Angst ist ein Bildungskiller – Schule muss auch aus neurobiologischer Sicht neu gedacht werden.
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Angstfrei lernen? – Ja unbedingt!
Schule als ein guter Ort
Barbara Riekmann
Noch immer ist es eine häufig anzutreffende Meinung, dass Lernen nur mit Druck gelänge und ja, dass dies im Übrigen noch niemandem geschadet habe. Die Schule als Ort des Wohlfühlens? Es gibt auch heute nicht wenige, die diesen Auftrag der Schule für überzogen, anmaßend oder sachfremd hielten. Was also ist gemeint, mit der Schule als guter und ich füge hinzu sicherer Ort?
Es gibt in Deutschland rund 33.000 Schulen, in denen die Mädchen und Jungen in zehn Schuljahren um die neun- bis elftausend Stunden verbringen. Wenn die Erfahrungen, die sie dort machen, unerfreulich sind, Angst machen oder Stress erzeugen, z.B. durch Lärm, Enge, Hetze oder überzogenen Leistungsdruck, wenn gar Demütigungen oder Formen von Gewalt nicht ausbleiben, dann hat dies im höchsten Maße nachteilige Folgen für die Gesundheit und für das Lernen: „ Ein Organismus mit aufgedrehtem Stresssystem verliert die Fähigkeit das zu tun, worauf es in der Schule ankommt: aufmerksam zu sein und zu lernen. Angst und Stress sind Bildungskiller. “, so der Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut Prof. Dr. Joachim Bauer. (Bauer(1), S. 37)
Neurobiologische Erkenntnisse
Von der Neurobiologie können wir lernen, dass die Nervenzellen unseres Motivationssystems Botenstoffe produzieren (Dopamin, Opioide und Oxytozin) Anm. 1), ohne die wir uns nicht wohlfühlen können. „Entscheidende Voraussetzung für die biologische Funktionstüchtigkeit unserer Motivationssysteme sind das Interesse, die soziale Anerkennung und die persönliche Wertschätzung, die einem Menschen von anderen entgegengebracht werden.“ (Bauer (2), S.19 f)
Wenn jedoch Anerkennung, persönliche Wertschätzung ausbleiben, ist die Folge, dass das Motivationssystem nicht aktiviert wird; geschieht dies dauerhaft, kann dies körperliche und psychische Erkrankungen zur Folge haben. Aber auch in kleinen Dosen kann dies die Eigeninitiative, die Energie, die Lust auf Leistung und die Lernmotivation beeinträchtigen.
Raum – Zeit - Lernstrukturen
Die Gestaltung von Raum und Zeit, die Frage, wie Lernstrukturen konzipiert und passend zu diesen Koordinaten angelegt werden, sind zentrale Aspekte für eine Schule als guter Ort.
Es geht u.a. um ein kluges Zeitmanagement, das individuelles und gemeinsames Lernen unterstützt, das dem Lernenden Zeitautonomie gibt und dem Bedürfnis nach Ruhe, Begegnung, Essen, Spielen und Bewegung entgegenkommt. Eine Halbtagsschule kann dies kaum realisieren, in einer gebundenen Ganztagsschule sind hierfür die Gestaltungsräume vorhanden.
Idealerweise entspricht dem ein Raumangebot, das Rückzug möglich macht, das zu Gemeinsamkeit einlädt, das Anregung und Offenheit bietet und vielfältige Erfahrungen ermöglicht, so z.B. ein für alle zugängliches Forschungslabor oder weitere „Talentschmieden“, eine Bibliothek, Leseecken, Foren, Arbeitsplätze und Ruheräume. Vor dem Hintergrund des Sanierungsstaus an deutschen Schulen erscheint diese Aufzählung bizarr und unrealistisch. Es lohnt sich dennoch, auch im vorhandenen Bestand einer „Klassenraum-Schule“, die bisherige Raumstruktur auf den Prüfstand zu stellen.
Raum und Zeit unterstützen im Idealfall eine klug austarierte Lernarchitektur, die im passenden Mix den Lernbedürfnissen der Kinder und Jugendlichen entgegenkommt: selbstgesteuertes Lernen und Instruktion, fachliches Lernen und Fächer übergreifendes Lernen in Projekten, Neigungsangebote, zudem Sport und die Künste als Treiber des Motivationssystems.
