schulen, die sich ihre „Inklusionskinder“ gezielt aussuchen. "Inklusion heißt nicht wählen, sondern annehmen", so Wocken.
Ein weiteres Problem identifiziert er in der ausschließlichen „Input-Orientierung“ Bayerns: Statt die Separationsquote – für Wocken der tatsächliche Output bildungspolitischer Maßnahmen - zu senken, konzentriere sich das Land auf die Bereitstellung von Fortbildungen, Finanzmitteln und Zertifikaten – für Wocken der Input an bildungspolitischen Maßnahmen ins Bildungssystem -, ohne tatsächliche strukturelle Veränderungen herbeizuführen. Hinzu komme der politische Widerstand gegen die Gemeinschaftsschule, den er als "Bestandsschutz" für das gegliederte Schulsystem bezeichnet. Er verweist auf das Festhalten an selektiven Instrumenten – „Folterinstrumenten“ – wie dem "Grundschulabitur" und der Lernzielgleichheit, die eine individuelle Förderung erschweren. Erst ein ehrliches Bekenntnis zu Inklusion und Gemeinschaftsschule sowie konkrete landesweite Reformbestrebungen, die die "Folterinstrumente des selektiven Schulsystems" abschaffen, könnten das bestehende System ins Wanken bringen und eine echte Transformation zur Gemeinschaftsschule ermöglichen.
Erste Podiumsdiskussion: Mut zur Veränderung
In einer ersten Podiumsdiskussion diskutierten Stefan Ruppaner (Alemannenschule Wutöschingen), Prof. Dr. Zentel (LMU München), Dr. Michael Kirch (LMU München) und Dr. Antonia Green (Familientreffen Inklusion). Kirch formulierte eine provokante These: "Deutschland hat kein Transformationsproblem, sondern ein Erkenntnisproblem." Es fehle die Akzeptanz für notwendige Änderungen und der Mut, bestehende Strukturen aufzubrechen. Ruppaner appellierte an Schulleitungen, bestehende Gesetze zu ignorieren und aktiv neue Bildungswege zu erproben.
Kirch unterstrich die negativen Folgen des selektiven Systems, das durch frühzeitige Leistungstests und Aussiebverfahren Kinder demotiviere. Studien belegten, dass das Selektionssystem keine positiven Effekte auf Lernerfolge hat. Wocken betonte die gesellschaftliche Dimension: Gemeinschaftsschulen fördern das "Miteinander-Können" – eine Schlüsselqualifikation in einer zunehmend diversen Gesellschaft.
Emotionale Appelle der Schüler*innen
Vor der Mittagspause kamen dann noch zwei junge Menschen zu Wort: Amelie, eine Schülerin, die eine Petition gegen unangekündigte Tests (Exen) und Abfragen gestartet hat, und Tim Wiegelmann, ein erwachsener Schüler mit körperlicher Behinderung. Amelie kritisierte die sture Haltung der Landesregierung gegen Reformen, während Tim in einer bewegenden Rede betonte, dass Inklusion nicht die Abwesenheit von Barrieren, sondern die Präsenz von Verbindungen sei. Er beklagte, in der Sonderschule von diesen Verbindungen abgeschnitten gewesen zu sein, und appellierte an eine humane Schule, die den Menschen und nicht das Fach in den Mittelpunkt stellt.
Zweite Podiumsdiskussion: Die politische Dimension
In einer politischen Diskussionsrunde debattierten am Nachmittag Vertreterinnen aus Politik, Gewerkschaften und Bildungsverbänden über die strukturellen Hürden für die Gemeinschaftsschule. Der Landesschüler*innenrat kritisierte, dass junge Menschen oft allein gelassen würden, während Politiker*innen "für ihre Arbeit bezahlt würden, aber keine Lösungen lieferten". Stefan Ruppaner zeigte sich aus seiner Erfahrung als Kreisrat heraus resigniert: "Die hören nicht mal zu." Verantwortlichkeiten würden zwischen Ministerien hin- und hergeschoben, sodass keine Fortschritte erzielt würden.
Der Behindertenbeauftragte Holger Kiesel beklagte, dass Modellschulen, die Inklusion erproben, von der Politik ausgebremst würden – offenbar aus Angst, dass sich der Erfolg nicht länger ignorieren ließe. Die GEW-Vorsitzende Martina Bogendale forderte pragmatische Schritte, etwa durch die Abschaffung unangekündigter Tests. Nicole Gohlke (MdB, Die Linke) sprach sich für einen bundesweiten Bildungspakt aus, um Gesamtschulen finanziell und strukturell zu fördern. Ruppaner hingegen hielt dagegen: "Mehr Geld in Bildung ist Bullshit. Was es braucht, ist mehr Haltung und mehr Herz."
Fazit: Ein System im Stillstand
Die Tagung verdeutlichte, dass die Gemeinschaftsschule in Bayern weiterhin auf große Widerstände trifft. Trotz wissenschaftlicher Evidenz und persönlicher Schicksale bleibt das Bildungssystem rigide. Zwei Hauptforderungen ergaben sich aus der Diskussion: Erstens muss der Bestandsschutz für Förderschulen fallen, und zweitens müssen die selektiven Strukturen des gegliederten Schulsystems aufgebrochen werden. Nur so kann sich das bayerische Schulsystem von einer Kultur der Separation zu einer Kultur der echten Inklusion wandeln.
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2
D. Zielinski: Gespräch mit Simone Oldenburg
Das Gespräch mit Simone Oldenburg (Vorsitzende der BMK) – ein Anfang
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Dieter Zielinski
Am 23.04.2025 trafen sich Vertreter:innen der GGG im Rahmen einer Videokonferenz mit der Präsidentin der Bildungsministerkonferenz (BMK) Simone Oldenburg.
Zu Beginn des Gesprächs führte Frau Langenbeck-Schwich in den ersten von der GGG angeregten Themenschwerpunkt Bildungsgerechtigkeit ein. Sie fragte Frau Oldenburg nach ihren Vorstellungen zur Steigerung der Leistungsfähigkeit des deutschen Schulsystems und dem Schlüssel zu mehr Bildungsgerechtigkeit.
Frau Oldenburg erwiderte, dass sie das auf 10 Jahre angelegte Startchancen-Programm dazu für sehr gelungen und geeignet halte. Was zusätzlich erforderlich sei, ist ein Startchancen-Programm für Kitas. Insbesondere müsse darauf geachtet werden, Übergänge besser zu gestalten. Jeder Übergang sei ein Bruch. Die Herstellung von Chancengerechtigkeit setze Informationen voraus. Frau Oldenburg unterstrich weiter, dass sie viel von flexiblen Eingangs- und Ausgangsphasen halte. Wenn es sein müsse, sei bei großen Defiziten auch eine 0. Klasse vor der Einschulung hilfreich. Förderung bedeute für sie immer auch Forderung. Gebraucht werden ein Frühwarnsystem und auch verbindliche Elterngespräche. Es gehe nur mit den Eltern.
Auf die Frage, was die BMK denn zu mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen könne, antwortete Frau Oldenburg: Hilfreich sei auf dieser Ebene voneinander, von guten und erfolgreichen Beispielen zu lernen. Alle haben da etwas zu bieten. So habe ihr Bundesland zum Beispiel von Hamburg das Leseband übernommen, das Saarland nehme sich von Mecklenburg-Vorpommern das neue Konzept zur Beruflichen Orientierung zum Vorbild.
Für Frau Oldenburg ist wichtig, dass jedes Bildungssystem durchlässig sein müsse. Alle Wege müssten zum Abschluss führen, auch zum höchsten. Vorhandene Hemmnisse müssten abgebaut werden. In diesem Zusammenhang sei auch längeres gemeinsames Lernen wichtig.
Anschließend führte Rainer Dahlhaus in den zweiten von der GGG angeregten Themenblock ein. Er wies darauf hin, dass der Bund im Rahmen verschiedener Projekte in Bildung finanziere und die Verteilung bedarfsorientiert erfolgen müsse.
Zunächst einmal erwiderte Frau Oldenburg, dass auch nach Antritt der neuen Bundesregierung viele Fragen zur genauen Verteilung der Gelder noch geklärt werden müssten. Nach dem Koalitionsvertrag sei die Einrichtung einer Kommission von Bund und Ländern beabsichtigt, in der auch über Finanzbedarfe gesprochen werden sollte. Grundsätzlich halte sie die Mittelverteilung auf die Länder nach dem Königsteiner Schlüssel für ein geeignetes Instrument. Die Verteilung der Mittel aus dem Startchancen-Programm habe gezeigt, dass es unter bestimmten Umständen sinnvoll sein kann, davon abzuweichen und eine sozialindexbasierte Verteilung vorzunehmen.
Dieter Zielinski mahnte mit Hinweis auf die offensichtlichen Probleme des deutschen Bildungssystems die Beteiligung der Zivilgesellschaft in Form eines Bildungsdialoges/Bildungsgipfels an. Frau Oldenburg entgegnete, dass sich die Idee nach der Veranstaltung von Frau Stark-Watzinger in der letzten Legislaturperiode nicht mehr umsetzen lasse. Die Erinnerungen, die wach würden, seien keine guten Voraussetzungen für eine konstruktive und partnerschaftliche Zusammenarbeit. Die BMK sei stattdessen mit Stiftungen, dem Bürgerrat Bildung, Eltern- und Schüler:innenvertretungen, Verbänden etc. in intensivem Austausch.
Abschließend problematisierte Frau Langenbeck-Schwich noch die bisher mangelhafte Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Bezug auf ein inklusives Schulsystem. Dafür sei die Bundesrepublik im Rahmen einer Staatenprüfung heftig kritisiert worden.
Wichtig in dieser Hinsicht ist für Frau Oldenburg eine evidenzbasierte Unterrichtsentwicklung. Allerdings mache der aktuelle Lehrkräftemangel viele Weiterentwicklungen schwerer. Der Umgang mit Heterogenität auf Seiten der Schüler:innen sei nur mit einer gewissen Heterogenität auf Seiten des Personals möglich.
Zum Schluss bedankte sich Frau Oldenburg ausdrücklich für das Gespräch.
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2
D. Zielinski: Mitgliederanhörung zum Positionspapier
Befragung zum neuen GGG-Grundsatzpapier – alle Mitglieder können sich beteiligen
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Der Hauptausschuss der GGG hat in Zusammenarbeit mit der Bundesarbeitsgruppe Politik ein Positionspapier zur Weiterentwicklung der Schulen des gemeinsamen Lernens vorgelegt. Seit Mitte Mai wird darüber eine Mitgliederanhörung durchgeführt.
Ziel der GGG ist, dass alle Kinder und Jugendlichen eine gemeinsame Schule für alle – eine Schule der Inklusion – bis zum Ende ihrer allgemeinen Schulpflicht besuchen. Damit verbunden ist eine Überwindung des tradierten gegliederten Schulsystems in Deutschland. Nach den Erfahrungen der Vergangenheit ist bis dahin noch ein weiter Weg zurückzulegen. Von Zeit zu Zeit ist ein Innehalten, ein sich Besinnen auf das Erreichte und ein Nachdenken über die nächsten Schritte angebracht.
Diesbezüglich hat sich der Hauptausschuss der GGG im Herbst 2024 und im Frühjahr 2025 mit Überlegungen zur Frage der Weiterentwicklung der Schulen des gemeinsamen Lernens beschäftigt. Im Zusammenwirken mit der Bundesarbeitsgruppe Politik der GGG ist aus diesen Überlegungen der Entwurf eines Positionspapieres entstanden. Darin geht es u.a. um Positionen zur Weiterentwicklung der Schulstruktur und zur Schul- sowie Unterrichtsentwicklung und Pädagogik. Ziel ist es, dieses Papier am Sonnabend, den 27.09.2025, im Rahmen einer Mitgliederversammlung vorzustellen, zu diskutieren und zu verabschieden.
Damit alle GGG-Mitglieder sich schon vor dieser Versammlung mit in den Diskussionsprozess einbringen können, hat der Bundesvorstand im Mai dieses Jahres eine Mitgliederanhörung zum Entwurf des Positionspapiers gestartet. Mitglieder, von denen eine E-Mail-Adresse vorliegt, wurden über diese Adresse informiert, die übrigen Mitglieder per Briefpost. Die eingehenden Rückmeldungen werden von der Bundesarbeitsgruppe Politik gesichtet, bewertet und bei der Abfassung einer endgültigen Vorlage für die Mitgliederversammlung berücksichtigt.
Die Anhörung endet am 30.Juni dieses Jahres. Noch ist also Zeit, sich zu beteiligen.
Hinweis für GGG-Mitglieder
Weitere verbandsinterne Informationen erhalten Sie,
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Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2
Presseinformation zum Bildungskapitel im Koalitionsvertrag
GGG-Pressemitteilung vom 12.04.2025
Leider nicht befriedigend – die Bildungsziele der neuen Bundesregierung
hier lesen
Zu wenig ambitioniert, vage und damit nicht ausreichend! (PM 2025-04-12)
Presseinformation zum Bildungskapitel im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD
„Wir fördern Bildungsgerechtigkeit, Leistungsfähigkeit und Inklusion“ ist die selbst gesteckte Messlatte zu Beginn des Kapitels Bildung, Forschung und Innovation. Die Erwartung eines ambitionierten, in die Zukunft weisenden Programms wird auf den folgenden Seiten jedoch nicht erfüllt.
Download PM 2025-04-12
Siehe auch Erwartungen der GGG an die Koalitionnäre vom 2025-04-05
Unter Achtung der jeweiligen Zuständigkeiten wollen die künftigen Koalitionspartner gemeinsam mit den Ländern für die nächste Dekade u.a. relevante und messbare Bildungsziele vereinbaren. Vor dem Hintergrund der dramatischen Krise, in der sich unser Bildungssystem befindet, wäre stattdessen zunächst ein gesamtgesellschaftlicher Bildungsdialog erforderlich, den die Ampelkoalition in Form eines Bildungsgipfels in Aussicht gestellt und dann nur stümperhaft realisiert hatte.
Die Formulierungen im Koalitionsvertrag erwecken den Eindruck, dass in den Verhandlungen für diesen Bereich die Vertreter:innen der Länder großen Einfluss hatten. Zu erwarten gewesen wäre stattdessen eine Initiative zu mehr Verantwortung des Bundes z. B. in Hinsicht darauf, das bestehende Kooperationsverbot im Bildungsbereich zu einem Kooperationsgebot weiterzuentwickeln. Auch die erforderliche sozialindexbasierte Verteilung von Bundesmitteln auf die Länder wird nicht angegangen.
Völlig unbeantwortet bleibt wie der Ausbau von Inklusion gefördert werden soll, der ja als herausragendes Ziel vorangestellt wird. Wer den Anspruch hat, Bildungsgerechtigkeit zu fördern, muss die Zielperspektive eines inklusiven Bildungssystems und damit dessen grundlegende strukturelle Veränderung im Visier haben.
Dass aus dem Sondervermögen Infrastruktur auch Mittel für den Bildungsbereich zur Verfügung gestellt werden ist Konsens, zu begrüßen und zwingend erforderlich. Offen bleibt allerdings in welcher Höhe dies geschehen soll. Vor dem Hintergrund der bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages immer wieder geäußerten Finanzierungsvorbehaltes ist zu befürchten, dass davon auch der Bildungsbereich betroffen sein könnte. Das geäußerte Bekenntnis, das Bildung, Forschung und Innovationen Schlüssel für die Zukunft unseres Landes sind, macht deutlich, dass in diesen Bereichen nicht gespart werden darf.
Zu den Positiva des Vertrages gehören u. a. der beabsichtigte Ausbau des Startchancenprogramms, die Fortsetzung und qualitative Weiterentwicklung des Digitalpaktes, die allerdings nicht hinreichende Absicht, die Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen zu verbessern, Demokratie- und Medienbildung in den Fokus zu nehmen sowie für einen erfolgreicheren Übergang von jungen Menschen in den beruflichen Bereich sorgen zu wollen.
„Entscheidend werden für uns die Ergebnisse künftigen Regierungshandelns sein“, so der Vorsitzende der GGG Dieter Zielinski. „Wir werden die Bundesregierung daran messen.“
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2
ImFokus
Der Fokus unserer Zeitschrift Die Schule für alle 2025/2 liegt auf der Frage, wie Schule verfasst und gestaltet sein muss, um ein "Guter Ort" für alle Beteiligten zu sein (oder zu werden).
Zum Herunterladen steht Ihnen die ganze Rubrik Im Fokus mit allen Artikeln zur Verfügung.
B. Riekmann: Angstfrei lernen? – Ja, unbedingt!
Angst ist ein Bildungskiller – Schule muss auch aus neurobiologischer Sicht neu gedacht werden.
hier lesen
Angstfrei lernen? – Ja unbedingt!
