Baden-Württemberg
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Moderate Gemeinschaftsschulentscheidungen mit Untiefen

Es hätte schlimmer kommen können. …und doch lässt die Wahl einen ratlos mit der Frage zurück: Wieso mussten und müssen eigentlich alle Schulen längeren gemeinsamen Lernens bei Regierungswechseln die Erfahrung machen, dass sich Parteien auf ihre Kosten zu profilieren versuchen, so nun auch in Baden-Württemberg.

Aber wie gesagt, es hätte schlimmer kommen können. Die Koalitionsvereinbarung ist seit dem 02.05.2016 bekannt und angesichts dessen, was befürchtet wurde, wirken die Ergebnisse durchaus moderat. Hier ein Überblick:

  • An dem pädagogischen Konzept der Gemeinschaftsschule wird nichts geändert.
  • Es können weitere Gemeinschaftsschulen eingerichtet werden.
  • Die Gemeinschaftsschulen, die eine Jahrgangsbreite von 60 SchülerInnen für die Oberstufe haben, dürfen eigene Oberstufen bilden.
  • Schulen, die das möchten, können sich dafür entscheiden ab Klasse 8 in den Fächern Deutsch, Mathematik, Fremdsprache und naturwissenschaftlichen Fächern – wie heißt es so schön – „leistungsdifferenzierte Gruppen zu unterrichten“ (Koalitionsvereinbarung S. 28). Vermutlich hätten sie das auch unter der alten Landesregierung gedurft. Der Druck in diese Richtung aus einigen Gemeinschaftsschulen wurde in den letzten Monaten immer größer.
  • Ab Jahrgang 8 wird in einem Schulversuch Gemeinschaftsschulen „ermöglicht“, den offenen statt den gebundenen Ganztag anzubieten.

Die Diskussionen an manchen Gemeinschaftsschulen, ab Klasse 8 äußere Differenzierungen einzuführen, waren auch ohne die Neuwahlen virulent. Ob das grün-rote Ministerium Stand gehalten hätte und auf den Verzicht äußerer Differenzierung bestanden hätte, ist die Frage. Die Gemeinschaftsschulen, für die dieser Innovationsschritt zu groß ist, werden jetzt ab 8 auf äußere Fachleistungsdifferenzierung setzen. In der grün-schwarzen Koalitionsvereinbarung wurde ermöglicht, entsprechende Gruppen zu bilden und den offenen, alternativ zum gebundenen Ganztag einführen. Es wird also Gemeinschaftsschulen geben, die jetzt die Möglichkeit haben, wichtige strukturelle, pädagogische und didaktische Profilelemente der Gemeinschaftsschule in Richtung stärkere äußerer Differenzierung zu verändern.

Im Gymnasium gibt es keine gravierenden Veränderungen; es bleibt bei G8. Nur die 44 G9 Modellschulen werden weitergeführt. Parallel zur Gemeinschaftsschule wird die Realschule deutlich gestärkt. Sie erhält zusätzliche Ressourcen und kann sich zwischen offener und gebundener Ganztagsschule entscheiden. Sie führt, wie bereits von der alten Landesregierung beschlossen, nun auch zum Hauptschulabschluss. In den Jahrgängen 5 und 6 arbeitet sie ohne äußere Differenzierung und bildet ab Jahrgang 7 abschlussbezogene Klassen. Die Realschulen bekommen die Möglichkeit nun auch ganz offiziell auf dem erweiterten (gymnasialen) Niveau Schülerinnen und Schüler zu unterrichten.

Wer auf die Idee kommt, dass die Realschule eigentlich eine Form der kooperativen Gesamtschule ist, der hat nicht ganz Unrecht. Mit der Möglichkeit der Kursbildung in drei Fächern ab Klasse 8 bzw. abschlussbezogener Klassen ab 7 nähern sich die zwei Schularten stark dem System der alten Gesamtschulen in BW. Interessanterweise bewegt sich jetzt die Staudinger Gesamtschule in Freiburg aber genau in der entgegengesetzten Richtung: Voll integrierter Unterricht von Klasse 5 bis 10!

Die Stärkung der Realschule mit Konzeptelementen aus dem Gemeinschafts- und Gesamtschulkontext kann durchaus eine Schwächung der Gemeinschaftsschule bedeutet. Das scheinbare „Alternativmodell“ Realschule wird voraussichtlich bei vielen Beteiligten (Eltern und Lehrkräften) eine hohe Zugkraft entwickeln.

So moderat die Ergebnisse der Koalitionsverhandlung sind, so wichtig wird es sein, genau darauf zu schauen, wie die Umsetzung im Kultusministerium gestaltet wird. Auch das ist seit heute (02.05.16) klar: das Kultusministerium wird nach vier Jahren mit einem Kultusminister, der von der SPD gestellt wurde, wieder in der Hand der CDU sein. Als Kultusminister bzw. -ministerin werden unterschiedliche Namen gehandelt und entsprechend unterschiedlich sind die Befürchtungen dazu, wie auf die Gemeinschaftsschulen eingewirkt wird, welche Entwicklungschancen oder –blockaden sie erfahren werden.

Und zum Schluss noch ein Literaturtipp: Sehr interessant sind die Ergebnisse der Studie von Thorsten Bohl u.a. zur Gemeinschaftsschule. Schon jetzt ist deutlich, dass es einige sehr erfolgreiche Gemeinschaftsschulen gibt und das Konzept trägt. Thorsten Bohl und das Forscherteam haben präzise identifiziert, was gute Gemeinschaftsschulen ausmacht. Wir werden darüber ausführlich in der nächsten Ausgabe berichten.

Bohl, Thorsten & Wacker, Albrecht (Herausgeber) (2016). Die Einführung der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg: Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung (WissGem). Münster: Waxmannverlag.

Katrin Höhmann, Jürgen Leonhardt, Matthias Wagner-Uhl