Berlin
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Der Versuch zur Bildung einer rot-grünen Koalition in Berlin scheiterte an ca. 3 km Autobahn, die die SPD-Verhandlungsführer zu einer unverzichtbaren Infrastrukturmaßnahme erklärt hatten, so jedenfalls die verlautbarte Version. Dem voraus gingen zwei Parteitagsbeschlüsse zu diesem Thema: einer, der das Stadtautobahn-Stück abgelehnt hatte, und ein weiterer, der es mit sehr knapper Mehrheit befürwortet hatte; offenbar ein Herzensanliegen der Partei. Bei den anschließenden Sondierungen und Verhandlungen mit der CDU kam angesichts der bekannt gewordenen CDU-Forderungen die Befürchtung auf, die SPD werde womöglich ein gerechteres Schulsystem für ein Stück Autobahn verscherbeln:

  • Beendigung des Schulversuchs Gemeinschaftsschule, mindestens keine neuen Gemeinschaftsschulen
  • Ausweitung der 5./6. Klassen an Gymnasien
  • Einführung von Religion als Unterrichtsfach in Konkurrenz zu Ethik
  • Aufhebung des verpflichtenden jahrgangsübergreifenden Lernens in der Grundschule/-stufe
  • Wiedereinführung der Verbeamtung von Lehrer/innen

und gerüchteweise:

  • Verankerung des zweigliedrigen Schulsystems in der Berliner Verfassung.
  • gleiche Ausstattung von ISS und Gymnasium und damit Aufgabe der Aufgabenorientierung bei der Ausstattung.

Ganz so schlimm ist es dann bei den Vereinbarungen für die nächste Legislaturperiode nicht gekommen:

  • Beschlossen wurde ein "Schulfrieden", also der Verzicht auf wesentliche Strukturveränderungen.
  • Gemeinschaftsschulen bleiben bestehen und können auch weiterhin gegründet werden.
  • Die Zahl der 5./6. Klassen an Gymnasien bleibt erhalten.
  • Es bleibt beim derzeitigen Zustand: Ethik ist verpflichtendes Fach, an Religion kann zusätzlich freiwillig teilgenommen werden.
  • Über JüL in der Schulanfangsphase können künftig die Schulen selbst entscheiden.
  • Bei Redaktionsschluss hatten sich die künftigen Koalitionäre noch nicht geeinigt, ob es beim Angestellten-Status der Lehrer bleibt oder die Verbeamtung wieder eingeführt wird.

Über die beiden letzten "Gerüchte"-Punkte gab es keine Mitteilungen. Eine ggf. beabsichtigte Verfassungsänderung scheint vom Tisch (oder nie auf dem Tisch gewesen) zu sein, sie müsste wohl Gegenstand einer Koalitionsvereinbarung sein. Es bleibt jedoch zu beobachten (und ggf. abzuwehren), wenn Forderungen nach gleicher Ausstattung der beiden Schularten von gymnasialer Seite erhoben werden sollten. Der Ausstattungsvorteil der Integrierten Sekundarschulen und Gemeinschaftsschulen ist allemal durch die übernommenen bzw. übertragenden Aufgaben gerechtfertigt, ja dafür geradezu erforderlich.

Im Fall der Reinickendorfer Gemeinschaftsschulinitiative ist Positives zu vermelden. Die Hannah-Höch- und Greenwich-Schule werden nun als Gemeinschaftsschule starten können. Das Wahlergebnis und die daraufhin gebildete Zählgemeinschaft von CDU und BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN im Reinickendorfer Bezirksparlament hat dies möglich gemacht.

Unter dem Titel Ein Jahr Schulstrukturreform: Anspruch – Realität – Konsequenzen hatten am 02.11.2011 der Runde Tisch Gemeinschaftsschule zusammen mit der Fachgruppe Gymnasien der GEW eingeladen. Die Veranstaltung fand in Kooperation mit den Fraktionen der SPD und der LINKEN im Abgeordnetenhaus statt. Vertreter von Grundschulen, Gemeinschaftsschulen, Integrierten Sekundarschulen und Gymnasien berichteten aus ihren Erfahrungsbereichen. Interessant waren einige Äußerungen der Gymnasialvertreter: Sie sprachen sich sowohl für die Abschaffung des Sitzenbleibens als auch der Probezeit an ihren Schulen aus. Auch in der anschließenden Plenumsdiskussion kamen erstaunlich viele gemeinsame Einschätzungen der Strukturreform zum Ausdruck, aber auch die unterschiedliche Interessenlage der integrierten Schulen und der Gymnasien, die sich ausdrücklich nicht als Schule für alle bezeichneten, damit also keine inklusive Schule sein wollen.

Lothar Sack