Schule als ein guter Ort
Barbara Riekmann
Noch immer ist es eine häufig anzutreffende Meinung, dass Lernen nur mit Druck gelänge und ja, dass dies im Übrigen noch niemandem geschadet habe. Die Schule als Ort des Wohlfühlens? Es gibt auch heute nicht wenige, die diesen Auftrag der Schule für überzogen, anmaßend oder sachfremd hielten. Was also ist gemeint, mit der Schule als guter und ich füge hinzu sicherer Ort?
Es gibt in Deutschland rund 33.000 Schulen, in denen die Mädchen und Jungen in zehn Schuljahren um die neun- bis elftausend Stunden verbringen. Wenn die Erfahrungen, die sie dort machen, unerfreulich sind, Angst machen oder Stress erzeugen, z.B. durch Lärm, Enge, Hetze oder überzogenen Leistungsdruck, wenn gar Demütigungen oder Formen von Gewalt nicht ausbleiben, dann hat dies im höchsten Maße nachteilige Folgen für die Gesundheit und für das Lernen: „ Ein Organismus mit aufgedrehtem Stresssystem verliert die Fähigkeit das zu tun, worauf es in der Schule ankommt: aufmerksam zu sein und zu lernen. Angst und Stress sind Bildungskiller. “, so der Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut Prof. Dr. Joachim Bauer. (Bauer(1), S. 37)
Neurobiologische Erkenntnisse
Von der Neurobiologie können wir lernen, dass die Nervenzellen unseres Motivationssystems Botenstoffe produzieren (Dopamin, Opioide und Oxytozin) Anm. 1), ohne die wir uns nicht wohlfühlen können. „Entscheidende Voraussetzung für die biologische Funktionstüchtigkeit unserer Motivationssysteme sind das Interesse, die soziale Anerkennung und die persönliche Wertschätzung, die einem Menschen von anderen entgegengebracht werden.“ (Bauer (2), S.19 f)
Wenn jedoch Anerkennung, persönliche Wertschätzung ausbleiben, ist die Folge, dass das Motivationssystem nicht aktiviert wird; geschieht dies dauerhaft, kann dies körperliche und psychische Erkrankungen zur Folge haben. Aber auch in kleinen Dosen kann dies die Eigeninitiative, die Energie, die Lust auf Leistung und die Lernmotivation beeinträchtigen.
Raum – Zeit - Lernstrukturen
Die Gestaltung von Raum und Zeit, die Frage, wie Lernstrukturen konzipiert und passend zu diesen Koordinaten angelegt werden, sind zentrale Aspekte für eine Schule als guter Ort.
Es geht u.a. um ein kluges Zeitmanagement, das individuelles und gemeinsames Lernen unterstützt, das dem Lernenden Zeitautonomie gibt und dem Bedürfnis nach Ruhe, Begegnung, Essen, Spielen und Bewegung entgegenkommt. Eine Halbtagsschule kann dies kaum realisieren, in einer gebundenen Ganztagsschule sind hierfür die Gestaltungsräume vorhanden.
Idealerweise entspricht dem ein Raumangebot, das Rückzug möglich macht, das zu Gemeinsamkeit einlädt, das Anregung und Offenheit bietet und vielfältige Erfahrungen ermöglicht, so z.B. ein für alle zugängliches Forschungslabor oder weitere „Talentschmieden“, eine Bibliothek, Leseecken, Foren, Arbeitsplätze und Ruheräume. Vor dem Hintergrund des Sanierungsstaus an deutschen Schulen erscheint diese Aufzählung bizarr und unrealistisch. Es lohnt sich dennoch, auch im vorhandenen Bestand einer „Klassenraum-Schule“, die bisherige Raumstruktur auf den Prüfstand zu stellen.
Raum und Zeit unterstützen im Idealfall eine klug austarierte Lernarchitektur, die im passenden Mix den Lernbedürfnissen der Kinder und Jugendlichen entgegenkommt: selbstgesteuertes Lernen und Instruktion, fachliches Lernen und Fächer übergreifendes Lernen in Projekten, Neigungsangebote, zudem Sport und die Künste als Treiber des Motivationssystems.
Beziehung und Bedeutung
Raum und Zeit sind äußerst wichtige Voraussetzungen, Beziehung und Bedeutung aber sind entscheidend. Das gilt für die personelle Struktur, für den Umgang miteinander und für die Team- und Arbeitsstruktur innerhalb der Schule. Es hat deshalb einen hohen Stellenwert, wie das Miteinander in der Schule für alle geregelt ist. Übersichtliche und verlässliche Strukturen schaffen Vertrauen in die Abläufe. Alle können sich einbringen.
Bedeutsam sollten aber auch die Lerngegenstände sein. An Dingen zu arbeiten, die für das Verständnis der Welt relevant sind, erfordert ein Denken auch über die Fächergrenzen hinaus. Deshalb sollten vielfältige Möglichkeiten geschaffen werden, den Lernprozess vom Gegenstand und von den Kindern und Jugendlichen her zu entwickeln.
Ein Lernen ohne Noten unterstützt solche Lernprozesse, vorausgesetzt die Leistungsrückmeldung setzt auf Dialog, auf Orientierung und Stärkung.
Lernziel Friedensfähigkeit
Laut einer aktuellen Befragung von Schülerinnen und Schülern im Auftrag der Techniker Krankenkasse (3) ist fast jedes sechste Schulkind in Deutschland von Mobbing betroffen. Gemeint ist damit Mobbing in einem umfassenden Sinn: Systematisches Ausgrenzen, Beleidigen oder körperliche Übergriffe gehören genauso dazu wie das Cyber-Mobbing, das zunehmend in den Fokus rückt.
Sich wohlfühlen, Anerkennung erfahren ist Voraussetzung dafür, dass die für das Zusammenleben wichtigen sozialen Regeln erlernt werden können und die „Friedenskompetenz“ (Bauer) erworben wird. Impulskontrolle haben, sich zurücknehmen, warten können, empathisch sein oder Dinge miteinander teilen können, dies muss erlernt werden, genauso wie der Umgang mit eigener und fremder Aggression.
Für die noch junge Wissenschaft der Neurobiologie handelt es sich bei der Aggression um ein reaktives Verhaltensprogramm (Bauer (2), S. 34), sozusagen die „Rückseite der Medaille“ des Motivationssystems. Um zu erreichen, dass Kinder und Jugendliche zu einer Impulskontrolle kommen und ihre „Selbststeuerungsfähigkeit“ gestärkt wird, braucht es „Aggressions-Flüsterer“, „also Personen, die herauszufinden und in der Lage sind, was die unverständlich gewordene Aggression eines Menschen „eigentlich“ sagen will, was ihr eigentliches „Thema“ ist. Dies können Sozialarbeiter, Erzieher, Lehrer oder Psychotherapeuten sein.“ (Bauer (2), S. 80)
Gerade deshalb ist es so wichtig, dass in der Schule als guter Ort multiprofessionelle Teams zusammenarbeiten. Für die Intervention und die Prävention braucht es schulinterne Absprachen und Konzepte in und zwischen den Teams, damit verlässliche Lern- und Erfahrungsräume für die Konfliktbearbeitung entstehen.
„Out of the box“ denken
Dagegen stehen oft schulstrukturelle Bedingungen und formale Vorgaben, die nicht nur kontraproduktiv, sondern auch schädlich für unser Motivationssystem sind. Ein Schulwesen, das auf Sortieren und Aussondern setzt, nimmt strukturell die Demütigung in Kauf. Stoff- und Zeitdruck lassen sich von den Schulen durch geschickte Arrangements vermindern, aber die administrativen Vorgaben erfordern Kreativität und Widerstandsgeist. Die Schule vom Kinde her zu denken, dazu kann immer wieder nur ermutigt werden.
Anmerkung 1: Dopamin (Botenstoff für psychische Energie), Opioide (Wohlfühlbotenstoffe), Oxytozin (ein Vertrauens- und Kooperationsbereitschaft förderndes Hormon)
Quellen:
- Bauer, Joachim (2007): Lob der Schule, München
- Bauer, Joachim (2011): Schmerzgrenze – Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt, München
- Techniker Krankenkasse, https://www.tk.de/presse/themen/praevention/gesund-leben/gemeinsam-klasse-sein-hamburg-2169042?tkcm=aaus
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2
B. Klopsch, A. Deckstein: Das lernende Schulsystem
Wohlbefinden in der Schule ist mehr als ein „nice to have“, vielmehr unerlässlich für Lernprozesse.
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Wohlfühlort Schule – nur ein „nice to have“?
Britta Klopsch & Antonia Deckstein
Einleitung
Wohlbefinden an Schulen fördern – das mag zunächst vielmehr nach einer unverbindlichen Option als nach einer Notwendigkeit klingen. Nach dem Sprichwort: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ könnte man hinsichtlich der allseits bekannten PISA-Ergebnisse von 2022 gar empörte Blicke ernten, schließlich erfordern die Umstände Handlungsbedarf hinsichtlich eines stärkeren Wissens- und Kompetenzerwerbs. Stellschrauben wie flexiblere Förderstrukturen, Investitionen in Lehrkräftefortbildungen, datengestützte Schulentwicklung, Einbindung von KI, Ko-Konstruktion und vor allem auch Maßnahmen zur Chancengerechtigkeit sind unumstritten wichtige und notwendige Aspekte, um zeitgemäße Bildung zu ermöglichen.
Doch auch „[d]ie Gesundheit und das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen [sind] globale Priorität“ (OECD, 2019, S. 77). Sie können Einfluss auf Lernprozesse nehmen (Sliwka & Klopsch, 2024) und sollten deshalb aktiv gefördert werden (Europäische Union, 2024, S. 9; OECD, 2019, S. 30; S. 51).
Wohlbefinden in der Schule
Nicht nur international (Andresen & Neumann, 2018; OECD, 2017; UNICEF, 2021) gewinnt Wohlbefinden (Wellbeing) als Teil des schulischen Bildungsauftrags zunehmend an Bedeutung. Auch deutsche Bundesländer beginnen Wohlbefinden als eines der Ziele ihrer Schulsysteme zu fokussieren (Kultusministerium SH, 2025). Wohlbefinden rückt damit in Verbindung mit der Persönlichkeitsentwicklung neben der Chancengerechtigkeit und der Leistungsorientierung als eine tragende Säule eines erfolgreichen Schulsystems in den Mittelpunkt der Schul(system)entwicklung (Sliwka & Klopsch, 2024).
Das komplexe normative Konzept des Wohlbefindens ist dabei Bildungsziel und Gestaltungselement zugleich (Sliwka, Klopsch & Batarilo-Henschen, 2022). Als Gestaltungselement beschreibt es, dass Kinder und Jugendliche möglichst unbelastet, angstfrei und ohne psychische Beeinträchtigung lernen können. Als Bildungsziel unterstützt es die Lernenden, sich die Kompetenz anzueignen, sinnstiftend zu handeln, ihr eigenes Wohlbefinden und das ihrer Mitmenschen aktiv zu gestalten (Hargreaves & Shirley, 2018).
Wohlbefinden trägt dazu bei, dass alle Lernenden ihr Potenzial voll ausschöpfen können – in kognitiver, emotionaler und sozialer Hinsicht (European Commission, 2024). Wie wichtig es ist, Wohlbefinden aktiv zu berücksichtigen, zeigen die Umfragen des Schulbarometers (Robert Bosch Stiftung, 2024a; Robert Bosch Stiftung, 2024b) sowie des Präventionsradars (Hansen, Neumann & Hanewinkel, 2023):
- 20% der Schüler:innen schätzen ihr schulisches Wohlbefinden als gering ein, darunter besonders Lernende, die psychische Auffälligkeiten zeigen.
- 46% der befragten Kinder und Jugendlichen litten mindestens wöchentlich an zwei von fünf (psycho-) somatischen Beschwerden. Besonders ein niedriger Sozialstatus ist dabei korrelierend. Zudem betreffen die Beschwerden zu einem größeren Anteil Mädchen.
- Über die Hälfte befragter Schüler:innen litten im Erhebungsjahr 2023/2024 mindestens einmal pro Woche an Erschöpfung.
- Das mentale Wohlergehen von Mädchen ist nahezu ausnahmslos geringer als das der Jungen; weitere signifikante Gruppen sind Schüler:innen aus armutsgefährdeten Haushalten und psychisch auffällige Kinder und Jugendliche.
Wie kann Schule zu einem Ort des Wohlfühlens werden?
Um Schulen zu einem Ort des Wohlfühlens zu transformieren, ist zunächst eine systemische Betrachtung notwendig. Sie beginnt mit der gemeinsamen Vision aller am Schulleben Beteiligten, gemeinsam einen Wohlfühlort Schule entstehen zu lassen, in dem alle Schüler:innen ihr volles Potenzial ausschöpfen können.
Die Maßnahmen, die gemeinsam ergriffen werden können, um einen solchen Wohlfühlort Realität werden zu lassen, können sich auf die folgenden acht Perspektiven beziehen. Sie können nicht nur als zusätzliche Angebote, sondern auch als genuiner Teil des Unterrichts angelegt sein.
1. Psychische Gesundheit
Um die psychische Gesundheit der Lernenden im Blick zu behalten, kann es sinnvoll sein, sich mit der Resilienz der Lernenden auseinanderzusetzen. Resilienz beschreibt Flexibilitätskompetenz. Sie trägt dazu bei, auch in schwierigen (Lebens-)Situationen auf eigene Ressourcen zuzugreifen, Herausforderungen zu meistern und daraus gestärkt hervorzugehen (Bengel & Lyssenko, 2012). Teil dessen ist eine schöpferische Haltung zur Welt, die dazu beiträgt, unterschiedliche Situationen als Lerngelegenheiten wahrzunehmen, neue Handlungsweisen und Methoden zu erproben und Veränderungen für die Gesellschaft herbeizuführen (Klopsch & Adams, 2024).
2. Sport- und Bewegungsangebote
Spiel, Sport und Bewegung leisten einen hohen Beitrag zur physischen, psychischen und sozialen Gesundheit von Lernenden: Schüler:innen, die sportlich aktiv sind, benennen eine allgemein höhere Lebenszufriedenheit (OECD, 2017, S. 5). Je mehr Sport die Lernenden bereits in der Schule ausüben, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie dies auch in ihre Freizeit übertragen. Das wiederum wirkt nicht nur langfristig gesundheitsfördernd, sondern trägt unter anderem auch zur Resilienz, zur sozialen Integration, zum Selbstvertrauen sowie zum Wohlbefinden der Lernenden bei und kann sogar die Angst vor Schularbeiten vermindern (DSLV, 2019, S. 2f.; OECD, 2017, S. 3; S. 5). Gerade in Hinblick auf Ganztagsschulen oder auch dem Ausbau von Digitalisierungsprozessen wirken vielschichtige Bewegungsangebote dem zunehmenden Bewegungsmangel entgegen. Eine „bewegungsfördernde Schule“ (Kultusministerkonferenz, 2023) legt die physische Gesundheit ihrer Schüler:innen nicht allein in die Hände des Sportunterrichts: bewegte Pausen, AGs, Exkursionen, Veranstaltungen, spielerische Wettbewerbe und Kooperationen mit Vereinen sind in den Schulprogrammen und Leitbildern fest verankert (Kultusministerkonferenz 2023).
3. Positives Schulklima
Das Schulklima, wie auch die Schulkultur, beschreibt das gemeinsame (Er-)Leben von Schule durch alle Beteiligten. Es unterstützt die „kontinuierliche individuelle und kollektive Identitätsbildung“ (Klopsch, 2019). Um das Schulklima positiv zu beeinflussen, eignen sich beispielsweise Anti-Mobbing-Strategien und soziale Projekte, die den Lernenden einerseits ein Gemeinschaftsgefühl vermitteln. Andererseits ermöglichen sie den Lernenden, Facetten ihrer individuellen Persönlichkeit, bspw. Interessen, Wünsche und Handlungen in den Lernprozess einzubringen – gemeinsam mit anderen und in Abgrenzung zu ihnen. Dabei finden sie heraus, wer sie sind und welchen Beitrag sie in der Gesellschaft und für diese leisten möchten (Klopsch & Adams, 2024).
