Eintrag in die Kladde aus Anlass der Veröffentlichung des Gesetzes zur Änderung der Verfassung und des Schulordnungsgesetzes (Ordnung des Schulwesens im Saarland) vom 16.03.11
(Verordnungen s. Downloadbereich)
Wesenheiten sind unveränderlich, weil zeitlos im „Wesenreich“. (Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.12, Basel 2004, Stichwort WESEN)
In meinem 1. philosophischen Proseminar (1968) habe ich mich mit Nicolai Hartmann (1882 – 1950), von dem dieser Satz stammt, beschäftigen dürfen und schon damals Probleme gehabt, das Wesen des Wesens zu verstehen. Das Wörterbuch der Philosophie hilft mir in diesem Punkt trotz meines Alters nicht wirklich weiter, bietet es doch 29 gehaltvolle Kolumnen zum Stichwort Wesen. - Wesen, höchstes und anderes habe ich nicht mitgezählt.
Warum beschäftigt mich das Wesen heute wieder?
„Die Gemeinschaftsschule bietet jedoch ihrem Wesenund den individuellen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler entsprechend neben dem Weg zum Abitur auch den Erwerb des Hauptschulabschlusses und des mittleren Bildungsabschlusses an.“
Da haben wir es, das Wesen in einem Gesetzestext, der von Beamten geschrieben wurde, die erkannt haben, dass a) die in Deutschland gebräuchlichen Schulabschlüsse zeitlos und unveränderlich mit der Gemeinschaftsschule verwoben waren und sind und dass b) noch manch anderes zum Wesen der Gemeinschaftsschule, die Teil des Schulwesens ist, gehört. Da west etwas in Wesen! - Zum Beispiel gehört zum Wesen der Gemeinschaftsschule, dass Gymnasialschüler(innen) und viele Schüler(innen) mit Förderbedarf nicht zur Gemeinschaft(sschule) gehören.
Die drei Abschlüsse kann man auch im Gymnasium erwerben, doch gehört nur einer, das Abitur, zum Wesen desselben. Das Gymnasium hat eben ein wesentlich reduziertes Wesen, eindimensional sozusagen. Zum Wesen des Gymnasiums gehört, dass es eine vertiefte allgemeine Bildung vermittelt. HSA und mBA sind wesensfremd. (Aber vielleicht wird das Gymnasium durch die Vermittlung auch dieser Abschlüsse genesen und eine vollwertige Schulform wie die Gemeinschaftsschule).
Den Vorgänger unseres derzeitigen Ministers, Herrn Jürgen Schreier, habe ich bei Gelegenheit einer Veranstaltung im LPM gefragt, was denn die vertiefte von der erweiterten allgemeinen Bildung unterscheide und auf welchen Bildungsbegriff sich die Kultusministerkonferenz (die hat das so festgeschrieben) beziehe. Dazu wusste er nichts zu sagen: er hat meine Frage nicht beantwortet. Ich halte ihm zugute, dass ihm die Fragen anderer Diskussionsteilnehmer(innen) wichtiger waren. Die erste PISA-Studie warf ja viele wichtige Fragen auf. Mich verwirrt die geteilte und auf Schulformen verteilte Bildung im Wesenreich Schule weiterhin.
Zum Gesetz:
Mit Unterstützung der LINKEN, die sehr wohl weiß, was die Rechte tut, wird die Gemeinschaftsschule eingeführt und verfassungsfest geklopft.
Ich muss mich damit nicht abzufinden.
Trotzdem: Was kann ich der neuen Gemeinschaftsschule abgewinnen?
- Sie bietet alle drei Schulabschlüsse und bricht damit das Abiturprivileg des Gymnasiums.
- Das Gesetz ermöglicht den Einzelschulen, eigene pädagogische Konzepte zu entwickeln und ein spezifisches Profil auszubilden. Das Team-Kleingruppen-Modell der saarländischen Gesamtschule kann bei Nutzung des angegebenen hohen Maßes an Selbstständigkeit und des Gestaltungsspielraumes umgesetzt werden.
- Das Förderkonzept der Schule – und nicht Erlasse und Verordnungen – wird zur Grundlage allen pädagogischen Handelns erklärt.
- Bis einschließlich Klassenstufe 8 wird ohne Versetzungsentscheidung gelernt. - Nichts ist darüber zu lesen, dass Noten gegeben, Tests durchgeführt und Vergleichsarbeiten geschrieben werden müssen. So arbeitet die Georg-Christoph-Lichtenberg Gesamtschule in Göttingen-Geismar seit 35 Jahren bewunderswert erfolgreich. -Es gibt in der Bundesrepublik weitere nachahmenswerte Beispiele und die Exkursionen mit Ottmar Wagner (LPM) nach Schweden, Finnland und in die Schweiz bieten Perspektiven auf anzustrebendes europäisches Bildungsniveau.
- Auch wenn der HSA de jure angeboten wird, braucht er de facto nicht erteilt zu werden. Alle Schüler schaffen es: mBA und mehr!
- Wenn also die Gesamt- und andere Schulen sich durchringen können, gemeinsam ein pädagogisches Konzept zu erarbeiten – für jede Einzelschule ist das sowieso nicht machbar - ist ihre Weiterentwicklung zu diesem Ziele hin möglich.
Genug geschwärmt.
Es werden die materiellen und personellen weder durch dieses Gesetz noch durch Zusatzvereinbarungen Voraussetzungen geschaffen.
