Hessen
Schulentwicklung
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Der Landesvorstand der GGG Hessen, Jan. 2003

Grundsatz - Positionen der GGG Hessen

Gesellschaftliche Veränderungen bedingen Veränderungen in den Lernverhältnissen

Dass Familie, Sozialität, Beziehung und Konflikt zu den Grundthemen schulischer Erziehung gehören müssen, kann man aus allen jungen Papieren der Gattung Bildung 2000 wieder erfahren. Die Auflösung von Gesellschaft unter den Zwängen kurzfristig kalkulierender Kommerzialisierung ist eine aktuelle Gefahrenperspektive geworden. Teilhabe aller an der Regelung ihrer Angelegenheiten - niemand dachte 1973 dabei an die digitale Kluft zwischen den InternetbenutzerInnen und den digitalen Analphabeten oder an ein Wahlrecht, das von der Aussichtslosigkeit der ökonomischen Situation der Wahlberechtigten dementiert wird - und deswegen vielfach nicht mehr genutzt.

Es genügt heute nicht mehr, Schule als Lernort zu optimieren. Schule muss in der Welt unsteter Strukturen Elternhaus und Dorf werden: denn auch in den Zeiten monatekurzer "Produktlebenszeiten" brauchen Menschen noch immer mehr als eineinhalb Jahrzehnte, um als herangereift zu gelten und ihr Leben "führen" zu können. Diese Diskrepanz zwischen öffentlicher Entdauerung einerseits und dem kindlichen Wachsen und sich entwickeln als einem langdauernden Prozess andererseits kann nur mit öffentlichen Institutionen, also künstlicher Dauerhaftigkeit begegnet werden. Keine andere Schule kann das Insgesamt dörflicher Sozialdichte so repräsentieren wie eine Schule aller Altersstufen und Milieus.

Ganztags Schule ist nicht eine Vormittagsschule mit Arbeitsgemeinschaften am Nachmittag. Ganztags Schule bedeutet vor allem anderen ein völlig anderes Lernen - aktiver und weniger zuhörend, tätiger und nicht nur in Worten, geselliger, interaktiver und nicht vorwiegend allein neben anderen (nicht hinübersehen, nichts hinübersprechen!). Solches Lernen nimmt die SchülerInnen vielseitig in Anspruch. In der Halbtagsschule können zumeist nur Stoffportionen (ein Fachwort in der Bildungsverwaltung) in einer vorgeschriebenen Menge von Jahreswochenstunden durchgenommen (Fachwort) werden.

Das Orakel von PISA

Wenn die GGG dafür eintritt, in Deutschland ganztags Schule zu organisieren, dann bezieht sie sich auf PISA-Normen und akzeptiert sie ausdrücklich. Also benennen wir in Kürze wichtige Aspekte:

Wer nicht Lesen kann und schreiben, der ist draußen vor. Kein Ticketautomat, kein Internet, kein Bestellformular - eigentlich müssten alle zwischen drei und vier das Lesen lernen können, denn danach beginnt die Welt sich mit Texthinweisen zu überziehen. Immer mehr Nachrichten kommen als Schrifttext, immer mehr Dialoge mit anderen gehen über Medien. Keine SMS ohne Lesen und Schreiben. Aber ohne Lesen und Schreiben auch kein Zugang zur Welt von gestern, zur Welt von morgen, zur Welt der Phantasien. Nur: Lesen ist mehr als Entziffern, Lesen ist Verstehen, ist kundiges Wiederfinden, Heraussuchen, Sinn entnehmen können.

Dies war die erste der drei Basiskomponenten, die PISA untersuchte. Die beiden anderen folgen in den kommenden Jahren. Also beziehen alle Aussagen von PISA sich derzeit auf eine von mehreren noch anstehenden Untersuchungen.

Allerdings ergibt sich aus den Auswertungen eine Liste weitere Normen. Die Ergebnislisten wurden unter anderen Gesichtspunkten ausgewertet:

Weil der freie Westen eine Welt der Demokratie ist, sein oder werden soll, gilt es als Nachteil, wenn man in einer Gesellschaft in Schule die sozialen Differenzen vergrößert oder fixiert, statt an einer Nivellierung nach oben mitzuwirken. In Deutschland wird der soziale Status der Eltern über die Schule weitervererbt.

Weil der freie Westen eine Welt der Demokratie ist, gilt es als Nachteil, wenn in einer Gesellschaft in Schule Migrantenkinder weniger fördert als die einheimischen Kinder. In Deutschland sind Migrantenkinder unterrepräsentiert unter allen Erfolgreichen des Schulsystems.