4. Lernförderliche Raumkonzepte
Die Nutzung eines Schulgebäudes ist in der Regel auf viele Jahrzehnte und Generationen von Lernenden ausgelegt, doch die Anforderungen an zeitgemäße Bildung wandeln sich rasch. Um einen lebensweltnahen und facettenreichen Lern- und Erfahrungsraum zu erschaffen, müssen Schulen sich physisch und digital nach außen hin öffnen (Sliwka & Klopsch, 2022, S. 174f.). Kommunikation, Kollaboration, Kreativität, kritisches Denken (4K), der Erwerb von Handlungskompetenz, nicht zuletzt hybride und auch bewegungsfördernde Konzepte erfordern Raumstrukturen, die diese Aktivitäten nicht nur zulassen, sondern die Schüler:innen auch aktiv dazu anregen. Dabei muss nicht gleich die ganze Schule um- oder neugebaut werden. Bereits kleinere Maßnahmen, wie Phasen der freien Arbeitsplatzwahl, offene Lernlandschaften im Klassenzimmer, flexible Anpassung des beweglichen Inventars oder das Ausschöpfen außerschulischer Lernorte können große Wirkung erzielen.
5. Eltern- und Gemeindeeinbindung
In der Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften, Lernenden, Eltern und Bildungspartner:innen können Netzwerke entstehen, innerhalb derer und durch die die Beteiligten ihr Wissen erweitern, sich gegenseitig unterstützen und Lösungen für Herausforderungen entwickeln (Sliwka & Klopsch, 2024). Doch nicht nur bei Herausforderungen, auch im alltäglichen Miteinander können alle Beteiligten das Schulleben gemeinsam anreichern, um einen gemeinsamen Wohlfühlort entstehen zu lassen. Dazu zählen auch Facetten wie Eltern-Lehrkräfte-Tandems zur Unterstützung des Lernens, gemeinsame Workshops für die am Schulleben Beteiligten, eine Schüler:innenzeitschrift oder die gemeinsame Gestaltung der Homepage.
6. Regelmäßige Befragungen
Wenn Schulen den Bereich des Wohlbefindens in ihre regelmäßigen Befragungen und Datenerhebungen einbeziehen, ermöglicht dies einen detaillierten Blick auf das Wohlbefinden aller am Schulleben Beteiligten – vom (pädagogischen) Personal bis hin zu den einzelnen Lernenden (Sliwka & Klopsch, 2024). Die zentral erfassten Daten können schriftlich oder mündlich erhoben werden. Sie dienen als Gesprächsgrundlage, um gemeinsam mögliche Verbesserungen an der Schule zu entwickeln und messbar in ihrer Implementierung zu evaluieren.
7. Sozial-emotionale Förderung
Sozial-emotionale Förderung kann durch die Stärkung der Selbstwirksamkeitserfahrung erfolgen, wie sie bspw. in Deeper Learning Projekten angelegt ist (Sliwka & Klopsch, 2022). Die Selbstwirksamkeitserfahrung ist einer der wichtigsten Einflussfaktoren auf das menschliche Handeln: „Motivation, Gefühle und [Lern-]Handlungen von Menschen resultieren in stärkerem Maße daraus, woran sie glauben oder wovon sie überzeugt sind, und weniger daraus, was objektiv der Fall ist“ (Bandura 1977, S. 71). Je größer die Überzeugung ist, desto größer auch die Zuversicht, Ziele selbst erreichen und Situationen lenken zu können, was wiederum positiv auf die Anstrengungsbereitschaft der jeweiligen Person einzahlt.
8. Demokratische Kompetenzen
Demokratie entsteht durch Partizipation. In Schulen kann diese durch Strukturen, wie den Klassenrat oder die Schülerverwaltung angelegt sein, zeigt sich aber auch in weiteren Projekten und Programmen, wie bspw. das Lernen durch Engagement, bei dem sich die Lernenden explizit im Bewusstsein ihrer eigenen Talente einbringen können, selbst Teilschritte im Projekt entwickeln und durchführen (Klopsch & Sliwka 2019, S. 93).
Fazit
Die Förderung von Wohlbefinden an Schulen ist kein optionaler Zusatz oder eine Kür. Sie ist ein notwendiges Puzzlestück der ganzheitlichen, zukunftsfähigen Schul(system)entwicklung und gleichzeitig Schlüssel zum Lern- und Lebenserfolg der Schüler:innen. Die einzelnen Perspektiven im schulischen Alltag, die Wohlbefinden unterstützen, sollten dabei nicht isoliert und punktuell eingesetzt werden, sondern systemisch verstanden und ineinandergreifend implementiert werden, um umfassend wirksam zu sein. Nur wenn alle gemeinsam an einem Wohlfühlort Schule arbeiten – Lehrkräfte, Schulleitungen, Bildungspartner:innen und die Lernenden selbst – kann sich aus einer Vision die gelebte Realität entwickeln.
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2
A. Mansour: Interkulturalität an deutschen Schulen
Den Menschen zu sehen und nicht die Herkunft, gemeinsame Werte zu vertreten und vorzuleben sind die Herausforderungen.
hier lesen
Interkulturalität an deutschen Schulen
Zwischen großer Chance und echter Herausforderung
Ahmad Mansour
Deutsche Schulen sind längst zu Orten gelebter kultureller Vielfalt geworden. In den Klassenzimmern begegnen sich täglich Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Biografien, Sprachen, Wertesystemen und religiösen Prägungen. Diese Diversität birgt enormes Potenzial – sie stellt aber auch komplexe Anforderungen an das gesamte Bildungssystem.
Integration darf nicht ausschließlich auf Sprachförderung und schulischen Erfolg reduziert werden. Sie umfasst ebenso die Verinnerlichung gemeinsamer Grundwerte und die Entwicklung eines inklusiven Wir-Gefühls. Erst wenn Zugehörigkeit emotional erfahrbar wird, kann gesellschaftlicher Zusammenhalt entstehen.
Integration ist kein Selbstläufer. Die Voraussetzung für eine gelungene Integration ist die Bereitstellung von Ressourcen, die Sprachförderung, Wertevermittlung, eine sinnvolle Durchmischung an den Schulen, einen regelmäßigen Austausch mit Eltern und Kindern und eine gesunde Debattenkultur ermöglichen.
Den Menschen sehen – nicht die Herkunft
Lehrkräfte müssen ihre Schülerinnen und Schüler als Individuen wahrnehmen – nicht als Vertreter einer ethnischen, religiösen oder nationalen Gruppe. Im Klassenzimmer sitzen keine „Türken“, „Araber“, „Flüchtlinge“ oder „Ausländer“, sondern junge Menschen mit eigenen Persönlichkeiten, Erfahrungen und Träumen.
Natürlich prägen Herkunft, Sozialisation und kulturelles Umfeld das Denken und Verhalten – aber sie dürfen nicht zur Schablone werden. Interkulturelle Kompetenz beginnt mit der Bereitschaft, differenziert hinzuschauen, zuzuhören und Vorurteile bewusst abzubauen.
Werte als verbindende Grundlage
Interkulturelle Öffnung gelingt nur auf der Basis klarer, universeller Werte: Respekt, Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit und die Achtung der Würde jedes Einzelnen sind nicht verhandelbar. Diese Werte müssen von allen getragen werden – unabhängig von kultureller Prägung. Ohne sie kann Vielfalt nicht tragfähig gelebt werden.
Begegnung ermöglicht Wandel
Aus sozialpsychologischer Sicht ist klar: Der effektivste Weg, Vorurteile abzubauen, ist die echte, kontinuierliche Begegnung. Wenn Menschen gemeinsam lernen, arbeiten und lachen, schwindet die Distanz – der „Fremde“ wird zur Mitschülerin, zum Freund, zur Verbündeten.
Schulen brauchen deshalb bewusst gestaltete Räume, in denen Unterschiede nicht verschwiegen, sondern in einem Klima des Respekts thematisiert werden können. Interkulturalität lebt vom Dialog, nicht vom Nebeneinander.
Empathie fördern – emotionale Kompetenz als Bildungsziel
In einer Zeit, in der digitale Kommunikation direkte zwischenmenschliche Erfahrungen zunehmend ersetzt, gewinnt Empathie als Bildungsziel zentrale Bedeutung. Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, aktiv zuzuhören und mitzufühlen, ist ein Grundpfeiler demokratischer Gesellschaften.
Schulen müssen Orte sein, an denen emotionale Sicherheit erlebt werden kann – denn Empathie ist der Schlüssel zu sozialer Kompetenz, Konfliktfähigkeit und Frieden in der Vielfalt.
Sicherheit durch Klarheit – nicht durch Kontrolle
Viele Konflikte im interkulturellen Kontext entstehen nicht nur aus mangelnder Bereitschaft, kulturelle Unterschiede zu akzeptieren oder ihnen mit Neugier und Lernbereitschaft zu begegnen. Sie entstehen auch durch wahrgenommene Unsicherheit auf Seiten der Lehrkräfte. Wer zögert oder unklar kommuniziert, wirkt orientierungslos – und verliert damit Autorität und Wirksamkeit.
Diese Unsicherheit bleibt nicht folgenlos: Sie wird mitunter gezielt genutzt, um im schulischen Kontext Normen und Verhaltensweisen durchzusetzen, die nicht zur interkulturellen Offenheit und Vielfalt beitragen, sondern darauf abzielen, die Bedürfnisse einzelner Gruppen mit einem überhöhten Anspruchsdenken allen anderen aufzuzwingen. Hier ist Wachsamkeit gefragt – nicht im Sinne von Kontrolle, sondern im Sinne von pädagogischer Klarheit und wertebasierter Führung.
Lehrkräfte müssen befähigt werden, mit kulturellen Unterschieden souverän umzugehen – nicht, indem sie Unterschiede relativieren, sondern indem sie ihre eigene Haltung kennen und kommunizieren. Interkulturelle Kompetenz bedeutet: klare Regeln, transparente Kommunikation und der Mut, auch bei sensiblen Themen Standpunkte zu vertreten – stets mit Respekt, aber ohne Beliebigkeit.
Debattenkultur als demokratisches Lernfeld
Ein zentrales Bildungsziel im 21. Jahrhundert ist die Fähigkeit zur Ambiguitätstoleranz – also zur Akzeptanz von Mehrdeutigkeit, Vielfalt und Widerspruch. Diese Kompetenz entsteht nicht durch Harmonie, sondern durch Streitkultur.
Schulen müssen Debattenräume sein: Orte, an denen Meinungen formuliert, Perspektiven ausgehalten und Konflikte konstruktiv ausgetragen werden können. Nur so lernen junge Menschen, Vielfalt als Stärke zu begreifen – nicht als Bedrohung.
Antidiskriminierung, Vielfalt und interkulturelles Verständnis entstehen nicht durch schweigendes Nebeneinander, sondern durch aktives Miteinander: durch das Aushalten von Differenzen, das Aushandeln von Kompromissen – und durch gemeinsame, tragfähige Werte.
Fazit: Interkulturelle Kompetenz braucht Haltung und Herz
Interkulturelle Kompetenz ist kein dekoratives Extra. Sie ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass unsere Schulen zu Orten des sozialen Zusammenhalts werden.
Sie verlangt von allen Beteiligten – Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern, Eltern, Behörden und politischen Entscheidungsträgern – eine klare Haltung und echtes Engagement.
Zentrale Voraussetzungen hierfür sind:
- Den Menschen zu sehen, nicht die Herkunft,
- gemeinsame Werte zu vertreten und vorzuleben,
- Räume für echte Begegnung und Dialog zu schaffen,
- Verunsicherung durch innere Klarheit zu überwinden,
- Empathie und Debattenkultur als Grundlagen demokratischen Zusammenlebens zu fördern.
Wenn wir diesen Weg mutig und konsequent gehen, wird kulturelle Vielfalt nicht zu einer Belastung, sondern zur Stärke unserer Gesellschaft. Dann wächst in unseren Schulen eine Generation heran, die selbstbewusst, kritisch, empathisch und frei in einer pluralistischen Welt lebt.
Daran müssen wir arbeiten – jeden Tag, mit Haltung und mit Herz.
Hinweis auf Publikationen von Ahmad Mansour
2015 erschien sein Buch »Generation Allah". Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen«,
2018 folgte »Klartext zur Integration – Gegen falsche Toleranz und Panikmache« und
2020 »Solidarisch Sein! Gegen Rassismus, Antisemitismus und Hass«.
2022 erschien im Verlag S. Fischer sein viertes Buch »Operation Allah" und
2024 die gemeinsam mit Dr. Josef Schuster verfasste Publikation
»Spannungsfelder. Leben in Deutschland« im Herder Verlag.
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2
S. Ruppaner: Die Schule wieder zur Schule machen!
Schule ohne Unterricht, ohne Wände, ohne 45 Minutentakt – das sollte Schule machen!
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Die Schule wieder zur Schule machen!
Ein Gespräch mit Stefan Ruppaner, dem ehemaligen Schulleiter der Alemannenschule in Wutöschingen
Ursula Reinartz und Konstanze Schneider
Schule, scholé aus dem Griechischen nach Aristoteles, bedeutet ursprünglich Muße, freie Zeit, ein Ort der Arbeitsruhe und frei von Geschäften – wie weit entfernt ist die heutige, unsere Schule von dieser Beschreibung und wie können wir sie wieder zu einem solchen Ort werden lassen!? Darum geht es in diesem Gespräch.
Was sind aus Ihrer Sicht notwendige Elemente einer Schule als ‚guter Ort‘?
Unsere heutige Schule verdient nicht mehr die Bezeichnung ‚Schule‘. Sie hat die ursprüngliche Bedeutung des Wortes verloren als ‚Ort der Muße, der Befreiung, sein Ding leben, sein Glück finden‘. Viele Probleme, die die Schule heute hat, produziert sie selbst. Wenn ich Kinder zwinge, in einem Raum zu sitzen und sich irgendetwas anzuhören, was irgendeiner sich für einen Lehrplan überlegt hat und das für die Kinder keinerlei Relevanz hat, dann ist das eine gedankliche Vergewaltigung. Das wird viele Stunden hintereinander so gemacht. Am Ende sollen dabei selbstständig denkende Menschen die Schule verlassen – das kann nicht funktionieren. Man muss sich fragen, ob dieses System noch Sinn macht.
Drei Dinge braucht das Lernen: Raum, Zeit und Expertise. Dann kann Schule ein guter Ort sein.
Es braucht viele unterschiedliche Räume: z.B. Lernateliers für das selbstständige Lernen, Inputräume für die Information, den Marktplatz für die Begegnung.
Zeit zum Lernen gewinnen wir durch die Abschaffung des Unterrichts. So kann Lernen in wechselnden Konstellationen und zur Muße, Lernen im eigenen Tempo stattfinden.
Die Expertise erstreckt sich heute vom Buch, über Erklärfilme zur KI, zu Angeboten für Herz, Kopf und Hand in unseren Clubs am Nachmittag und zu den Lernbegleitern, die die Lernumgebung bereit stellen.
Wie kann eine erfolgreiche Transformation von Lernen in Schule gelingen?
Wir brauchen also eine Transformation von Schule vom Ort des Lehrens zum Ort des Lernens.
Jeder Lernende muss in seinem eigenen Tempo lernen können und sich im Rahmen der Möglichkeiten aussuchen können, was er lernen will. Dafür muss Schule anders eingerichtet sein: ein Sofa, ein schöner Tisch, eine gemütliche Ecke mit Pflanzen, ein Ort, an dem man leise lernen kann, ein Ort, an dem man mit jemandem diskutieren kann.
Das brauchen wir nicht mehr:
- Unterricht – er nimmt den Kindern die Zeit fürs Lernen.
- Schulbücher – sie sind des Teufels, weil wir als Lehrer immer wieder versuchen, damit die Kinder auf den gleichen Punkt zu bringen und ein unterschiedliches Lerntempo zu verhindern.
- Deputate – sie Lehrern zu geben, ist schlecht.
An unserer Schule haben wir 35 Zeitstunden, in denen der Lehrer da ist, aber nur noch 12 statt 27 Deputatsstunden „unterrichten“ muss. Die Kinder haben Zeit zum Lernen und der Lehrer braucht diese Zeit, um eine Lerngruppe zu leiten und jedes Kind eine Viertelstunde zu coachen. Wir können 15 Ermäßigungsstunden geben, weil wir keinen Unterricht machen.
Jeder Lehrer hat seinen Arbeitsplatz zwischen den Schülerarbeitsplätzen, an dem es ganz ruhig ist, wo er in Ruhe arbeiten und korrigieren kann.
Die Transformation der Schule vom Ort des Lehrens zum Ort des Lernens – sie scheitert nicht an den Kindern, sondern an den Mauern in den Köpfen von Eltern und Lehrern.
Wie verändert sich die Haltung des Lehrers beim neuen Lernen?
Lehrer sind nicht verantwortlich dafür, dass ein Schüler etwas lernt, sondern verantwortlich dafür, dass er etwas lernen kann. Lehrkräfte müssen den Schülern keinen Druck machen.
Ich vergleiche immer das Lernen mit dem Essen. Wir als Lernbegleiter stellen optimale Rahmenbedingungen her: Wir sind super Köche und bereiten das Buffet so her, dass du Lust kriegst, etwas zu essen. Wir wollen, dass die Schüler Freude am Essen haben, dass es ihnen schmeckt. Aber, wenn jemand gar nicht essen will, stopfen wir es ihm nicht hinein.
