Die Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg: zukunftsweisendes Projekt oder ungeliebtes Kind?
Nach vier Jahren grünroter Landesregierung wird es in Baden-Württemberg voraussichtlich fast so viele Gemeinschaftsschulen wie Gymnasien geben: Gut 300! Gut 300 Schulen, in denen unterschiedlichste Kinder miteinander und voneinander lernen können, alle Abschlüsse des Regelschulsystems angeboten werden, auf Notengebung verzichtet werden kann, Inklusion von vornherein ein wichtiges Element des Schulkonzeptes ist und individualisierte und kooperative Lernformen nicht die Ausnahme, sondern die Regeln sind. Gut 300 Schulen, in denen es keine äußere Fachleistungsdifferenzierung geben soll. Gut 300 Schulen, die in der Sekundarstufe I alle gebundene Ganztagsschulen sind und somit die Möglichkeit zu einer sinnvollen Rhythmisierung des Tages haben.
Mit diesem Schuljahr sind es aktuell in Baden-Württemberg bereits 209 öffentliche Gemeinschaftsschulen, die die Arbeit aufgenommen haben. Neben Hauptschulen und Werkrealschulen konnten auch die ersten Realschulen für den Veränderungsprozess gewonnen werden. Die Gründe, Gemeinschaftsschule zu werden, sind sehr unterschiedlich. Da gibt es jene Gruppe von Schulen, für die dieser Schritt ein Befreiungsschlag ist, die nach Jahren des Reformstaus endlich das machen können, was ihnen pädagogisch wichtig ist. Diese Schulen sind sicherlich die zentralen und wichtigsten Träger der Reform. Dann gibt es gibt es jene Gemeinschaftsschulen, die sich auf Wunsch der Gemeinde mit der Weiterentwicklung zur Gemeinschaftsschule befasst und dafür entschieden haben. Eine Gemeinschaftsschule und somit eine Schule, die von allen Kindern der Gemeinde nach der Grundschulzeit besucht werden kann, in der Kommune zu haben, wird als Standortvorteil gesehen. Und dann gibt es die Gruppe sehr kleiner und von Schließung bedrohter Hauptschulen, die ihre einzige Überlebenschance darin sehen, Gemeinschaftsschule zu werden. Diese müssen eine Mindestschülerzahl von 40 Schüler/innen in Jahrgang 5 als Voraussetzung für eine Genehmigung haben. Man kann sich sicherlich darüber streiten, ob es sinnvoll ist, Schulen mit einer so geringen Jahrgangsbreite die Möglichkeit für die Umwandlung zugeben. Andererseits haben auch diese kleinen Schulen sicherlich die Chance verdient, sich nochmal neu aufzustellen.
Von meinen Lehramtsstudierenden im ISP (Integriertes Semesterpraktikum) höre ich durchweg positive, manchmal nahezu enthusiastische Berichte aus den Gemeinschaftsschulen. Sie sind begeistert über die Arbeit in den Klassen, die Lernatmosphäre, die Arbeitsformen, die sie kennenlernen. Diese Studierenden sind ein ganzes Semester vier Tage die Woche an einer Gemeinschaftsschule. Da können sie sich schon ein Urteil erlauben. Offensichtlich ist das, was sie dort erleben, im Vergleich zum Lernen in ihrer eigenen Schulzeit eine deutliche Qualitätsverbesserung.
Gemeinschaftsschule begeistert und ist zugleich anstrengend. Vor allem für jene Lehrerteams, die sich als erste der Umsetzung annehmen. Erfahrene Gesamtschullehrer/innen aus anderen Bundesländern kennen die Freude und die Anstrengung Schule neu zu denken und mit einer bewusst erhöhten Heterogenität in den Klassen eine veränderte und gute Arbeit zu machen. Umso wichtiger ist es, dass die Anstrengung nicht noch von außen erhöht wird. Das aber geschieht zurzeit und ist wenig produktiv. Da sind die Gemeinschaftsschulgegner, die in den üblichen Argumentationsmustern verharren, den Untergang des Abendlandes proklamieren und mit tendenziösen, eklektizistischen und teilweise falschen Interpretationen von Forschungsergebnissen aus anderen Bundesländern die Schulform diskreditieren und Lehrer/innen, Eltern und Schüler/innen verunsichern. Da entstehen die aus anderen Bundesländern nur zu gut bekannten politischen Profilierungsspielchen zwischen Opposition und Landesregierung auf Kosten dieser Schulform. Da wird mit fast triumphierender Häme jeder noch so kleine Misserfolg zum grundsätzlichen Beweis des Scheiterns der ganzen Schulform hochstilisiert. Und dann kommt noch Gegenwind von denen, die doch eigentlich Unterstützer sein müssten. Manche GesamtschulanhängerInnen z. B. in den Gewerkschaften nutzen nicht die Chancen, die Gemeinschaftsschule zu unterstützen und sehen nicht die Chance, die sich hier in Baden-Württemberg durch die Gemeinschaftsschule für eine veränderte und bessere schulische Bildung auftun und arbeiten auf dem Hintergrund machtstrategischer Szenarien gegen sie.