Was stört mich an der Einrichtung der Gemeinschaftsschule?
- Das Ziel, eine Schule für alle Kinder und Jugendliche, ist wiederum auf Jahre unerreichbar.
- Das Gymnasium bleibt ebenso erhalten wie die Förderschule: Gespaltene Schule – gespaltene Gesellschaft! Die Behindertenrechtskonvention findet keine hinreichende Beachtung.
- Der HSA bleibt, obwohl die OECD und mit ihr viele andere Organisationen und Experten mindestens den mBA als Voraussetzung für die weitere Qualifikation auch in der beruflichen Bildung zwingend empfehlen.
- Das Modell der Fachleistungsdifferenzierung widerspricht den empirischen Studien zur erfolgreichen Gruppierung von Schüler(innen). Gesetzesintern besteht ein unauflöslicher Widerspruch zwischen dem Gebot des selbstständigen Lernens und der individuellen Lernwege einerseits und der Fachleistungsdifferenzierung andererseits.
- Die Klassenstufen 5 und 6 werden als Orientierungsstufe ausgewiesen. Sie sollen durch ein besonderes Maß an Durchlässigkeit gekennzeichnet sein. Da weder im Gymnasium noch in der Gemeinschaftsschule in dieser Stufe Leistungskurse gebildet werden, da an beiden Schulformen alle Abschlüsse erworben werden können, braucht weder eingestuft noch umgestuft noch ein Schulwechsel vorgesehen werden. Wem also nützt diese Festlegung? - Honi soit qui mal y pense!
- Die zentralen Abschlussprüfungen bleiben erhalten. Insbesondere die für den HSA halte ich für verzichtbar. Doch werden uns die Gymnasiallehrer(innen) bei der Forderung ihrer Abschaffung dann unterstützen, wenn sie diese in sechs Jahren selbst durchführen müssen. Schreibt das Gesetz doch vor, dass die Abschlüsse der Sek.I und II in zentralen Abschlussprüfungen erworben werden.
- Obwohl alle Abschlüsse sowohl in der Gemeinschaftsschule wie im Gymnasium erworben werden können, arbeiten nur in der Gemeinschaftsschule Lehrer(innen) mit der Qualifikation für die entsprechenden Bildungsgänge. Sie werden bestimmt bei den entsprechenden Abschlussprüfungen als Prüfungskommissare im Gymnasium eingesetzt. - Das hat was!
- Nicht erkennbar sind Anforderungen an das Gymansium seine bildungsfeindliche Selektionspraxis aufzugeben.
Wer wissen möchte, wie sich viele saarländische Experten – unter ihnen auch der Landesvorstand der GGG – die Gemeinschaftsschule vorstellen, der lese (noch einmal) die GEDANKENSKIZZE ZUR GEMEINSCHAFTSSCHULE in dem Bericht der Arbeitskammer an die Regierung des Saarlandes 2010, S. 216ff! Der vorliegende Gesetzentwurf ist eine schlechte Karrikatur gegenüber dieser ausgereiften Reformvorstellung. Das saarländische Parlament löste, stimmte es dieser Verfassungsänderung und dem Schulgesetz zu, noch nicht einmal die Humboldtsche Stufenschulidee vom Beginn der vorletzten Jahrhunderts ein, sondern schreibt schlicht Die deutsche Bildungskastrophe (G.Picht, 1964) fort.
Mich ärgert an der Politik der Landesregierung und ihres Bildungsministers die Ziellosigkeit dieser Strukturreform. In allen Ländervergleichen belegt das Saarland einen der hinteren Plätze: sei es bei den Schulabschlüssen, sei es bei der Lehrer-Schüler-Relation, sei es bei der Klassengröße, sei es bei der Anzahl der erteilten Unterrichtsstunden.
Was aber nützt diese Verfassungsänderung, wenn diese Daten nicht geändert werden.
Was soll eine Zusammenlegung von zwei koexistierenden Schulformen, deren gemeinsame Konkurrenz das Gymnasium ist, wenn nicht diese Ziele vorgeben werden:
- Bei der Zahl Hauptschulabschlüsse nimmt das Saarland in 6 Jahren den letzten und nicht den ersten Platz in der Bundesstatistik ein!
- Bei der Abiturquote schließt das Saarland mindestens zu Sachsen und Thüringen (sind ja auch Beitrittsländer und in diesem Punkt aber viel besser) auf: also bald 50%.
- Alle Schulen sind inklusiv.
Das muss finanziert werden und m.E. kann es finanziert werden.
Mich ärgert, dass ich von dieser Landesregierung noch immer nicht gehört und gelesen habe, wie hoch die sog. Bildungsrendite ist und wofür für sie verwendet wird.
Diese Verfassungsänderung, der vier Landtagsparteien zustimmen wollen, kann das Schulsystem zum Sparen freigeben. (Die Landeselterninitiative nennt gute Gründe für die Annahme, dass die Schulreform als Sparmodell genutzt wird.)
Den Akteure und den zustimmenden Parlamentariern fehlt der Blick für das Wesentliche in Schule und Gesellschaft! So bleibt im saarländischen Schulsystem alles Wesentliche beim falschen Alten.
Mir bleibt die Erkenntnis der Gültigkeit des Diktums Nicolai Hartmanns:
Wesenheiten sind unveränderlich, weil zeitlos im „Wesenreich“.
So viel habe ich nun verstanden vom Wesen, vom saarländischen Schulwesen!