Was raten Sie Kollegen und Kolleginnen, die ihre Schule verändern und zum „guten Ort“ machen wollen?
Wenn ein Kind jeden Morgen gerne in die Schule geht, kann ich nicht verhindern, dass es lernen wird. Um das zu erreichen, muss die grundsätzliche Atmosphäre stimmen. Wir Lehrer müssen uns als Gastgeber sehen. Ich habe in meiner früheren Schule damit begonnen, die Kinder und Jugendlichen mit Handschlag zu begrüßen. Sie sollen sich willkommen und wahrgenommen fühlen. Das war eine kleine Geste mit überraschender Wirkung. Die Schüler nehmen wahr, dass es auf sie ankommt, dass sie willkommen sind und selbstwirksam werden können.
Mit Strafen und Ausgrenzen kommt man nicht weiter, wir müssen die Gründe finden, warum sie nicht lernen können oder sich provokativ verhalten. Inzwischen ist es in der Alemannenschule so, dass die größte Strafe ist, nicht in die Schule kommen zu dürfen. Die Schule muss ein Gestaltungsraum sein, in dem die Kinder gestalten können und ihre Wirksamkeit erfahren. Wenn wir Lehrer weniger Gewalt ausüben z.B. durch Bewerten und Noten, dann entsteht auch bei den Schülern weniger Gewalt. Das ist meine Erfahrung.
Mein wichtigster Rat: Sei mutig, probiere aus, mache Fehler, dann gelingt dir viel Gutes!
Hinweis: Im Magazin 2024/3 „Schule kann anders“ auf S.39 ff. finden Sie einen ausführlichen Bericht zum Konzept der Alemannenschule in Wutöschingen.
Weitere Informationen:
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2
Amelie: Abfragen abschaffen!
Von einer Schülerin mit Zivilcourage, die nicht nur Markus Söder herausforde
hier lesen
„Abfragen abschaffen!“
Warum ich mich als Schülerin für eine neue Prüfungskultur einsetze
Amelie
Als ich im Juni 2024 meine Petition „Schluss mit Abfragen und Exen!“ gestartet habe, hätte ich nie gedacht, welche Wellen sie schlagen würde. Inzwischen haben über 55.000 Menschen unterschrieben, wir haben eine beeindruckende Demo auf die Beine gestellt und die Petition feierlich im Bayerischen Landtag übergeben. Doch für mich war das alles mehr als ein Projekt. Es war der Beginn einer Bewegung – und für mich persönlich der Moment, in dem ich entschieden habe, Bildungsaktivistin zu sein.
Warum ich Exen und Abfragen abschaffen will
Seit Beginn meiner Schulzeit begleiten mich unangekündigte Leistungsnachweise. Immer wieder gab es diese Momente, in denen es hieß: „Hefte weg, wir schreiben eine Ex.“ Ich erinnere mich noch gut an das Gefühl – die plötzliche Anspannung, die Angst, das Herzklopfen. Manche Mitschüler:innen weinten, andere verstummten. Lange dachte ich, ich bin einfach selbst Schuld – bis ich begriff: Dieses System bringt nicht das Beste in uns zum Vorschein, sondern lähmt uns.
Statt unsere Fähigkeiten zu fördern, prüft es, ob wir in einem bestimmten Moment „erwischt“ werden, wenn wir etwas (noch) nicht können.
Ich wünsche mir eine Schule, die auf Vertrauen setzt – nicht auf Kontrolle. Eine Schule, die uns mit ehrlichem, konstruktivem Feedback stärkt und uns Mut macht. Exen und mündliche Abfragen, wie sie aktuell praktiziert werden, stehen dem entgegen. Deshalb war für mich klar, dass sich etwas ändern muss. Und ich wusste: Dafür braucht es eine bayernweite Öffentlichkeit.
Die Demo: laut, bunt und entschlossen
Die Wochen vor dem 6. April 2025 waren intensiv: Plakate gestalten, Bühnenprogramm planen, Redner:innen koordinieren, Interviews geben. Unser Organisationsteam war rund um die Uhr im Einsatz. Und dann stand ich da, auf dem Wittelsbacher Platz in München, vor über 500 Menschen, bei strahlendem Sonnenschein. Es war ein überwältigender Moment. Wir waren laut, bunt, entschlossen – und voller Energie.
Diese Demo war weit mehr als ein Protest gegen Exen. Es war ein deutliches Signal für eine andere Bildung: mit Musik, Poetry, klaren Worten – und auch Humor. Besonders eindrucksvoll war der Auftritt von „Markus Söder“ – alias Kabarettist Ecco Meineke –, der sich live auf der Bühne abfragen ließ. So charmant und gleichzeitig pointiert wurde selten Kritik an der bayerischen Bildungspolitik geübt.
Die Übergabe im Landtag: mit Haltung und Hoffnung
Nur zwei Tage nach der Demo haben wir – eine Gruppe von 14 Schüler:innen – die Petition offiziell an Dr. Ute Eiling-Hüting, die Vorsitzende des Bildungsausschusses, übergeben. Die Medien waren vor Ort, Kameras und Mikrofone auf uns gerichtet. Und wir – mitten im Geschehen, nicht als Zuschauer:innen, sondern als aktive Gestalter:innen.
Wir sind davon überzeugt: Viel zu lange wurde Bildungspolitik ohne uns Schüler*innen gemacht – diese Zeiten sind jetzt endgültig vorbei!
Die Petition liegt nun im Ausschuss – und wir warten gespannt auf die nächste Sitzung. Aber egal, wie es dort ausgeht: Für uns war das erst der Anfang. Direkt nach der Demo kamen über 40 Schüler:innen zum ersten „Wie weiter?“-Treffen. Das motiviert uns und zeigt, dass es weiter geht.
Schule darf kein Ort der Angst sein. Und wir lassen uns nicht mehr einreden, dass es „schon immer so war“. Denn wir wissen: Schule kann anders sein. Schule muss anders sein.
Die Petition war nur der erste Schritt. Und es war ein deutliches Zeichen: Schüler:innen lassen sich nicht länger übergehen. Wir fordern Veränderung – mit Fakten, mit Weitblick und mit ganz viel Herz.
Weitere Informationen:
https://abfragen-abschaffen.de/
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2
H. Rademacher: Eine gute Schule ist eine demokratische Schule
Selbstwirksamkeit, Verantwortungsübernahme, Beteiligung – Elemente einer guten Schule
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Eine gute Schule ist eine demokratische Schule
Helmolt Rademacher
Was ist eine gute Schule? Diese Frage lässt sich sicher auf verschiedene Weise beantworten – je nachdem welche Kriterien angelegt werden. Eine gute Schule sollte auf jeden Fall eine sein, in der mit Freude gelernt wird und es entsprechende Bedingungen gibt, um dies zu gewährleisten. Die offene Schule Waldau bei Kassel hat dazu folgende Schlagworte in den Vordergrund gestellt: friedlich, freundlich, langsam, leise. Diese Begriffe wirken zunächst sehr banal, aber bei genauerer Betrachtung bilden sie den Kern einer guten Schule. „Friedlich“ bedeutet, dass es keine Diskriminierung gibt, keine Ausgrenzung, keinen Rassismus und Antisemitismus, kein Mobbing, keine Gewalt, d.h. auch, dass es dort leiser und freundlicher zugeht. Konflikte werden konstruktiv unter Mitwirkung aller Beteiligten ausgetragen und nicht von oben geregelt. Hier kommt ein Element eines demokratischen Miteinanders ins Spiel: die Mediation.
Mediation als konstruktive Konfliktbearbeitung
Die Mediation ist ein Verfahren konstruktiver Konfliktbearbeitung, bei der eine Vermittlerperson aktiv wird und unter der Maßgabe von Allparteilichkeit und Lösungsabstinenz agiert. Dieses Verfahren der Entschleunigung bedeutet sich entsprechend Zeit zu nehmen, langsam zu sein. Das hört sich sehr einfach an, setzt allerdings eine Schulkultur voraus, die über Jahre entwickelt und immer wieder neu justiert werden muss. Denn das Verfahren der Mediation, bei dem geschulte Schülerinnen und Schüler die Vermittlerrolle übernehmen, ist zwar seit Mitte der 90er Jahre in hessischen Schulen verbreitet, hat aber immer wieder damit zu kämpfen, dass es insbesondere von Lehrkräften aber auch der Schülerschaft akzeptiert wird und aktiv beworben werden muss. Ca. 30 Jahre nach seiner Einführung und einer Boomphase Ende der 90er und Anfang der Nullerjahre kamen und kommen zwar immer wieder neue Schulen hinzu, die Schülerinnen und Schüler in Mediation schulen. Aber in der Umsetzung dieses Ansatzes im Alltag hapert es. Es liegt vor allen Dingen daran, dass das Angebot kaum oder selten in Anspruch genommen wird. Mein Eindruck ist, dass praktizierte Mediation eher ab- als zunimmt zumindest aber stagniert.
Beteiligung als Schlüssel zu gutem Schulklima
Neben der Mediation gibt es noch andere Programme, die für ein gutes Schulklima sorgen und damit gute Voraussetzungen für eine demokratischen Schule bilden. Hierzu zählen Programme zum sozialen Lernen (z. B. bei Einführungswochen aller 5. Klassen), Mobbing-Interventionsteams (MIT) und Programme gegen sexuelle Gewalt. Neben diesen präventiven und interventiven Programmen in Sachen Gewaltminderung gibt es Formate, die die Beteiligung fördern und damit explizit Demokratiepädagogik ermöglichen. Hierzu zählen u. a. der Klassenrat, das Service-Lernen, das kooperative Lernen und das Förderprogramm Demokratisch Handeln.
Beteiligung in Schule – und nicht nur dort – ist ein wesentliches Element, um mehr Zufriedenheit in der Schule und im Unterricht zu ermöglichen. Wer beteiligt wird, fühlt sich gehört und gesehen und kann sich daher stärker mit einer Sache identifizieren, d. h. besser und motivierter lernen. Nicht umsonst kommt der Partizipation bei den Kinderrechten als eine von drei Säulen eine besondere Bedeutung zu.
Wir leben in einer Zeit großer und schneller Veränderungen. Der Klimawandel, der Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten, die künstliche Intelligenz und der Einfluss sozialer Medien führen zu Verunsicherung nicht nur junger Menschen. Sie sind aber besonders davon betroffen. Das wirkt sich auch in der Schule aus. Insbesondere Cyber-Mobbing ist ein Phänomen, das sich negativ auf das Schulklima und damit auf das Lernen auswirkt. Weiter oben habe ich beschrieben, was dagegen unternommen werden kann. Entscheidend ist dabei, dass all die Programme, Beteiligungsformate und Maßnahmen kontinuierlich und möglichst in allen Klassen und durch alle Lehrkräfte in der gleichen Qualität durchgeführt werden. Das ist kein Selbstläufer. Vielmehr bedarf es ständiger Anstrengungen und damit eines demokratischen Schulentwicklungsprozess, um dieses Ziel u.a. durch Fortbildungen zu erreichen.
Demokratie lernen und leben
Von 2002–2007 gab es das Bund-Länder-Kommission-Programm „Demokratie lernen und leben“, das in Hessen den Schwerpunkt „Mediation und Partizipation“ hatte. In diesem Programm wurden in Modellschulen wichtige Erfahrungen gesammelt, wie sie oben kurz skizziert wurden.
„Aus der Erfahrung des BLK-Programms „Demokratie lernen und leben“ hat Wolfgang Edelstein drei zentrale Begriffe genannt, die von großer Bedeutung sind: Anerkennung, Selbstwirksamkeit, Verantwortungsübernahme.
Ein demokratischer Habitus lässt sich ausbilden, indem Kinder und Jugendliche für ihr Handeln Anerkennung und Wertschätzung erfahren, eine ganz wesentliche Voraussetzung in Erziehungsprozessen und damit auch im Zusammenhang mit demokratischem Lernen. Wenn ich erlebe, dass ich mit meinem Handeln wirksam bin, werde ich mich damit identifizieren können. Anerkennung und Selbstwirksamkeit erfahre ich bei der Verantwortungsübernahme, sei es für die Übernahme eines Amtes, bei der Organisation eines Projekts oder der Unterstützung anderer Menschen. Diese Verantwortungsübernahme ist ein zentraler Aspekt der systemischen Schulentwicklung, da sie die Eigenverantwortung und Mitgestaltung der Schüler*innen fördert. Wenn diese Erfahrungen in gute Lernprozesse integriert werden, ist die Wahrscheinlichkeit der Identifikation mit Demokratie relativ groß.“ (Rademacher 2021, 61/62)
Selbstwirksamkeit und Verantwortungsübernahme
Diese Gedanken korrespondieren wiederum mit dem Motto der Offenen Schule Waldau: „Beziehung vor Erziehung vor Unterricht“, d. h. die Entwicklung der Beziehung der Lehrkräfte zu ihren Schülerinnen und Schülern steht am Anfang, hat die größte Bedeutung, dann folgt der Erziehungsgedanke und danach der Unterricht. In den meisten Schulen steht aber der Unterricht im Zentrum. Daher gibt es dort auch keine systematische Beteiligung von Schülerinnen und Schülern. Sie werden nicht vor jeder Unterrichtseinheit gefragt, was sie interessiert, welches Vorwissen sie zum Thema haben, wo sie sich aktiv einbringen können und wie der Unterricht gestaltet werden könnte. Die Folge mangelnder Partizipation ist geringeres Interesse, weniger Engagement und damit im Sinne Wolfgang Edelsteins fehlende Selbstwirksamkeit und Verantwortungsübernahme.
Diese Fixierung auf den Unterricht – wobei guter Unterricht ein wichtiges Ziel ist – führt dazu, dass es zu wenig systematische Veränderungen in Schule gibt. Schulpolitisch wird der Ausfall von Unterricht beklagt, aber nicht die Qualität von Lernen und die Beziehungsgestaltung von Lehrenden und Lernenden. Diese Sicht einiger Kultusverwaltungen wie in Hessen hat dann zur Folge, dass ganztägige Fortbildungen in der Unterrichtszeit mehr oder weniger unterbunden werden, wo diese doch ein wichtiger Baustein für die Qualität von Schul- und Unterrichtsentwicklung sind. Die Bedeutung von Peer-Learning, wie es sich beispielsweise im kooperativen Lernen findet, wird meist nicht gesehen. Schulen, die ihre Konzeption stärker an individualisiertem Lernen und an hoher Beteiligung ausrichten, sind letztendlich die erfolgreicheren Schulen im Kontext des ständigen Wandels der Gesellschaft. Dies zeigt sich auch darin, dass solche Schulen durch den deutschen Schulpreis gewürdigt werden. Diese Schulen sind in der Sekundarstufe meistens Gesamtschulen.
Quelle:
Rademacher, Helmolt (2021), Konfliktkultur in der Schule entwickeln. Wie Demokratiebildung gelingt, Stuttgart
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2
E. Wölfl: Inklusive Kommunikation
Eine achtsame und inklusive Kommunikation verändert das Schulklima positiv.
hier lesen
Inklusive Kommunikation
Edith Wölfl
In diesem Artikel betrachtet Frau Dr. Wölfl die Rolle bewusster Beziehungsgestaltung und diversitätssensibler Kommunikation im Lern- und Lebensraum Schule. Der Text lädt dazu ein, Schule darüber hinaus als Sprachraum zu betrachten. Denn Sprache schafft nicht nur Wirklichkeit. Sie schafft auch Brücken zwischen Lernenden und Lehrenden, zwischen Menschen und der Institution Schule.
Inklusive Kommunikation als Ressource
Inklusive Kommunikation ist eine Frage der Aufmerksamkeit und Achtsamkeit – vor allem auch hinsichtlich der verwendeten Sprache. Der Lernerfolg von emotional und sozial beeinträchtigten Schüler*innen steht in enger Wechselwirkung zu den Beziehungen, die sie in schulischen Situationen erleben. Die bewusste Beachtung inklusiver Kommunikation verbessert ihre Lernsituation und trägt zu einem Lernklima bei, das Stress reduziert. Inklusive Sprache ist klar, zugewandt und erzeugt Resonanz in Beziehungen. Alltägliche und schulische Interaktionen werden so gestaltet, dass erneute Verletzungen oder Kränkungen vermieden werden. Gleichzeitig setzt inklusive Kommunikation Energien frei, die für Herausforderungen und Kreativität genutzt werden können. Das Lernen gelingt allen besser – und alle fühlen sich wohler. Diese Veränderung des gemeinsamen Klimas gelingt allein durch Sprache, ohne zusätzliche finanzielle Investitionen.