Beziehung und Bedeutung
Raum und Zeit sind äußerst wichtige Voraussetzungen, Beziehung und Bedeutung aber sind entscheidend. Das gilt für die personelle Struktur, für den Umgang miteinander und für die Team- und Arbeitsstruktur innerhalb der Schule. Es hat deshalb einen hohen Stellenwert, wie das Miteinander in der Schule für alle geregelt ist. Übersichtliche und verlässliche Strukturen schaffen Vertrauen in die Abläufe. Alle können sich einbringen.
Bedeutsam sollten aber auch die Lerngegenstände sein. An Dingen zu arbeiten, die für das Verständnis der Welt relevant sind, erfordert ein Denken auch über die Fächergrenzen hinaus. Deshalb sollten vielfältige Möglichkeiten geschaffen werden, den Lernprozess vom Gegenstand und von den Kindern und Jugendlichen her zu entwickeln.
Ein Lernen ohne Noten unterstützt solche Lernprozesse, vorausgesetzt die Leistungsrückmeldung setzt auf Dialog, auf Orientierung und Stärkung.
Lernziel Friedensfähigkeit
Laut einer aktuellen Befragung von Schülerinnen und Schülern im Auftrag der Techniker Krankenkasse (3) ist fast jedes sechste Schulkind in Deutschland von Mobbing betroffen. Gemeint ist damit Mobbing in einem umfassenden Sinn: Systematisches Ausgrenzen, Beleidigen oder körperliche Übergriffe gehören genauso dazu wie das Cyber-Mobbing, das zunehmend in den Fokus rückt.
Sich wohlfühlen, Anerkennung erfahren ist Voraussetzung dafür, dass die für das Zusammenleben wichtigen sozialen Regeln erlernt werden können und die „Friedenskompetenz“ (Bauer) erworben wird. Impulskontrolle haben, sich zurücknehmen, warten können, empathisch sein oder Dinge miteinander teilen können, dies muss erlernt werden, genauso wie der Umgang mit eigener und fremder Aggression.
Für die noch junge Wissenschaft der Neurobiologie handelt es sich bei der Aggression um ein reaktives Verhaltensprogramm (Bauer (2), S. 34), sozusagen die „Rückseite der Medaille“ des Motivationssystems. Um zu erreichen, dass Kinder und Jugendliche zu einer Impulskontrolle kommen und ihre „Selbststeuerungsfähigkeit“ gestärkt wird, braucht es „Aggressions-Flüsterer“, „also Personen, die herauszufinden und in der Lage sind, was die unverständlich gewordene Aggression eines Menschen „eigentlich“ sagen will, was ihr eigentliches „Thema“ ist. Dies können Sozialarbeiter, Erzieher, Lehrer oder Psychotherapeuten sein.“ (Bauer (2), S. 80)
Gerade deshalb ist es so wichtig, dass in der Schule als guter Ort multiprofessionelle Teams zusammenarbeiten. Für die Intervention und die Prävention braucht es schulinterne Absprachen und Konzepte in und zwischen den Teams, damit verlässliche Lern- und Erfahrungsräume für die Konfliktbearbeitung entstehen.
„Out of the box“ denken
Dagegen stehen oft schulstrukturelle Bedingungen und formale Vorgaben, die nicht nur kontraproduktiv, sondern auch schädlich für unser Motivationssystem sind. Ein Schulwesen, das auf Sortieren und Aussondern setzt, nimmt strukturell die Demütigung in Kauf. Stoff- und Zeitdruck lassen sich von den Schulen durch geschickte Arrangements vermindern, aber die administrativen Vorgaben erfordern Kreativität und Widerstandsgeist. Die Schule vom Kinde her zu denken, dazu kann immer wieder nur ermutigt werden.
Anmerkung 1: Dopamin (Botenstoff für psychische Energie), Opioide (Wohlfühlbotenstoffe), Oxytozin (ein Vertrauens- und Kooperationsbereitschaft förderndes Hormon)
Quellen:
- Bauer, Joachim (2007): Lob der Schule, München
- Bauer, Joachim (2011): Schmerzgrenze – Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt, München
- Techniker Krankenkasse, https://www.tk.de/presse/themen/praevention/gesund-leben/gemeinsam-klasse-sein-hamburg-2169042?tkcm=aaus
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2