Länderbericht SH 2022-11
Die Versorgung mit allgemeinbildenden Oberstufen fällt in Schleswig-Holstein, je nach Kreisen, äußerst ungleich aus. Lenkt man den Fokus auf die Gemeinschaftsschulen – seit der Schulreform von 2007 das Äquivalent zur Gesamtschule –, erscheint das Missverhältnis noch krasser. Nominell besitzt Schleswig-Holstein seit jener Schulreform ein Zweisäulenmodell, das auch einen gleichberechtigten Zugang zum Abitur an Gymnasien und Gemeinschaftsschulen etablieren sollte. Tatsächlich jedoch ballt sich das Angebot, wenn man die Wahl zwischen Oberstufen an beiden Schulformen haben möchte, am Hamburger Rand und in einer Handvoll größerer Städte. An den meisten anderen Orten führt nur das klassische Gymnasium auf geradem Weg zum Abitur; in einer breiten „Schneise“ von der dänischen Grenzen bis weit in die Mitte des Landes gibt es gar kein Oberstufenangebot!
Entsprechend schlecht ist es um die Bildungsgerechtigkeit im Land bestellt: Je nach Kreis schwankt der Anteil der Abiturient*innen an einem Altersjahrgang zwischen einem und fast drei Fünfteln 1. Zwar hat die Zunahme von Gemeinschaftsschulen infolge der o.g. Reform zu einem erkennbaren Anwach-geführt; aber bislang verfügt nur rund ein Viertel aller Gemeinschaftsschulen in Schleswig-Holstein über eine Oberstufe. Und auch hier gilt wieder: je weiter nach Norden und Westen bzw. je entfernter von den Ballungszentren, desto seltener.
Dass es „immer noch zu wenig Gemeinschaftsschulen mit Oberstufe“ gebe, hatte übrigens auch die Bildungsministerin des Landes, Karin Prien, Anfang des Jahres offen angesprochen2. Das war jedoch vor der Landtagswahl; das neue Regierungsprogramm von CDU und Grünen setzt hier allerdings keine starken Impulse, sondern bekennt sich zur angeblich bewährten Schulstruktur in Schleswig-Holstein, samt einem ziemlich starren Verständnis von Fachleistungsdifferenzierung.
Es stellt in diesem Programm schon eine begrüßenswerte Flexibilisierung dar, dass der Vorbereitungsdienst für Studierende mit „Sekundarstufe II-Fakultas“3 nun auch an einer Gemeinschaftsschule ohne Oberstufe ermöglicht werden soll. Ob diese Schulform hierdurch jedoch, neben den dafür geeigneten Lehrkräften, auch die nötigen Oberstufen gewinnt, ist nicht garantiert.
Zwiespältig in ihren Auswirkungen auf die Gemeinschaftsschulen erscheint auch die bereits im Vorjahr angelaufene Oberstufenreform (OAPVO).
Zwar eröffnet diese durch eine Niveaudifferenzierung in den Kernfächern Deutsch, Englisch und Mathematik neue Wege zum Abitur, von denen ganz besonders Lernende an Gemeinschaftsschulen profitieren könnten; doch dürfte die praktische Umsetzung in der Regel den Gymnasien leichter fallen, da diese personell weit besser versorgt sind. Der v. a. in Klassenstufe 12 überbordende Fächerkanon droht an knapp besetzten Schulen zu „ausgefransten“ Stundenplänen zu führen – weder für Schüler*innen noch für Lehrer*innen ein attraktiver Zustand! Und nicht nur bei der Anzahl der Fächer, auch bezüglich der Fachinhalte fehlte der Mut zur Straffung. Auch durch dieses stoffliche Zuviel werden die Gemeinschaftsschulen, die weit mehr als die Gymnasien an Inklusion und Integration zu leisten haben, ungleich stärker belastet.
Bislang sind Fortschritte im schleswig-holsteinischen Schulwesen hin zu längerem gemeinsamem Lernen vor allem durch den Elternwillen angestoßen worden. Ob sich dadurch in einem nächsten Schritt auch eine weitere Ausdehnung und Reform der Sekundarstufe II schaffen lässt? Der Bedarf ist unbestritten.
Cornelia Östreich
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1 Bildung in Schleswig-Holstein im Spiegel der nationalen Bildungsberichterstattung,
Hrsg. DIPF/Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation 2020, Abb. 4.9, S.54.
2 Lübecker Nachrichten, 18. Januar 2022, S.6, Norddeutschland: „Zu wenige Oberstufen im Norden“.
3 Also einer Unterrichtsberechtigung im gymnasialen Bildungsgang bis zum Abitur – Koalitionsvertrag Z.765f.
Der Länderbericht erschien in Die Schule für alle 2022/4.
ALLE LÄNDERBERICHTE DSFA 2022/4