Schule als Sprachraum
Ein erster Schritt zur Veränderung ist die Beobachtung der im schulischen Alltag verwendeten Sprache. Diese zeigt sich in Klassenzimmern, auf Fluren, beim Sport, in Pausen, in Büros, im Lehrerzimmer, im Elternsprechzimmer und nicht zuletzt in den sozialen Medien.
Zentral ist dabei die Frage: Wodurch schafft Sprache Barrieren und erschwert Teilhabe? Wird Sprache genutzt, um Menschen herabzusetzen, zu beleidigen, zu diskriminieren, bloßzustellen, einzuschüchtern, zu beschämen oder gegeneinander auszuspielen? Solche Formen sprachlicher Kommunikation werten ab, grenzen aus und schreiben Fremdbestimmung fest. Sie bergen ein Gewaltpotential, das zu Mobbing führen kann.
Ableismus – wenn nur gesund als „normal“ gilt
Besondere Aufmerksamkeit gilt der Verwendung sogenannter ableistischer Sprache. Sie bedient sich Begriffen, die mit sichtbaren oder unsichtbaren Besonderheiten – insbesondere mit Behinderungen – assoziiert werden, um andere zu verspotten oder abzuwerten.
Solche Begriffe sind häufig so alltäglich geworden, dass sie kaum noch auffallen: „verrückt“, „autistisch“, „Trottel“, „Psycho“, „Spinner“, „Idiot“, „dumm“, „faul“ – um nur einige zu nennen. Jüngst wurde eine Politikerin kritisiert, nachdem sie einen Kollegen, der sich wenig explizit äußerte, als „autistisch“ bezeichnet hatte. Diese Form alltäglicher, scheinbar selbstverständlicher Abwertung über Sprache lässt sich als Form struktureller Gewalt verstehen.
Die Entwicklung inklusiver Kommunikation
Im Unterricht gibt es viele Gelegenheiten, auf gewaltsame Sprache aufmerksam zu machen und Alternativen zu erproben. Konkrete Interaktionen können beobachtet, gesammelt und reflektiert werden. Medien wie Literatur, Filme, Musiktexte sowie die alltägliche Kommunikation sind dafür geeignete Ausgangspunkte.
Drei Grundvereinbarungen bilden die Basis für die Entwicklung inklusiver Kommunikation:
- Unterschiede in Meinungen, Sichtweisen, Verhaltensweisen, Aussehen und Möglichkeiten werden respektiert.
- Gemeinsamkeiten werden stärker beachtet als Differenzen.
- Alle bemühen sich darum, Zugehörigkeit zu ermöglichen, statt Ausgrenzung zu verstärken.
Diese Entwicklung verläuft in einem Prozess des Bewusstwerdens. Anfangs mag der achtsame Umgang mit Sprache noch ungewohnt oder künstlich wirken, doch mit der Zeit wird inklusive Kommunikation zur Gewohnheit – und letztlich zur Kultur. Ein neues Gefühl von „wir“ entsteht, das Gemeinschaft über das Einzelinteresse stellt und soziale Verantwortung stärkt.
Gemeinsame Sprache ermöglicht gemeinsame Resonanz
Die Grundlage gelingender inklusiver Kommunikation ist die entstehende gegenseitige Resonanz. Sie fördert Selbstwirksamkeit, Sicherheit und Halt. Resonanz entsteht durch ein Kommunikationsverhalten, das folgende Aspekte berücksichtigt:
- gegenseitiger Blickkontakt
- Spiegelung von Gefühlen und Abstimmung auf das eigene Empfinden
- Ankündigung oder Kommentierung von Handlungen
- Achten auf kleine Pausen
- unwillkürliche Regulierung von Nähe und Distanz
Wird Resonanz in Interaktionen spürbar, entwickelt sich ein inneres Gefühl von Kohärenz und Zuversicht in die eigenen Fähigkeiten. Die Überzeugung, etwas bewirken und die eigene Zukunft gestalten zu können, wächst. Wird dieses resonanzfördernde Sprachverhalten bewusst eingesetzt, wird Kommunikation klarer, angenehmer und interessanter – ein zentrales Merkmal inklusiver Interaktion.
Resonanz stärkt Aufmerksamkeit und entlastet langfristig – sie ist eine der wichtigsten Quellen für Lernfreude.
Resonanzfördernde Kommunikation im Schulalltag
Gerade im Unterricht bieten sich vielfältige Möglichkeiten für eine Resonanz fördernde Kommunikation – zwischen Lehrkräften und Schüler:innen, unter Kolleg:innen und im gesamten Schulleben. Einige erprobte Ansätze sind:
- Ich-Botschaften verwenden: Sie vermeiden Schuldzuweisungen und ermöglichen respektvolle Kommunikation.
- Gemeinsame Verantwortung betonen: Lernerfolg wird als gemeinsame Aufgabe verstanden.
- Ankündigungen und Spannungsaufbau nutzen: Klare Ansagen und gezielte Neugier steigern Aufmerksamkeit.
- Ziele transparent machen: Das stärkt Selbstwirksamkeit und Zuversicht.
- Schrittweise steigern: Aufbauende Anforderungen schaffen Erfolgserlebnisse und Motivation.
- Verständlich kommunizieren: Einfache Sprache, Visualisierungen und Wiederholungen fördern das Verstehen und beugen Missverständnissen vor.
Fazit: Inklusive Sprache als Sprache der Veränderung
Inklusive Sprache eröffnet Räume zur Veränderung und entfaltet Potenziale, die durch emotionale oder soziale Barrieren blockiert waren. Sie ist kein abgeschlossener Zustand, sondern ein Prozess des Lernens, Übens und Reflektierens.
Inklusive Sprache wirkt: Sie fördert Vertrauen in sich und andere, stärkt gegenseitige Bestätigung und schafft Freude an gemeinsamer Sprache. Diese Freude unterstützt das gemeinsame Handeln – eine oft unterschätzte Voraussetzung erfolgreichen Lernens. Wertschätzende Sprache verändert Beziehungen, erleichtert friedliche Konfliktlösungen und unterstützt Leistung sowie Kreativität. Sie verändert das Klima in der Schule – nachhaltig und tiefgreifend.
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2
T. Wiegelmann: Gedanken zu einer Schule als liebenswerter Ort
Beeindruckt von Otto Herz: ein tiefbewegendes Plädoyer für Mitmenschlichkeit in der Schule
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Gedanken zu einer Schule als liebenswerter Ort
Im Gedenken an Otto Herz
Tim Wiegelmann
„In Diktaturen werden die Menschen abgerichtet, in Demokraturen werden sie unterrichtet, in wahrhaft freien und sich befreienden Gesellschaften ist Schluss mit dem Abrichten und Schluss mit dem Unterrichten; dort werden die Menschen aufgerichtet!“ (1)
Otto Herz ist für mich deshalb so ein Vorbild, weil er in meinen Augen wie niemand anderes für die Botschaft stand, dass es ohne eine humane Schule keine humane Welt geben kann und geben wird.
Was mich an ihm besonders faszinierte, ist die Tatsache, dass er neben seinem Einsatz für das große Ganze nie aufgehört hat, ein komplett anderes Schulsystem zu fordern. Dafür setze er sich am intensivsten ein. Er brachte dies auf die einfache Formel: „Sag mir, welche Schule du willst und ich sage dir, welche Gesellschaft du bekommst.“ (2)
Er zitierte in diesem Zusammenhang den zutiefst erdrückenden Text des israelischen Psychologen Haim G. Ginot mit dem Titel „Liebe Lehrer“: „Ich bin ein Überlebender eines Konzentrationslagers. Meine Augen haben gesehen, was niemand je sehen sollte. Gaskammern, gebaut von gelernten Ingenieuren. Kinder, vergiftet von ausgebildeten Ärzten. Säuglinge, getötet von geschulten Krankenschwestern. Frauen und Babys, erschossen und verbrannt von Hochschulabsolventen. Deshalb bin ich misstrauisch gegenüber Erziehung. Meine Forderung ist, dass Lehrer ihren Schülern helfen, menschlich zu werden. Ihre Anstrengungen dürfen niemals führen zu gelernten Ungeheuern, ausgebildeten Psychopathen, studierten Eichmanns. Lesen, Schreiben und Rechnen sind nur wichtig, wenn sie dazu dienen, unsere Kinder menschlicher werden zu lassen.“ (3) Einen Spruch ließ er auf eine Postkarte drucken und verteilte ihn bei jeder Gelegenheit an Pädagog*innen:
„Wir sind nicht dazu da, Menschen an vorgegebene Systeme anzupassen. Unser Beruf, unsere Berufung ist es, für die – und vor allem mit den – Menschen Systeme so zu gestalten, dass sie sich in ihnen wohlfühlen, sie als ihre eigenen erfahren und in ihnen und dank ihrer Lebens-Kompetenz und Lebens-Sinn erfahren.“ (4)
Wenn Pädagog*innen Kinder und Jugendliche unterstützen würden, die Vision eines stärkenden und sinnstiftenden Lebensumfeldes zu entwickeln und dieses gemeinsam mit allen und im Sinne aller zu gestalten, wäre eine lebenswerte Welt vielleicht nicht so fern, wie sie heute erscheint.
Es ist doch im Grunde ganz einfach: Um liebevoll mit dieser Welt, mit anderen Menschen, mit der Vielfalt des Lebendigen umzugehen, muss ich sie zuerst als liebenswert erleben. Und was für ein Ort könnte sich besser eignen, um die Welt als liebenswert zu erleben, als der Ort, mit dem alle Kinder in der prägendsten Phase ihres Lebens in Berührung kommen?
Im Mittelpunkt der Ethik von Albert Schweitzer steht die Erkenntnis: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ (5) Sein Grundsatz: „Ehrfurcht vor dem Leben“ hat für mich eine besondere Bedeutung. Das Wort „Ehrfurcht“, so altmodisch wie es in manchen Ohren klingen mag, trägt für mich eine ganz besondere Schönheit in sich, denn die Furcht bezieht sich nicht auf das, was ich ehre, sondern auf meinen Gedanken, es nach meinen Vorstellungen verändern zu wollen und ihm dadurch seine Einzigartigkeit und seine Schönheit zu nehmen. der Grundsatz „Ehrfurcht vor dem Leben!“ (6) von Albert Schweitzer steht in schulischen Lehrplänen für Ethik und Religionslehre. (7)
Ich möchte natürlich nie irgendjemand etwas unterstellen. Ich weiß, dass alle an der Schule Beteiligten nur die besten Absichten haben. Doch ich frage mich schon, ob die Verantwortlichen für diese Lehrpläne daran gedacht haben, dass diese Ehrfurcht vor dem Leben auch eine Ehrfurcht vor den unvorstellbaren Potentialen eines jeden Kindes bedeuten müsste.
Ich möchte mit einem Satz des Soziologen Hartmut Rosa enden: „Demokratie bedarf eines hörenden Herzens, sonst funktioniert sie nicht.“ (8) Was für ein Ort könnte sich besser eignen, um ein „hörendes Herz“ zu bilden, als der Ort, an dem alle Kinder und Jugendlichen in der prägendsten Phase ihres Lebens in Berührung kommen? Dieser zentrale Lern- und Lebensraum sollte optimale Bedingungen schaffen, um ein „hörendes Herz“ zu bilden. Daraus würde folgen, dass Bildung vor allem zwei Hoffnungen schenken muss. Wir alle sind zu klein für die Welt. Niemand reicht sich selbst. Deswegen brauchen wir alle ein hörendes Herz. Die erste Hoffnung, die mir Bildung schenken muss, ist, dass ich darauf vertrauen kann, auf ein „hörendes Herz“ zu treffen, wenn ich zu klein für die Welt bin. Für mich hat diese Aussage eine besondere Brisanz, weil ich aufgrund meiner Körperbehinderung buchstäblich zu klein für die Welt bin. Ich brauche jeden Tag so viel Hilfe. Aber das ist nicht schlimm, wenn ich die Welt als einen Ort kennenlerne, an dem ich immer darauf hoffen darf, auf ein „hörendes Herz“ zu treffen. Die zweite zentrale Hoffnung, die mir Bildung schenken muss, ist, dass ich, wenn ich merke, dass andere zu klein für die Welt sind, genug Vertrauen und Hoffnung habe, ein „hörendes Herz“ für sie sein zu können.
Dass ich immer darauf vertrauen kann, auf ein „hörendes Herz“ zu treffen, wenn ich zu klein für die Welt bin, und dass ich genug Vertrauen in mich selbst habe, mir zuzutrauen, ein „hörendes Herz“ für andere sein zu können, wenn sie zu klein für die Welt sind; das ist Demokratie. Davon bin ich fest überzeugt.
Tim Wiegelmann
Schule, gib mir die Kraft
Schule, gib mir die Kraft, nicht wegzuschauen, dort, wo das Leid der Welt sichtbar wird.
Lehre mich, das Unbequeme nicht zu meiden, sondern in der Verletzlichkeit der anderen meine eigene zu erkennen.
Hilf mir, die Wunden dieser Welt zu spüren, ohne in Resignation zu verfallen. Gib mir Mut, aus Mitgefühl zu handeln, selbst dann, wenn der Weg schwer ist.
Lass mich lernen, dass Verletzlichkeit keine Schwäche, sondern Stärke ist, dass die Welt nicht abseits von mir geschieht, sondern in mir und durch mich.
Zeige mir, dass ich ein Teil des Ganzen bin, und lehre mich, Verantwortung zu tragen – nicht aus Zwang, sondern aus Liebe zu dieser Welt und den Menschen darin.
Schule, sei ein Ort, der mich stark macht, für die Würde, für den Frieden.
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2
SchuleImFokus
Die vier Schulbeispiele der Rubrik "Schule im Fokus" in unserer Zeitschrift Die Schule für alle 2025/2 zeigen konkret, was Schulen tun und getan haben, um zu besseren Orten zu werden.
Zum Herunterladen steht Ihnen die ganze Rubrik Schule im Fokus mit allen Artikeln zur Verfügung.
D. Spielmann: Die Idee von Lernen – Nelson-Mandela-Gesamtschule Bergisch-Gladbach
Die Nelson-Mandela-Gesamtschule – wie Lernen neu und transformativ gedacht werden kann
hier lesen
Die Idee von Lernen
an der Nelson-Mandela-Gesamtschule
Daniela Spielmann
Die Nelson-Mandela-Gesamtschule ist noch eine sehr junge Gesamtschule: Sie wurde 2013 gegründet und verschrieb sich von Anbeginn an der Idee, Lernen neu, anders und transformativ zu denken. Sie geht von der Grundlage aus, dass alle Schüler*innen Potenziale in sich tragen, die es zu entdecken und weiterzuentwickeln gilt – auch über das zunächst Erreichbare weit hinaus.
Das Lernen umfasst drei Säulen:
- Die Ich-Säule: Das Individuum steht im Vordergrund und entwickelt sich, indem es Themen selbstständig und selbstorganisiert erlernt. Dies erfolgt in der Lernzeit (Sek I) und in der Individuellen Lernzeit (Sek II).
- Die Wir-Säule: In dem Fach „Lernen im Projekt“ stehen das Team und die Teamarbeit im Vordergrund. Zu einem Oberthema – angelehnt an die Global Goals – entwickeln die Schüler*innen in Kooperation miteinander Forscherfragen zu dem Thema, beantworten diese, erstellen in dem Kontext ein Produkt, präsentieren ihr Ergebnis und überarbeiten es.
- Die Ich-Wir-Säule: Diese Säule kombiniert das Ich und das Wir. Das Kooperative Lernen und Differenzierungsmatrizen sind Formate, die wir gerne nutzen.
Geschützt wird dieses Lernen mit unserem Dach Teamschule. Gearbeitet wird nach dem Kleingruppenteammodell: Jede Lehrkraft ist einer bestimmten Jahrgangsstufe zugeordnet und übernimmt dort die Funktion der Klassenleitung. Wir begleiten unsere Schüler*innen i. d. R. von der 5 bis zur 10. Das hat den großen Vorteil, dass wir die Kinder in diesem Jahrgang namentlich kennen, weil wir i. d. R. nur dort unterrichten. Für die Schüler*innen heißt das, dass sie einen festen Kern an Lehrer*innen haben, die sie unterrichten. Ein weiterer großer Vorteil ist, dass in Vertretungssituationen der Unterricht gewährleistet ist: Entweder arbeitet man mit der Lerngruppe im eigenen Fach weiter, man nutzt das Material der Fachlehrerin/des Fachlehrers oder man setzt das Format der Lese-Lernzeit, der Zeit für selbstgesteuertes und eigenverantwortliches Lernen, ein.
Auch für das Lehrer*innen-Team bestehen viele Vorteile: In den nahezu wöchentlichen Teamsitzungen gibt es genügend Austauschzeit über die Schüler*innen, für organisatorische Absprachen und Zeit, um gemeinsam den Unterricht vorzubereiten.
