Länderbericht SH 2023-11
Wie kann im Vorreiterland der schulischen Inklusion ein drohender Substanzverlust vermieden werden?
Schleswig-Holstein galt lange – und gilt teilweise noch immer – als Vorreiterland in der schulischen Inklusion. Die Zahlen „vor Corona“ weisen einen Anstieg der Inklusionsquote von 20 % seit Mitte der 1990er Jahre bis um 70 % aus. Im Vergleich mit dem Bundesschnitt von ca. 4 % schulischer Segregation im Förderbereich stechen die schleswig-holsteinischen 2 % ebenfalls positiv hervor. (In einigen östlichen Bundesländern lagen die Quoten fast dreimal so hoch.)
Jedoch wird in letzter Zeit vermehrt über einen Rückgang der Inklusionsquote im nördlichsten Bundesland berichtet. Vor allem in den Bereichen geistige sowie soziale und emotionale Entwicklung werden Versuche der Beschulung im „Regelsystem“ zunehmend als gescheitert erklärt und die Rückkehr an eine gesonderte Förderschule – sowohl von Eltern wie Lehrkräften – geradezu als Erleichterung empfunden. Genaue Daten zu dieser Beobachtung sind mit dem „Bericht zur Unterrichtssituation“ zu erwarten, der in Schleswig-Holstein immer im Oktober vorgelegt wird. Ein von den Oppositionsparteien bereits vor einem Jahr angeforderter Bericht der Landesregierung speziell zur Inklusion steht bislang noch aus. So kann an dieser Stelle nur vermutet werden, dass die angespannte personelle Lage vor allem an den schleswig-holsteinischen Grund- und Gemeinschaftsschulen ohne Oberstufe sich nachteilig auf die Zufriedenheit der Beteiligten auswirkt (1).
Der „Runde Tisch Inklusion“, den das schleswig-holsteinische Bildungsministerium gemeinsam mit der Landesbehindertenbeauftragten veranstaltet, hat in der neuen Legislaturperiode erstmals am 6. September stattgefunden. Dabei hielt sich die Landesregierung zugute, die Ausbildungsplatzzahl im Förderbereich verdoppelt zu haben und auch eine Lenkung in Mangelregionen zu versuchen. (Zur Einordnung: In Schleswig-Holstein sind die meisten Förderzentren inzwischen „Schulen ohne Schüler*innen“, sodass deren Lehrkräfte an den Grund- und Gemeinschaftsschulen – seltener den Gymnasien – eingesetzt werden.) Dabei soll auch eine neu eingeführte „Experimentierklausel“ helfen; aus der schulischen Praxis liegen jedoch Berichte über weit weniger Freiheiten vor, als der Begriff vermuten lassen sollte. Ähnlich ist es mit dem seit der Corona-Zeit in Schleswig-Holstein aufgelegten Rahmenkonzept, das sich für 2023/24 überwiegend dem Thema „Digitalisierung“ widmet. Auch wenn dabei „Diklusion“, d. h. die Verbindung von Inklusion mit digitalien Medien, als besondere Stärke verbucht wird, so kommt sie jedenfalls nicht von alleine. Vor allem nicht unter den bereits erwähnten erschwerten Bedingungen für die Schulformen, welche den Großteil der Inklusion stemmen sollen!
Ein immer wieder benanntes Problem in Schleswig-Holstein ist, dass die Diagnostik für einen Förderbedarf nicht früh genug erfolge. Die Landesregierung hat ein Screeningerfahren auch für sehr junge Altersgruppen angestoßen, über das ebenfalls beim „Runden Tisch“ berichtet wurde und das in Testläufen eine hohe Ergebnissicherheit erbracht haben soll. Da sich dieses Verfahren aber noch in der wissenschaftlichen Erprobung befindet, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nichts über eventuell zu erwartende Verbesserungen gesagt werden. Es kam auch die Frage auf, inwiefern ein solches Verfahren der Inklusion dient. Falls nicht genügend qualifizierte Lehrund Betreuungskräfte zur Seite stehen, kann ein sehr frühes Screening auch zur dauerhaften Etikettierung und Stigmatisierung von Kindern führen.
Insgesamt scheint die schleswig-holsteinische Landesregierung aktuell eher nach „alltagstauglichen“, unmittelbar umsetzbaren Lösungen zu suchen als eine große Anstrengung im Sinne der Inklusion zu planen. Ob diese Linie in den neuen Zahlen zur Unterrichtsversorgung (s. o.) ihre Bestätigung findet, bleibt abzuwarten.
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(1) Siehe dazu auch den Artikel von Constantin Gill : Inklusion in SH: Der lange Weg von der Sonderschule zum UN-Ziel
Cornelia Östreich
Der Länderbericht erschien in Die Schule für alle 2023/4.
ALLE LÄNDERBERICHTE DSFA 2023/4