Weil der freie Westen eine Welt der Demokratie ist, gilt es als Nachteil, wenn in einer Gesellschaft das Gefälle zwischen den schwächsten und stärksten SchülerInnen vom ersten bis zum letzten Schulbesuchsjahr nicht flacher wird, sondern steiler. In Deutschland ist der Unterschied zwischen den Besten und den schwächsten 15-jährigen besonders groß - und unsere Besten sind international doch nur im Mittelfeld.

PISA-Daten ergeben eindeutig: Durch Sitzenbleiben wird die Erfolgsquote der Schulen nicht besser, das Wiederholen machten den Kompetenzzuwachs nicht größer. Das Auslesen nach unten in andere Kursniveaus oder Schulformen verbessert ebenso wenig den Erfolg der SchülerInnen beim Kompetenzerwerb. Sogenannte homogenisierte Klassen sind nicht lerntüchtiger als heterogene Lerngruppen.

Deutschland braucht ein andere Bildungsphilosophie

Wer jetzt Maßnahmen ergreift, muss also nachweisen, dass er damit

  • die starken Kinder nicht benachteiligt in ihren Entfaltungsmöglichkeiten
  • die verschiedenen Kinder nicht festlegt auf einen schmalen Korridor von
  • Lernanforderungen und -bedingungen, der unterschiedliche Aneignungsstärken der SchülerInnen nicht zur Geltung kommen lässt
  • den Kindern ohne starken Familienrückhalt in der Schule ausreichenden Ausgleich an Förderung und Anregung sichert
  • den Test als Auslesefilter ersetzt durch den Test als Diagnoseinstrument.
  • Nicht der Ausschluss aus der Lerngruppe oder der Schule ist dann die Konsequenz, sondern Suche nach anderen Lernmethoden, - hilfen, -anregungen.

Die Halbtagsschule erzwingt durch den knappen Zeittakt der 45-Minuten-Stunden eine Egalisierung der Lernbedingungen unter einem hochselektiven Aspekt: wer schnell auffasst und gut nach Schema arbeitet, ist im Vorteil gegenüber SchülerInnen, die langsamer arbeiten, vorsichtiger disponieren, Alternativen durchprobieren, statt einem einmal gelernten Schema weiterhin zu folgen. Deutschlands SchülerInnen zeigen besondere Mängel in Selbstständigkeit, Anwendung, Kreativität: die vielbeschworenen Schlüsselqualifikationen sind in PISA gesucht und in Deutschland nicht gefunden.

Sowohl die neuen Lebensverhältnisse der dorflosen Kindheit, wie die Erwartungen an Basiskompetenzen für alle, erfordern heute die Schule ganztags - eine Schule mit anderer Zeit- und Raumkultur, nicht eine ganztägige verplanende Schule. Das eigenstrategische Lernen in Praktika und Projekten, das langfristig orientierte Lernen in Wochen- und Monatshorizonten verlangt für SchülerInnen einen Dispositionsrahmen, um mit der Ressource Zeit individuell optimal umgehen zu lernen, den eigenen Lerntyp, die eigenen Lernmethoden zu erkunden und zu entwickeln.

Derzeit gibt es überhaupt keinen Anlass, sich durch Schulformgrenzen von den Reformpotentialen aller anderen Schulformen distanzieren zu lassen. Vielmehr wäre ein ganz neu fundamentiertes Bündnis zu suchen derer, die PISA-Normen für die eigene Schule akzeptieren und in Struktur und Praxis umsetzten wollen, Frühlesen in Kindergarten und Grundschule, Teamwork und eigenstrategisches Lernen in allen Altersklassen: altersgemäß balanciert mit Anleitung und Anforderungen, Förderung statt Selektion.

Ausgangspunkt für eine sofortige pädagogische Schulentwicklung in Richtung auf ganztags Schule ist eine Erweiterung, Koordination und Systematisierung aller Angebote einer Schule im Bereich Unterrichts-, Erziehungs-, Betreuungs- und Freizeitgestaltung unter ganzheitlichem Aspekt, mit verbindlichen Kooperationsstrukturen in Form vertraglicher Vereinbarungen und in der pädagogischen Gesamtverantwortung der jeweiligen Schule.

Die Gesamtschulen haben hier bereits ein gutes Fundament gelegt. Es enthält ein hoch einzuschätzendes Innovationspotential.