Das alles zusammengenommen, lässt Schüler*innen in einem geschützten Raum lernen und leben.
Lernen auf individueller Ebene
Unsere Idee von transformativem Lernen enthält zahlreiche Ansatzpunkte, wie wir unsere Schule als angstfreien Raum gestalten möchten. Zwei Formate sollen fokussiert betrachtet werden.
Die Schüler*innen der NMG erfahren an vielen Stellen eine Lernberatung mit smarter Zielsetzung. So haben wir die typischen Elternsprechtage abgeschafft und führen stattdessen Lern-Entwicklungs-Gespräche mit unseren Schüler*innen durch. Die Eltern dürfen (sollen) bei diesen zweimal jährlich stattfindenden Gesprächen dabei sein. Der Hauptanteil des Gesprächs findet zwischen Kind und Lehrkraft statt. Dabei geht es darum zu schauen, wo das Kind steht, welche Ziele nun angegangen werden wollen, was das Kind dafür tun wird und welche Unterstützung es braucht. Diese vier Schritte werden im Logbuch dokumentiert und nach einem festen Schema überprüft und ggf. angepasst. In dieser Form ist auch unser Schüler*innen-Sprechtag aufgebaut. Dieser findet an dem Tag der Halbjahreszeugnisausgabe statt. Neben diesen drei großen Beratungsanlässen streben wir an, mit jedem Kind im Schuljahr zwei bis drei Lernzeitberatungen durchzuführen. Der Ablauf der Beratung entspricht dem o. g. Vorgehen, wird aber ergänzt durch einen Selbstreflexionsbogen, den die Schüler*innen vorab hinsichtlich ihrer Lernzeit ausfüllen. Dieser Bogen ist Grundlage für das Gespräch.
Mit der Differenzierungsmatrix nach Ada Sasse (1) nutzen wir ein Lernformat, bei dem alle Schüler*innen entsprechend ihrem Entwicklungsstand und ihrer kognitiven Fähigkeit ein passendes Aufgabenformat finden. Da der klassische Unterricht aufgelöst ist, hat die Lehrkraft viel Zeit, um direkt mit den Kindern zu arbeiten, sie zu beobachten oder sie fachlich zu beraten.
Soziales Lernen systematisch angelegt
Neben diesem individuellen Begleiten und dem ständig miteinander in Gespräch sein, bedarf es systematischer und systemisch angelegter Präventionsmaßnahmen, um den Raum Schule angstfrei zu gestalten.
Die ersten Berührungspunkte mit der NMG sichern wir durch unser Patensystem ab. Die Schüler*innen kommen i. d. R. aus kleinen behüteten Systemen an sehr große Systeme und sollen sich möglichst schnell zurechtfinden. Um dem gerecht werden zu können, begleiten unsere Achtklässler die Fünftklässler bei diesem Übergang. Das beginnt schon beim Kennenlernnachmittag vor den Sommerferien und mündet häufig in Freundschaften.
In der neuen Schule dann angekommen, führen wir ein Sozialtraining innerhalb der Klasse durch, in dem es darum geht, als Gemeinschaft zusammen zu wachsen und Konflikte friedvoll miteinander zu bewältigen. Dafür nutzen wir die Methode von „Anders streiten“ (2), das von der Grundannahme ausgeht, dass in jedem Streit beide Seiten einen Streitanteil haben. Wenn der herausgearbeitet wurde, kann man nach einer guten Lösung für beide Seiten schauen.
Dieses Sozialtraining umfasst mindestens das erste Halbjahr in der 5.
Die Methode „Anders streiten“ nutzen die Kolleg*innen z. B. auch in Pausenaufsichten, wenn es sich um kleinere Vorfälle handelt, oder aber die Klassenleitungen nutzen es in Streitsituationen in der Klasse oder im Jahrgang. Dafür hängen an unserer Schule die 5 Schritte jeweils von innen an der Klassentür, sodass dieses Gespräch jederzeit stattfinden kann.
Daran anschließend können Schüler*innen sich in der Streitschlichtung ausbilden lassen. Aktuell haben wir drei Kolleg*innen, die diese Ausbildung mit den Schüler*innen durchführen können. Die ausgebildeten Streitschlichter*innen stehen dann im Rahmen des Ganztages ebenfalls für Streitschlichtgespräche zur Verfügung.
Außerdem haben alle Klassen von 5 bis 10 wöchentlich eine Stunde Klassenrat, der ebenfalls als Präventionsmaßnahme angesehen wird. Hier geht es häufig um gemeinsame Absprachen, wie man innerhalb der Klasse miteinander umgehen möchte. Durch eine klare Struktur können die Schüler*innen die Durchführung zügig selbst übernehmen und erfahren dabei Selbstwirksamkeit im Demokratisierungsprozess.
Die NMG als angstfreier Raum
Schule soll ein Ort sein, an dem jeder angstfrei lernen, streiten und spielen darf. Dass Konflikte zum Leben dazu gehören, ist selbstverständlich. Um diese Konflikte zu bewältigen, muss sich jede Schule auf den Weg machen, Ideen zu entwickeln und Konzepte entstehen zu lassen. Es ist Aufgabe aller Schulen dafür Sorge zu tragen, dass die erst kleinen Menschen und später großen Menschen, die Lehrer*innen und Schulleitungen, gerne täglich an den Ort zurückkehren, der ein Ort des angstfreien Lernens sein soll. Wenn wir dafür Sorge tragen, dass die Schüler*innen selbstwirksam werden können, sich darin üben können z.B. angstfrei Konflikte auszutragen oder weil man ihr Lernen ernstnimmt, dann sollte es gelingen, Schule als guten Ort zu gestalten.
Quellen:
- Berufsbildung NRW - Bildungsgangübergreifende Themen - Individuelle Förderung am Berufskolleg - Gestaltung gemeinsamen Lernens in der Praxis: Unterrichtsmaterialien für die Ausbildungsvorbereitung – Differenzierungsmatrizen nach Prof. Dr. Sasse
- Das Bensberger Mediationsmodell – Anders streiten
Weitere Informationen:
Nelson-Mandela-Gesamtschule Bergisch-Gladbach
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2
U. Reinartz: Ergänzender Bericht über die Nelson-Mandela-Schule
Die Nelson-Mandela-Gesamtschule wurde 2023 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet. Aus diesem Anlass besuchte kürzlich die NRW-Bildungsministerin, Dorothee Feller, die Schule. Ursula Reinartz war dabei und berichtet über die Schule.
Eine Schule zum Wohlfühlen
eine ganz persönliche Begegnung
Ergänzung zu
Daniela Spielmann: Die Idee vom Lernen – an der Nelson-Mandela-Gesamtschule
in Die Schule für alle 2025/2
Ursula Reinartz
Bereits beim Betreten der Schule wird die freundlich-offene Atmosphäre des Schullebens deutlich: Bunte, von Lehrerteams erstellte Kunstwerke und ein von Schüler:innen gestaltetes Tableau der „Global Goals“ strahlen den großen Eingangsbereich aus. Der Ton ist gesetzt: Offenheit, Transparenz, Aufgeschlossenheit und Teamwork zeichnen diese Schule aus!
Der Rundgang durch die Schule gab Einblick in drei Lerneinheiten: Im „Sterne-Projekt“, angekoppelt an „Lernen im Projekt“ des 6. Jahrgangs, setzten die Schüler:innen eigenständig mit Tanz und Bewegung ein selbstgewähltes Thema um: Dabei ging es – trotz des Besuches – lebhaft zu, Kreativität braucht halt lebendige Kommunikation zwischen den Schüler:innen! In der „Leselernzeit“ im 9. Jahrgang waren die Schüler:innen dagegen besonders ruhig und fokussiert. Sie lasen in selbst gewählten Büchern im Lernraum oder auf roten Sitzkissen im vorgelagerten Flur. Was für eine schöne, freundliche Atmosphäre – die unmittelbar zu kurzen Gesprächen zwischen der Ministerin und den Schüler:innen führte.
Im Ganztagsbereich erschließt sich, wieviel an Leben sich in dieser Schule täglich abspielt. In der Mittagszeit ist die Mensa stark ausgelastet – offensichtlich schmeckt das Essen prima. Noch einladender sah es im „Nelson’s Café“ aus, das im Rahmen des selbständigen Lernens von Förderschüler:innen der 7. bis 10. Klassen mit kleinen Mittagsgerichten betrieben wird und sehr regen Zuspruch erfährt.
Im Lehrerzimmer wurde die Teamstruktur der Schule deutlich: Alle Lehrpersonen sind dem Team einer Jahrgangsstufe zugeordnet; die Arbeitsplätze liegen nah beieinander, so dass ein schneller, enger Kommunikationsaustausch möglich ist. „Vertretungsstunden“ im bisherigen Sinne gibt es nicht mehr, da das jeweilige Lehrerteam in Eigenregie die „Vertretung“ regelt und die Schüler:innen ja an ihren Lernmaterialien selbständig lernen.
Frau Ministerin Feller betonte mehrfach, sie sei gekommen, um Anregungen einzuholen und zu lernen, was sie besser machen könnten. Ihre positive Rückmeldung an die Schule beinhaltete, dass dies eine besondere Schule sei, die zurecht mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurde.
Was fehlt an dieser Schule, um sich noch wohler zu fühlen und noch besser lernen zu können? Eigentlich nichts – dennoch gibt es Erfordernisse! So sind die Räumlichkeiten nicht originär für offene Lernformen konzipiert. Die Schülerbibliothek ist liebevoll und ansprechend eingerichtet, aber zu klein und jenseits von Digitalisierungsmöglichkeiten. Lernräume können zwar zu den Fluren hin ausgeweitet werden, aber das teilweise flexible Mobiliar muss aus Durchgangsgründen zu den Pausenzeiten wieder beiseite geräumt werden. Enge herrscht auch in anderen Räumen. Schulleitung und Kollegium setzen den räumlichen Problemen Nähe und Ansprechbarkeit für die Schüler:innen, Eltern und weiteren Mitarbeiter:innen deutlich entgegen. Aber neue Lernkonzepte erfordern auch Raum!
Übrigens: Die Nelson-Mandela-Gesamtschule ist eine ganz „normale“ Gesamtschule von Jahrgang 5 bis 13 mit etwa 800 Schüler:innen, davon 80 Förderschüler:innen und c a. 60 Prozent mit Migrationshintergrund.
Und sie ist wahrhaftig eine Schule zum „Wohlfühlen“ – ein „guter Ort“!
H. Klemm: Eine Mittelschule macht sich für mehr Bildungsgerechtigkeit stark – Eichendorffschule Erlangen
Die Eichendorffschule in Erlangen – ein bayerisches Beispiel für mehr Bildungsgerechtigkeit
hier lesen
Eine Mittelschule macht sich für mehr Bildungsgerechtigkeit stark
Die Eichendorffschule in Erlangen
Helmut Klemm
Das deutsche Schulsystem ist ungerecht, das bayerische besonders. Wir an der Eichendorffschule in Erlangen erleben es tagtäglich.
Wir können das bayerische Schulsystem nicht ändern. Aber wir können den Ort, den wir jeden Tag gestalten, ein wenig gerechter machen. Der Ganztag, die integrative und flexible Beschulung sowie das eigenverantwortliche und selbstorganisierte Lernen sind dafür von Bedeutung. Aber auch Potenzialentfaltung, eine pädagogisch motivierte Notengebung und eine wertschätzende Haltung den uns anvertrauten jungen Menschen gegenüber.
„Der Eichendorffschule gelingt es, den Schülerinnen und Schülern, die von der Grundschule oftmals nur das Gefühl des Scheiterns kennen, die Angst vor Fehlern zu nehmen und ihnen wieder Freude am Lernen zu vermitteln.“ So begründete Thorsten Bohl, Jury-Sprecher des Deutschen Schulpreises und Direktor der Tübingen School of Education, die Vergabe dieser renommierten Auszeichnung an die Eichendorffschule am 12. Oktober 2023.
Ganztagsschule als notwendige Voraussetzung
Wir betrachten die Ganztagsschule als notwendige Voraussetzung für eine gerechtere Schule. Von unseren ca. 400 Kindern und Jugendlichen aus über 30 Ländern können 70 % eine Migrationsgeschichte erzählen und 35% leben in ärmeren Verhältnissen. Eltern können häufig nicht helfen und die Wohnverhältnisse sind zu oft hinderlich. Wir sagen: Hausaufgaben sind Hausfriedensbruch. Alles schulische Lernen muss in der Schule stattfinden, im Unterricht und zusätzlich in der individuellen Lernzeit, von der jede Ganztagsklasse zwei bis drei Stunden in der Woche hat. Die Ganztagsschule bietet uns den organisatorischen Rahmen für ein dringend benötigtes Mehr an Zeit. Innerhalb des ganztägigen Rahmens setzen wir unsere vier Bildungsprinzipien um:Wissen neu lernen, Potenziale entfalten, zusammen leben und Verantwortung übernehmen-Herausforderungen meistern. Von diesen sind „Wissen neu lernen“ und „Potenziale entfalten“ besonders bedeutsam. Es geht um materialgeleitete, adaptive Unterrichtskonzepte wie den Raum der Mathematik oder die Lernbüroarbeit, um auf die Diversität unserer Schülerschaft angemessen reagieren zu können. Die Potenziale und Talente unserer Kinder und Jugenlichen wollen wir in zahlreichen Arbeitsgemeinschaften zur Entfaltung bringen. Unsere jungen Menschen sollen nicht nur in Mathematik und Deutsch erfolgreich sein. Kunst und Musik, Hegen und Pflegen in unseren vier Biotopen, Filme drehen und BMX fahren sind nicht weniger bedeutsam. Wir verstehen uns als zeitgemäßen Bildungs- und Kulturort.
Der pädagogische Dreiklang: Beziehung-Erziehung-Unterricht
Unsere Lehrkräfte unterrichten keine Fächer, sie initiieren und begleiten das Lernen junger Menschen. Es braucht eine Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden. Zusammen mit unserem langjährigen Bildungspartner ChangeWriters e. V. festigen wir unser Kollegium in der wertschätzenden Haltung den Kindern und Jugendlichen gegenüber und bilden sie regelmäßig fort, immer zu Beginn eines neuen Schuljahres. Als ChangeWriters-Schule haben wir zwei ausgebildete Methodencoaches. Sie bieten Workshops für gelingende Beziehungen in der Eichendorffschule an, für Schülergruppen und Lehrkräfte und führen ein in bis zu 200 Methoden.
Unsere kleinkarierte und das Schulklima negativ beeinflussende Schulordnung ersetzten wir durch unser Schulethos - unsere KICKFAIR Werte. In mehreren moderierten Workshops haben sich Schülerinnen und Schüler die Frage gestellt, wie wollen wir an unserer Schule zusammen lernen und leben? Wir verbringen viele Stunden zusammen, nicht nur im Klassenzimmer, sondern auch in der 45-minütigen freien Zeit, in der Mensa, den beiden Lebensräumen, in den Gängen oder auf dem Pausenhof. Konflikte bleiben nicht aus. Gute Antworten auf die Frage nach einem harmonischen Zusammenleben sind von entscheidender Bedeutung. Eine gute Schule zeichnet sich nicht dadurch aus, dass sie Konflikte ignoriert oder unterdrückt, sondern auch durch die Art und Weise, wie sie Konflikte bewältigt. Die KICKFAIR Werte und die Drei-Halbzeiten-Methode spielen dabei für uns eine bedeutende Rolle.
KICKFAIR Werte statt Hausordnung
Das Ergebnis der Schülerworkshops war zunächst überraschend. Nur sieben Sätze mit je einem vorangestellten Hashtag und zum Teil kryptischen Formulierungen wie z. B. Wir brauchen Raum. Raus aus den Ecken! Es hat etwas gedauert, bis wir Lehrkräfte den Wert dieser Werte für unsere Erziehungsarbeit erkannten. Die sieben Formulierungen bilden alles ab, was wir für ein gutes Miteinander an der Eichendorffschule brauchen. Das Mitgefühl für den anderen, den Respekt vor dem anderen. Die Sätze treffen den Kern und sind doch offen formuliert. Sie müssen verstanden und in den Alltag übersetzt werden, so konkret wie möglich. Wir brauchen Raum kann das Drängeln in den Gängen oder vor dem Pausenverkauf einschließen oder das Bedürfnis nach Rückzugsmöglichkeiten in der freien Zeit. Unsere KICKFAIR Werte sind allgegenwärtig, in jedem Unterrichtsraum und in jedem Logbuch. Wir setzen sie präventiv ein, als Wert des Tages, der Woche oder des Monats, in Projekten, in der Klasse oder im Lernhaus. Oder wir reagieren mit ihnen auf konkrete Verfehlungen, situativ und individuell in pädagogischen Gesprächen oder grundsätzlicher im wöchentlichen Klassenrat oder in den mindestens sechs Vollversammlungen der Schulgemeinschaft.