Stimmt, auch in Baden-Württemberg ist die Gemeinschaftsschule nicht die ersetzende Schulform, da die Landesregierung auf eine Entwicklung von unten setzt und diese Schulform nicht flächeneckend verordnen will. Das bedauern so wie ich viele. Die Schulformen längeren gemeinsamen Lernens sind allerdings auch in keinem anderen Bundesland ersetzende Schulform geworden. Andere kritisieren, dass die „Gemeinschaftsschule“ nicht „Gesamtschule“ heißt! Na und? Geht es nicht eigentlich um die Möglichkeit für Kinder und Jugendliche anders lernen zu können? Geht es wirklich um ‚Labels‘? Und ja, es gibt bisher nur wenige Gemeinschaftsschulen, die sich für die GGG und die Gesamtschulen in anderen Bundesländern interessieren und von deren Stärken und Fehlern lernen möchten. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die Gemeinschaftsschulgründungen kommen zum Beispiel nicht aus einer bundesweiten und sehr politisch geprägten Schulreforminitiative wie die Gesamtschulgründungen der 70er und 80er Jahre. Gesamtschulen anderer Bundesländer sind in Baden-Württemberg über Jahrzehnte so dermaßen schlecht geredet worden, dass Schulen teilweise gar nicht erst auf die Idee kommen, in diese Richtung zu schauen. Stattdessen erfolgte eine Orientierung an Schulkonzepten aus der Schweiz. Das ist angesichts des Erfahrungsreichtums im Gesamtschulbereich in Deutschland, auf dem die Gemeinschaftsschulen hätten aufbauen können, sehr bedauerlich. Aber es ist eine Frage der Zeit, bis auch die problematische Seite bestimmter Schweitzer Schulkonzepte bewusst werden und die Schulen nach anderen Ideengebern und Gesprächspartnern suchen werden. Bereits auf der Tagung in Mannheim diesen November berichteten GGG-Vertreter/innen davon, dass sie angesprochen und um Unterstützung gebeten worden seien von der einen oder anderen Gemeinschaftsschule.
Natürlich sind die drei ‚alten‘ Gesamtschulen in Baden-Württemberg in einer unerfreulichen Situation. Sie haben gegen alle Widerstände, und wie massiv diese waren, kann man sich in vielen anderen Bundesländern kaum vorstellen, die Idee der Gesamtschule – auch in ihrer gesellschaftspolitischen Bedeutung – mutig wach gehalten und jahrzehntelang den fast aussichtslosen wirkenden Kampf gegen ein selektives dreigliedriges Schulsystem geführt. Nach der schulpolitischen Wende wurde es aus meiner Sicht versäumt, dieses Engagement genügend zu würdigen, die drei Gesamtschulen ins Boot zu holen und ihnen die Chance zu geben, ihre innovative Kraft für verändertes Lernen in Baden-Württemberg zielgebend für die neuen Gemeinschaftsschulen nutzbar zu machen. Stattdessen stehen sie mit ihren derzeitigen Formen äußerer Fach-Leistungs-Differenzierung, die sicher viele Kolleg/innen an diesen Schulen historisch gesehen gar nicht wollten, als quasi überholte, traditionelle Gesamtschulform da.
Aber es wäre doch absurd, wenn diese Gesamtschulen und die Gemeinschaftsschulen langfristig nicht an einem Strang ziehen und gemeinsam dafür kämpfen würden, dass Kinder länger gemeinsam und besser lernen dürfen Die Staudinger-Gesamtschule in Freiburg hat einen wichtigen Schritt in diese Richtung getan und die Diskussion um die Abschaffung der äußeren Fachleistungsdifferenzierung aufgegriffen. Sie verzichtet ab Klasse 5 aufwärts auf äußere Fachleistungsdifferenzierung. Die Gesamtlehrer/innenkonferenz hat dies mehrheitlich entschieden. Damit hat sich eine große Schule (über 1.200 Schüler/innen) mit gymnasialer Oberstufe für ein gemeinsames Lernen bis Klasse 10 entschieden. Hier verbinden sich langjährige Gesamtschultraditionen und -erfahrungen mit aktuellen Entwicklungen in Baden-Württemberg.
Was brauchen Gemeinschaftsschulen derzeit aus meiner Sicht am meisten:
- Konkrete Konzepte und Ideen für die pädagogische und fachliche Alltagsarbeit aus guten Gesamtschulen in Deutschland. Hier können Gesamtschulen, die darauf erfolgreich auf äußere Fachleistungsdifferenzierung verzichtet haben, zu wichtigen Beispielen werden.