In der Erziehungsarbeit an der Eichendorffschule werden vorgegebene Regeln durch einvernehmliche Abmachungen ersetzt. An die Stelle von Lob und Tadel treten die Reflexion und das Feedback. Ob es die neue Klasse ist oder der erste Fachunterricht im Werkraum. Der Aufenthalt in der Mensa oder das Lernen in den Lernbüros. Wir setzen auf die Drei-Halbzeiten-Methode auf der Grundlage unserer KICKFAIR Werte. In der ersten Halbzeit werden Abmachungen getroffen und verschriftlicht. Sie sind der Maßstab für unser Handeln. Die zweite Halbzeit ist die gute Praxis. Ihre Dauer ist variabel. In der dritten Halbzeit reflektieren wir die Umsetzung der Abmachungen und geben uns Feedback. Das ist zeitaufwändig und mitunter nervig, aber es ist nachhaltig. Natürlich gibt es auch rote Linien wie Körperverletzung oder Cybermobbing. Hier helfen kein Feedback und keine Reflexion, hier braucht es vielleicht eine Strafanzeige.
Die Eichendorffschule ist eine Hinweisschule
Und dann sind da noch die „-ismen“, vor allem Sexismus und politischer Extremismus. Sie werden über die Elternhäuser, Peer Groups oder soziale Netzwerke in die Schule gespült. Ihnen müssen wir uns stellen. Zusammen mit unseren beiden Jugendsozialarbeiterinnen und unserem Respekt Coach bieten wir zahlreiche themen- und alterspezifische Angebote an. Es geht um Workshops zur Queerfeindlichkeit, Empowerment-Veranstaltungen für Mädchen oder eine Woche der Demokratie für alle Klassen, allein 193 Angebote in den letzten drei Jahren.
Die Eichendorffschule versteht sich nicht als Best Practice. Ihr mehrjähriger, systematischer und ganzheitlicher Schulentwicklungsprozess kann nicht mit Copy & Paste auf andere Schulen eins zu eins übertragen werden. Wir verstehen uns eher als Hinweisschule. Wir können Hinweise geben, wie an einer Ganztagsschule, die sich als zeitgemäßer Bildungs- und Kulturort versteht, das Miteinander gestaltet werden kann, manchmal mehr, selten weniger harmonisch.
KICKFAIR e.V. ist unser zweiter wichtiger Bildungspartner. KICKFAIR steht eigentlich für eine besondere Art des Fußballspielens. Heute ist die langjährige Kooperation mit KICKFAIR e. V. ein fester und integrativer Bestandteil unserer Schulentwicklung und viel mehr als Fußball. KICKFAIR steht an der Eichendorffschule für unsere KICKFAIR Werte – unseren Schulethos. Für die Drei-Halbzeiten-Methode und das Projekt Football Learning Global und damit für Erziehungsarbeit und Demokratiebildung. Für Südexperten und Teamer. Für das bundesweite KICKFAIR-Festival in Ostfildern oder die regionale Zusammenarbeit mit Partnerschulen. Und das alles unter der Federführung unserer KICKFAIR Schule, eine von fünf Schulen der Eichendorffschule. Für uns steht KICKFAIR für Sozialerziehung und Demokratiebildung.
Weitere Informationen:
Eichendorffschule Erlangen
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2
B. Riekmann u. a.: Das Kind in seiner Einzigartigkeit wahrnehmen – W-v-Humboldt-Gemeinschaftsschule Berlin
Die Wilhelm-von-Humboldt-Gemeinschaftsschule Berlin – geprägt von einer Kultur der Anerkennung, der Wertschätzung und des Miteinanders
hier lesen
Das Kind in seiner Einzigartigkeit wahrnehmen
Die Wilhelm-von-Humboldt-Gemeinschaftsschule Berlin
Laïs Anders, Judith Bauch, Laura Cavallaro und Katrin Scheinpflug beantworten in einem Schreibinterview die Fragen von Barbara Riekmann.
Die Wilhelm-von-Humboldt-Schule wurde 2008 im Rahmen des Berliner Schulversuchs Pilotphase Gemeinschaftsschule neu gegründet. Sie ist seitdem von der Grundschule bis zum Abitur kontinuierlich „aufgewachsen“. 2024 erhielt die Schule den Deutschen Schulpreis.
Welche Bausteine Eurer Schule sind konzeptionell besonders relevant und bilden vom ersten Jahrgang bis zum Abitur einen Roten Faden?
„Jede*r ist anders / Keine*r ist gleich / Wir alle gemeinsam / Lernen ist leicht!“, so lautet das Schulmotto der Wilhelm-von-Humboldt Gemeinschaftsschule. Im Mittelpunkt steht: Das Kind in seiner Einzigartigkeit wahrnehmen und gleichzeitig ermöglichen, sich als Teil der Gemeinschaft wohl und geborgen zu fühlen. Das ebnet den Weg, sich von der Neugierde im Lernen vorantreiben zu lassen.
Als wichtige Bausteine dazu haben wir eine Kultur der Anerkennung, Wertschätzung und des Miteinanders sowie ein Konzept des inkludierenden individualisierten Lernens auf Grundlage datenbasierter Lernbegleitung definiert.
Eine Schule ohne Klassifizierung und Stigmatisierung durch: Kombination von Lerninstrumenten für das inklusive, individualisierte und selbstorganisierte Lernen, regelmäßiges Feedback, jahrgangsübergreifendes Lernen, thematisches, exemplarisches, projektorientiertes und kooperatives Lernen in Fächerverbünden, Eigenverantwortung, Lernen an anderen Orten, eine Rhythmisierung von An- und Entspannung innerhalb des gebundenen Ganztages bis 10, keine Notenpunkte und Zensuren bis Jahrgang 9, Selbstüberprüfung zum selbstgewählten Zeitpunkt statt Klassenarbeiten bis 9, Ansprache aller mit Vornamen und „Du“ und nicht zuletzt Demokratiebildung von Anfang an.
Wie beschreibt Ihr eine Schule „als guten Ort zum angstfreien Lernen“? Welche Elemente sollte sie unbedingt haben?
Eine solche Schule muss den Kindern und Jugendlichen ermöglichen, dass sie als Individuum gesehen und anerkannt werden und sich gleichermaßen als Teil der Gemeinschaft erfahren können. Selbstwirksamkeitserfahrung durch Partizipation und Verantwortungsübernahme muss durch verschiedene Formate ermöglicht werden. Durch grundsätzliche Erfahrung und Anerkennung von Vielfalt werden herabsetzende Vergleiche unmöglich gemacht. Schule muss der Ort der Lernenden sein. Schule soll ein spannender, vielfältig gestalteter und nutzbarer Ort sein, in dem individuelle Erfolge von der Gruppe gefeiert werden – ein anziehender Ort.
Welche Strukturen habt Ihr geschaffen, um angstfreies Lernen zu etablieren? Welche sind aus Eurer Erfahrung besonders bedeutsam, bzw. wirksam? Und warum?
Wir sind eine Schulgemeinschaft und jede*r ist ein Teil. Das wird sichtbar u. a. durch den alltäglichen Umgang miteinander, regelmäßige Fortbildung in gewaltfreier und lösungsorientierter Kommunikation für alle am Schulleben Beteiligten, die räumliche Anordnung der Lernenden der Jahrgänge 1–10 in einem Gebäudeteil, durch multiprofessionelle Teamstrukturen, die Querverbindungen zwischen Pädagog*innen, Schüler*innen- und Elternvertretung herstellen, Strangstärkung, jährliche Gemeinschaftshöhepunkte.
Partizipationsmöglichkeiten für die Lernenden sind in Unterricht und Freizeit grundsätzlich gegeben durch: den wöchentlichen Lerngruppenrat, den täglichen Abschlusskreis, ritualisierte Coaching- und Feedbackgespräche, eine professionelle Begleitung der Schüler*innenvertretung, von Kindern erstellte Lerngruppenregeln, partizipative Erarbeitung von Schulregeln als Schulentwicklungsvorhaben. Als herausragende Partizipationsmöglichkeit ist die Umsetzung des Hybriden Lernens mit Hilfe des Lerninstrumentes Türöffner zu bezeichnen: Die Jugendlichen schlagen vor, an welchem Lernort sie gut zum vorgegebenen Thema arbeiten können. Die Lernbegleitung coacht dazu.
Wir ermöglichen Gestaltete Lernumgebung partizipativ mit Expert*innen zu entwickeln. Der Raum als dritter Pädagoge!
Herzstück des Kinderschutzkonzepts ist der partizipativ entwickelte Verhaltenskodex, der unsere pädagogische Haltung abbildet und in allen Lerngruppen kommuniziert und sichtbar ist. Notfallnummern und Ansprechpersonen sind in Schaukästen und in jeder Toilette ausgehängt.
Wir Pädagog*innen sehen uns als Begleitung beim Lernen der Schüler*innen. Schüler*innen werden als Expert*innen betrachtet und können anderen mit ihren Kompetenzen helfen. Jeden individuellen Erfolg feiern! Erleben von Vielfalt statt vergleichen! Stärken stärken, Strategien für „Baustellen“ erlernen!
Entscheidendes Element: Kompetenzfeststellung statt Bewertung und somit keine Noten!
Welche etablierten Abläufe bezogen auf Prävention und Intervention habt Ihr entwickelt, um Konflikte zu bearbeiten?
Die bereits genannten Elemente und Strukturen sind etabliert und bieten eine grundsätzliche Prävention. Die gewaltfreie Kommunikation ist fester Teil des sozialen Lernens für die Kinder (Zaubersprache) und Prävention für Pädagog*innen durch schulinterne Fortbildung.
Streitschlichter*innen erhalten ihre Ausbildung als Lernende der Jahrgänge 4–6 und sind dann als Pat*innen für Konflikte in 1–3 zuständig. Die Fachgruppe Soziales Lernen hat zusammen mit den Jahrgangsteams Vorschläge und mögliche Angebote für Anti-Mobbing-Prävention erarbeitet, um den Präventionsteil des Anti-Mobbing-Konzepts umzusetzen.
Digitale Held*innen kommen mit Themen wie Gaming, Klassenchat, Recht am eigenen Bild, Datensicherheit in die Lerngruppen und führen Workshops durch.
Die Leitfäden für Gespräche, für kurze/lange Intervention (Streitprotokoll, Störungsprotokoll, Leitfaden für das Vorgehen bei Mobbingverdacht oder Mobbingvorfall) sind allen Pädagog*innen bekannt und auf unserer Plattform abrufbar. Die Schulleitung ist erreichbar und priorisiert diese Vorfälle. Das Krisenteam ist mit verschiedenen Professionen besetzt und arbeitsfähig. Eine erhebliche Anzahl von Kolleg*innen hat sich zu Anti-Mobbing-Expert*innen ausbilden lassen.
Was wünscht Ihr Euch an Unterstützung für Euer Anliegen einer „Schule als guter Ort“. Wo habt auch Ihr noch Entwicklungsbedarf?
Entwicklungsbedarf haben wir natürlich an verschiedensten Stellen und sind selbstkritisch. Im Alltag ist es ein großes Thema, die Verbindlichkeit von Regeln bei allen umzusetzen.
Verschiedene Netzwerke – Schulpreisträgernetzwerk, Netzwerk der Gemeinschaftsschulen (GGG), Blick über den Zaun, Fachstellen, Schulaufsicht – unterstützen uns.
Was wir uns hier an „mehr“ wünschen, richtet sich an unsere gesamte Gesellschaft und die „Großen“ in der Politik: mehr Aufmerksamkeit und – klar – auch Gelder für den Bildungsbereich und besonders die Inklusion.
Wir sind der Überzeugung, dass es eine Transformation des Schulsystems braucht! Leuchtturmschulen zeigen Möglichkeiten für Veränderung auf, schaffen aber alleine keine ausreichende Wirkkraft für großflächige Veränderungen, die allen Kindern zugute kämen.
Und zudem, wenn Ihr Euch was träumen dürftet: Was wären drei Träumchen für die nächsten fünf Jahre?
Geträumt: Digitale Ausstattung und die Medienbildung sind so ausgebaut, dass die Lernenden souverän und kritisch Teil der digitalen Revolution sind. Die Ausweitung des Projektes Hybrides Lernen führt zur weiteren Öffnung der Schule, in der die Schule ein sicherer Hafen für die Gemeinschaft bleibt.
Geträumt: Die Frequenzen in unseren Lerngruppen sind wieder niedriger, denn unsere Schule ist durch den enormen Bedarf an Schulplätzen im Bezirk derzeit räumlich extrem verdichtet.
Geträumt: Lernende und Pädagog*innen, alle in der Schule tätigen Menschen, sind resilient, unterstützt trotz Bildungskrise, fühlen sich wohl und gut! Das ist nicht nur die Voraussetzung für angstfreies und erfolgreiches Lernen, sondern auch für gute pädagogische Arbeit!
Weitere Informationen:
Wilhelm-von-Humboldt-Gemeinschaftsschule Berlin
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2
K. Schneider u. a.: Angstfrei lernen und sich wohlfühlen – Ernst-Reuter-Schule Offenbach
Die Ernst-Reuter-Schule – ein multiprofessionelles Unterstützungsteam für einen guten Schulalltag
hier lesen
„Schule als guter Ort – angstfrei lernen – sich wohlfühlen“
Die Ernst-Reuter-Schule in Offenbach
Sabine Henning, Carolin Rost und Konstanze Schneider
Wir haben zu unserem Magazinthema ein Schreibgespräch mit der Schulleiterin Sabine Henning der Offenbacher Ernst-Reuter-Schule, IGS mit Grundstufe, und der Schulgesundheitsfachkraft Carolin Rost geführt. Ein ausführliches Schulportrait der Ernst-Reuter-Schule finden Sie in unserer Ausgabe 2022/3, dem Hessenmagazin.
Wie kommen Sie in der ERS der Wunschvorstellung einer Schule als gutem Ort näher?
Die ERS ist ein großstädtische Integrierte Gesamtschule mit Grundstufe im Rhein-Main Gebiet, die von ca. 900 Schülerinnen und Schülern besucht wird, die sich bezüglich ihrer Bildungslaufbahn, ihrer Fähigkeiten und ihrer Motivation zu lernen, sehr stark unterscheiden. Erfolgreiches und angstfreies Lernen setzt also voraus, dass die Lernangebote grundsätzlich auf Unterschiedlichkeit hin angelegt sind. Konsequente Binnendifferenzierung im Unterricht und auch in der Leistungsmessung ist eine große Herausforderung für die Lehrkräfte und braucht zum Gelingen gemeinsame, nachhaltige Anstrengung und ein Konzept. Wir arbeiten seit der Umwandlung in eine IGS im Jahr 2016 mit (Lern-) Aufgaben auf vier Niveaustufen; von sehr einfachen Basisaufgaben bis zu komplexen Transferaufgaben. So können auch Schülerinnen und Schüler mit großen Lernlücken und/ oder Motivationsproblemen angstfrei mitarbeiten, da es immer Aufgaben gibt, die sie erfolgreich bearbeiten können.
Um ein guter Ort zu sein, muss Schule neben der Möglichkeit angstfrei zu lernen auch möglichst angstfreie soziale Strukturen bieten. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es (sehr) viele Schülerinnen und Schüler gibt, die sich in der sozialen Beziehung zu ihren Mitschülerinnen und Mitschülern sehr unsicher, unwohl und angstvoll fühlen. Sie fürchten unbeaufsichtigte Situationen, die herabsetzende Kommentare, Blicke und Posts in den sozialen Medien ermöglichen. Auch fällt es diesen Schülerinnen und Schülern häufig schwer, Personen zu finden, denen sie sich mit diesen Sorgen und Ängsten öffnen können.
Weiterhin wissen wir, dass selbst gutes Classroom Management und Präventionsangebote negatives Verhalten untereinander zwar begrenzen, aber nicht wirklich verhindern können.
Daher versuchen wir, Schülerinnen und Schülern, die mit Ängsten und Sorgen untereinander oder auch in anderen Bereichen kämpfen, möglichst viele Unterstützungspersonen anzubieten.
Wie sieht Ihr Unterstützungskonzept für die Schülerschaft im einzelnen aus?
In der Mindmap „Sei mutig und stark“ (siehe Abb.) werden den Schülerinnen und Schülern diese unterstützenden Personen vorgestellt. Die Zugänglichkeit wird durch offene Angebote und Projekte im Unterricht unterstützt: So stellen sich die Sozialpädagoginnen im Sozialtraining (Grundstufe), Interviews und dem Projekt Fair im Netz (Jg.5) vor, während die Gesundheitsfachkraft durch tägliche Sprechzeiten und bspw. den Präventionsunterricht zur Stärkung der Persönlichkeit in Jg. 6 den Schülerinnen und Schülern bekannt und zugänglich wird.
Offene Angebote des Unterstützungsteams ab Klasse 5 sind die Teestube in der Mittagspause oder nach Unterrichtsschluss Die gleiche Funktion hat der tägliche Pausentreff für Schülerinnen und Schüler ab Klasse 7.
Häufig müssen darüberhinaus aber auch die Lehrkräfte initiativ werden und weiterführende professionelle Unterstützung für die Schülerinnen und Schüler einfordern. Aufgrund unserer Erfahrung geht dies unaufgeregt und schnell. Das erleichtert auch den Umgang mit externen Stellen wie z.B. der Polizei, Kliniken, dem Jugendamt.
Sie beziehen sich mehrfach auf das Unterstützungsteam der ERS. Können Sie uns dazu etwas mehr sagen? Die Übersicht weist neun Personen ganz unterschiedlicher Professionen aus- wie arbeiten diese zusammen? Wie werden Absprachen und Informationen ausgetauscht? Was hat sich dabei bewährt?
Die Wirkungsmöglichkeit der Lehrerin oder des Lehrers ist begrenzt. Wir haben uns daher bemüht, Personen anderer Professionen mit vielfältigen Fähigkeiten an die Schule zu bekommen. Dass sich aus den Einzelpersonen ein funktionierendes Team gebildet hat, ist nicht selbstverständlich, verlangt Aufmerksamkeit und das aktive Schaffen der nötigen Bedingungen. Das Unterstützungsteam trifft sich wöchentlich zu einer gemeinsamen Koordinationssitzung, vierteljährlich mit einem Supervisor und halbjährlich zu einem eigenen „Pädagogischen Tag.“
Wchtig ist, die beratende und intervenierende Arbeit des Unterstützungsteams eng mit der alltäglichen schulischen zu verknüpfen und zu koordinieren, um „Mehrfachberatungen“ und damit verbundene Missverständnisse zu vermeiden.
Auch hier war der Aufbau einer festen Kommunikationsstruktur notwendig: Wir nennen diese das PÜZ (Professionell übergreifende Zusammenarbeit). Hier treffen sich einmal wöchentlich für eine Stunde das Unterstützungsteam, die Schulleitung (alle Mitglieder!), die Präventionslehrkraft, die Inklusionsbeauftragten und das BFZ Team zum Austausch über die aktuellen „Fälle“. Dies geschieht zurzeit in einem „Speed-Dating-Verfahren“: Die Moderation liegt jede Woche bei einem anderen Mitglied, das eingangs die Ergebnisse der Verabredungen / Aufträge der vergangenen Woche abfragt und dann die aktuellen Anliegen sammelt. Dabei nennt der Fallgeber, welche Personen er bei der Besprechung braucht; die übrigen Teilnehmer ordnen sich nach Interesse und Infostand selbst zu. Anschließend verteilen sich die so gebildeten Kleingruppen auf verschiedene Räume und beraten sich zu dem Anliegen. Es werden die Eckpunkte und die Verabredungen / Aufträge notiert, im Plenum knapp vorgestellt und ggf. ergänzt. Dieses Verfahren funktioniert grundsätzlich gut, allerdings bedarf es sehr viel Disziplin bei allen Teilnehmenden. Eine große Stärke dabei sind die vielen unterschiedlichen Perspektiven und Ideen, die so zur Lösung beitragen können.
Aus Beobachtungen und deren Besprechung wissen wir, dass die Unterstützungsangebote von den Schülerinnen und Schülern sehr gut angenommen werden, dass es unzählige Gespräche zu kleinen, aber auch gravierenden Nöten gab und gibt und wir eigentlich nie mit bisher unbekannten schwerwiegenden Krisen oder Konflikten überrascht werden.
Wenn Sie drei Wünsche frei hätten- was wünschen Sie sich für Ihre Schule als „guter, angstfreier Ort“?
Wir wünschen uns mehr von dem, was wir begonnen haben:
Wir wünschen uns mehr ZEIT, um miteinander zu sprechen, uns zu koordinieren und zu beraten. Dies geht nicht informell zwischen Tür und Angel, sondern bedarf festgelegter Zeiten und verabredeter Strukturen. Solche sind im Hinblick auf die stetig wachsenden Anforderungen vor allem an den Erziehungsauftrag der Schulen unbedingt notwendig.
An Schulen kommen täglich hunderte bis über tausend Heranwachsende zusammen: für einen angstfreien Alltag in dem Schülerinnen und Schüler sich wohlfühlen, bedarf es neben den Lehrkräften weiterer PERSONEN, die in diesem Alltag anwesend und sichtbar sind, um möglicherweise angstbesetzte Situationen zu entschärfen, Pausen zu gestalten und andere außerunterrichtliche Angebote zu machen.
Wir wünschen uns, dass ernsthaft wahrgenommen wird, dass GUTE Schulen heute so viel mehr Aufgaben haben als bisher und dass dies nicht mit der traditionellen Personalversorgung und den Strukturen der Vergangenheit gehen kann. Wir wünschen uns, dass der Mut und die Entschlossenheit aufgebracht werden, den Schulen nicht nur ständig neue Aufgaben zu geben, sondern die Bedingungen, unter denen diese erledigt werden können, endlich grundsätzlich neu zu denken!
Weitere Informationen:
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2
zurDebatte
L. Sack: Unterrichtet werden oder lernen? hier lesen
Unterrichtet werden oder lernen?
Sprachbeobachtungen
Lothar Sack
Im traditionellen „Lehrersprech“ ist die Schule Lehr-Anstalt (nicht Lern-Ort), es finden Lehr- bzw. Unterrichts-Veranstaltungen (nicht Lern-Veranstaltungen) statt. Lehrer wie Schüler haben diese Terminologie stark verinnerlicht. Lehr-Amtsanwärter machen Probe-Unterricht oder Lehr-Proben, erstellen dafür Unterrichts-Entwürfe. Zur Vorbereitung des Schuljahres erstellen Lehrer Unterrichts-Pläne. Unterrichts-Einheiten und zugehörige Unterrichts-Materialien werden entwickelt. Und schließlich gehen Lehrer und Schüler in den Unterricht. Schreiben damit nicht beide den Schülern eine passive Rolle zu – und richten sich darin ein? Sonst müssten die Schüler zum Lernen gehen. Und die Lehrer gingen zum Lernen-Machen oder zum Lernen-Anstiften, aber sie verstehen sich offenbar mehr als Unterrichts-Macher denn als Lern-Begleiter, Lern-Gestalter oder Lern-Organisatoren.
Wenn Lehrer nicht da sind, wird der Unterrichts-Ausfall skandalisiert. Aber ist der eigentliche Skandal nicht der Lern-Ausfall? – übrigens auch der mit Anwesenheit von Lehr-Personen. Dabei gelingt es etlichen Schulen, zumindest bei plötzlichem Personalausfall den Lern-Ausfall weitgehend zu vermeiden.
Wortkonstruktionen wie offener Unterricht zeigen ein Unbehagen mit dem Begriff Unterricht – er kann offenbar auch geschlossen sein –, aber es bleibt halbherzig beim Unterricht, also dem Lehrer als Akteur und dem Schüler als Objekt. Soll Schule jedoch ein Ort sein, an dem eine Chance zum selbstbestimmten Lernen besteht, will man, dass Schüler eine aktive Rolle übernehmen, also Subjekte ihres Lernens werden, dann sollte sich das auch in der verwendeten Sprache adäquat widerspiegeln: Auf das überbordend benutzte Unterrichten/Lehren verzichten und statt dessen die Aktivität und Eigenständigkeit, das Subjekt-Sein der Schüler auch sprachlich betonen und vom Lernen sprechen! Also: lernen statt unterrichtet werden! Wird nun Unterricht völlig überflüssig? Schon deshalb nicht, weil selbstbestimmtes Lernen auch bedeutet, Instruktions- und Unterstützungsangebote nutzen zu können.
Übung: Verzichten Sie eine Stunde – gern länger – auf die Benutzung von Wörtern wie unterrichten oder lehren und beschreiben Sie Situationen konsequent aus der Perspektive der Schüler als Subjekte, also sprechen Sie vom Lernen! Beobachten Sie, wie leicht/schwer es Ihnen fällt! Wenn Sie es eine halbe Stunde schaffen, sind Sie gut!
L. Sack: Handys am 'Guten Ort'? hier lesen
Handys am „Guten Ort“?
Lothar Sack
Studien zeigen:
- Über ein Drittel der Wachzeit verbringen Jugendliche am Handy. In dieser Zeit nehmen sie nicht am „analogen“ Leben teil. (Postbank Jugend Digitalstudie)
- Ca. 240 Benachrichtigungen erhalten Jugendliche pro Tag, davon ca. 25 % während der Schulzeit. (Studie von Common Sense Media)
- Ca. 25 % der Jugendlichen, die „Social Media“ benutzten, tun dies in einem für ihre Gesundheit riskanten Umfang. (Untersuchung der DAK und des Uni-Klinikums Hamburg-Eppendorf)
- Allein die Nähe sogar des ausgeschalteten Geräts hat einen negativen Einfluss auf die Konzentrationsfähigkeit.
- Trotz Verbesserung der digitalen Ausstattung an Schulen verschlechtert sich die digitale Kompetenz von Schülern in Deutschland in besonderer Weise. (ICILS)
- Besonders betroffen sind Kinder und Jugendliche mit sozialen Benachteiligungen, mit migrantischer Geschichte und deren Familiensprache nicht Deutsch ist.
Hinzu kommt, dass Cyber-Mobbing vielen Kindern und Jugendlichen das Leben schwer macht.
Die Konsequenz: Schulische Leistungen gehen immer weiter zurück. Die Anzahl der Schulabgänger ohne Abschluss steigt.
Dabei schneiden Schüler, die während der Unterrichtszeit ihr Handy konsequent ausschalten, bei Leistungsuntersuchungen signifikant besser als der Durchschnitt ab. Dann wundert es auch nicht, dass ein schulisches Smartphone-Verbot positive Effekte auf schulische Leistungen und das Wohlergehen von Kindern hat (Böttger/Zierer).
Etliche Länder haben daraus die Konsequenz gezogen und die Nutzung von (privaten) Handys in Schulen verboten, bei manchen besteht das Verbot bereits seit einiger Zeit. Auch findet zurzeit diese Diskussion so gut wie in allen Bundesländern statt. Also alles ist gut, wenn Handys in Schulen verboten sind?
Diesen Schritt kann man nicht machen, ohne die Kinder und Jugendlichen „mitzunehmen“. Ein von außen/oben gesetztes Verbot kann zwar andere (handyfreie) Erfahrungsräume öffnen, es beseitigt aber nicht die Motive und Bedürfnisse, die zur derzeitigen Situation geführt haben. Es kann sogar sein, dass sich am Umfang des „Handy-Konsums“ gar nichts ändert, er in den Untergrund – „unter die Bank“ – oder in außerschulische Bereiche verdrängt wird. Unser Selbstverständnis, (auch) Schule als demokratischen Raum zu leben, verlangt vielmehr nach Argumentation und Überzeugung. Dass hier noch etliches an Arbeit auf uns wartet, ist z. B. einem Kinderblog über das Thema Handys in der Schule zu entnehmen (https://www.hanisauland.de/wissen/spezial/miteinander/lernen-zuhause-wissen-testen-spass-haben/aktionen-gegen-langeweile-kapitel-2-mitmachen-und-mitreden.html/deine-meinung-handyverbot).
Redaktionelle Anmerkung: „IT und Schule“ ist als Thema für eine der nächsten Ausgaben der „Schule für alle“ vorgesehen.
L. Sack: Leseempfehlungen hier lesen
Leseempfehlung
„Für alle, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft noch nicht da sind, wo sie sein könnten“:
- Nepomnyashcha, Natalya (mit Naomi Ryland): Wir von unten – Wie soziale Herkunft über Karrierechancen entscheidet, Berlin 2024 (Ullstein),
ISBN: 978-3-550-20276-6 - In diesem Zusammenhang sei auf den Podcast mit Natalya Nepomnashcha hingewiesen:
https://www.ardaudiothek.de/episode/matthay-fragt/natalya-nepomnyashcha-vom-hartz-4-kind-zur-spitzenmanagerin/rbb24-inforadio/14227161/
In Norwegen gelang es, flächendeckend eine zehnjährige Einheitsschule zu etablieren, Deutschland blieb in Ansätzen stecken. Katharina Sass vergleicht den politischen Schulreform-Prozess in Norwegen mit dem in Nordrhein-Westfalen.
- Sass, Katharina: Die Politik der Gesamtschulreform. Spaltungslinien, Akteure und Koalitionen in Deutschland und Norwegen. Weinheim ; Basel : Beltz Juventa 2024, 262 S. - (Neue Politische Ökonomie der Bildung) - URN: urn:nbn:de:0111-pedocs-302131 - DOI: 10.25656/01:30213; 10.3262/978-3-7799-7798-8
online:
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Dr. Joachim Lohmann – 90 Jahre ...
und kein bisschen leise!
Die GGG sagt: Danke Joachim!
Am 18. Juni 2025 feiert Joachim Lohmann seinen 90. Geburtstag.
Zeit seines Lebens hat sich Joachim für eine gute Bildung und Stärkung der Demokratie durch gute Bildung eingesetzt. In den 1960-er Jahren arbeitete er als Referent im „Pädagogischen Zentrum“ in Berlin und machte sich für den Verzicht auf eine äußere Fachleistungsdifferenzierung stark. Dies in einer Zeit, als Differenzierungsmodelle wie das „FEGA-System“ mit vier Niveaukursen das „Nonplusultra“ gerade auch der neugegründeten Berliner Gesamtschulen waren. Schon in dieser Berliner Zeit setzte er sich gemeinsam mit Ulf Preuss-Lausitz konsequent für eine inklusive Schule nach skandinavischem Vorbild ein, auch wenn es damals den Begriff noch nicht gab.
In den 1970-er Jahren war er für neun Jahre als Stadtschulrat in Kiel tätig und maßgeblich an der Gründung einer ersten Gesamtschule in Kiel beteiligt. Von 1974 bis 1980 war er der dritte Bundesvorsitzende der GGG und erwarb sich Verdienste als Wegbereiter, Architekt, Baumeister, Stratege und Taktiker des längeren gemeinsamen Lernens. Diese Anliegen hat er auch anschließend, als er sich politisch als Landtagsabgeordneter und Staatssekretär in Schleswig-Holstein beruflich anderen Schwerpunkten zuwandte, nie aus den Augen verloren.
Seit dem Beginn der 2000-er Jahre analysiert und interpretiert Joachim die Ergebnisse der PISA-Studien. Er sieht es als durch die Studien belegt an, dass die schwachen Leistungsergebnisse sowie die herkunftsbedingte Bildungsbenachteiligung Deutschlands auf das selektive Schulsystem zurückzuführen sind und wirft der Bildungspolitik und der wissenschaftlichen Begleitforschung vor, dies nicht angemessen zu würdigen. Unter der Überschrift „PISA: die gemeinsame Schule ist unabdingbar“ hat er kürzlich die Ergebnisse von PISA 2022 unter die Lupe genommen. Sein Fazit: Die deutsche Schule ist leistungsschwach, asozial und inhuman. Das Papier kann hier als PDF
von der Website der GGG heruntergeladen werden.
Schon seit geraumer Zeit ist Joachim Lohmann Vorreiter für ein Modell der gleichgestellten Zweigliedrigkeit von Gesamtschule und Gymnasium als Übergang zur Aufhebung des selektiven deutschen Schulsystems. Konzeptionell reicht nach seiner Auffassung die integrierte Mittelstufe als Bildungsreform nicht aus. Für notwendig hält er eine 12- bis 13-jährige Allgemeinbildung für alle. Mit diesen Vorstellungen stößt er auch in der Gesamtschulszene nicht nur auf Zustimmung. Wer mehr über die Vorstellungen von Joachim Lohmann erfahren möchte, sei auf das GGG-Spezial „Gesamtschule quo vadis?“ verwiesen, in dem wichtige Artikel von ihm zusammengestellt sind. Die Druckversion des Magazins kann über den GGG-Landesverband Schleswig-Holstein bezogen werden.
Wir wünschen Joachim alles Gute zu diesem besonderen Geburtstag und eine schöne Geburtstagsfeier. Möge uns seine Inspiration, seine Streitlust und sein Rat noch lange begleiten.
Dieter Zielinski
Für den Vorstand der GGG und die Magazinredaktion
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2
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