- Personelle Ressourcen zum Beispiel für kollegiale Hospitationen, fachlichen Austausch und Schulentwicklung, Coaching und Supervision und sinnvolle Doppelbesetzungen im Unterricht. Gerade die engagierten Teams, die ab Jahrgang 5 die Gemeinschaftsschule gestaltend hochwachsend und immer diejenigen sind, die Neues ausprobieren, entwickeln und als Vorreiter etablieren, brauchen mehr Entlastung.
- Multiprofessionelle Teams, bei denen Lehrer/innen aller Schulformen und pädagogische Mitarbeiter/innen anderer pädagogischer Berufe (Erzieher/innen, Sozialpädagog/innen) ihren Dienstort an der Gemeinschaftsschule haben.
- Lehrer/innen mit gymnasialem Lehramt, das sich die Attraktivität der Gemeinschaftsschule für Eltern deutlich erhöhen wird, wenn durch die verstärkte Einstellung von Gymnasiallehrer/innen und -lehrern sichtbar wird, dass in der Gemeinschaftsschule auch der gymnasiale Bildungsweg fachlich vertreten ist.
- Ermutigung, Kontinuität und Verlässlichkeit, um sich entwickeln und Erfahrungen sammeln zu dürfen. Ganz im Sinne des Zitats von Anton Bruckner: „Wer hohe Türme bauen will, muss lange beim Fundament verweilen.“
- Selbstbewusstsein, sich als reale, existierende Alternative zum Gymnasium dazustellen. Hier können die Gemeinschaftsschulen viel von den drei Gesamtschulen lernen, die es in Baden-Württemberg seit Jahrzehnten gibt.
Es ist an der Vision festzuhalten, dass eine die jetzigen Schulformen ersetzende Schulform entsteht, die auf die Grundschule folgt und die von allen Kindern und Jugendlichen besucht wird. Kurzfristig ist nichts anderes möglich, als eine Politik der kleinen Schritte, wenn schon jetzt die Situation für Schüler/innen verbessert und eine Landesregierung nicht politisches Harakiri begehen möchte. Zu dieser Politik der kleinen Schritte zur Verbesserung der schulischen Situation von Schüler/innen gehört auch ein neuer Vorstoß der Landesregierung. Im Schuljahr 2016/2017 wird sich in Baden-Württemberg Grundlegendes bei den Realschulen ändern. Die Realschulen vergeben nun auch den Hauptschulabschluss, sie dürfen Kinder nicht mehr ‚abschulen‘, in Jahrgang 5 und 6 sind alle Schüler/innen in eine Orientierungsstufe ohne äußere Differenzierung, ab Jahrgang 7 dürfen sie mit äußerer Fachleistungsdifferenzierung in unterschiedliche Niveaus unterrichtet werden. Mit dieser Änderung hat Baden-Württemberg zwei Angebote in der Sekundarstufe I, bei denen bewusst auf eine größere Heterogenität der Schülerschaft gesetzt wird und alle drei Bildungsgänge integriert sind. Die Realschule in Kombination mit den beruflichen Oberstufen – sie vergeben auch die Allgemeine Hochschulreife – gilt seit Jahren als „G9-Weg“ zum Abitur. Nun muss sie sich auch endlich auf die sogenannten Hauptschüler/innen einlassen und sie zum Abschluss führen. Diese Entscheidung der Landeregierung ist keine, die auf der Systemebene zur Entwirrung der Schulformvielfalt und zur Stärkung der Gemeinschaftsschulen führt. Es ist nun auch eine Frage des Selbstbewusstseins und der Überzeugungskraft der Gemeinschaftsschulen vor Ort, dass sie mit ihren pädagogischen und didaktischen Konzepten und als gebundene Ganztagsschulen, eine bessere Arbeit leisten und Eltern sich bewusst für die Gemeinschaftsschule und gegen die anderen Schulformen entscheiden. Es gibt einige Gemeinschaftsschulen wie die Alemannenschule in Wutöschingen oder die Gemeinschaftsschule in der Taus in Backnang (Stuttgart), denen das schon jetzt gelungen ist.
10 Jahre dauert sinnvolle Schulentwicklung mindestens, bis sich eine Schule grundsätzlich verändert hat. 10 Jahre sollten die Gemeinschaftsschulen mindestens Zeit haben, ihre Konzepte zu implementieren und auszuprobieren, bevor das Scheitern dieses Modells auch nur ansatzweise proklamiert wird. Mindestens 10 Jahre lang könnte doch nun die erfahrene Gesamtschulszene mit Kompetenz, Zuversicht und Wohlwollen die Gemeinschaftsschulen auch hier in Baden-Württemberg begleiten. Mindestens 10 Jahre politische Ruhe rund um dieses neue Modell wünsche ich den Gemeinschaftsschulen, damit sich die Idee des längeren gemeinsamen Lernens etablieren kann und Schüler/innen und Schüler/innen ebenso wie Eltern die großen Vorteile von Gemeinschaftsschule ganz konkret erfahren können.
Katrin Höhmann