Aufbruch in BW
Dieser Bericht, liebe Freunde und Kolleg/innen in der GGG, richtet sich vor allem an die Leser/innen in Baden-Württemberg. Das hat seinen Grund, denn die Ereignisse hier seit dem Regierungswechsel sind ohne Beispiel in der langen schwarzen Periode dieses Bundeslandes. Eine kleine Geschichte mag dazu dienen, den Wandel im politischen Klima zu beschreiben:
Vor ein paar Tagen war ich auf einer Bildungsveranstaltung der Stuttgarter Zeitung in Stuttgart. Auf dem Podium saß auch unsere neue Kultusministerin Frau Warminski-Leitheußer von der SPD. Zur Veranstaltung selbst will ich hier nicht viel sagen, außer vielleicht, dass es beim Thema Länger gemeinsam lernen nicht den üblichen Streit der „Experten“ gab. Auch das ist neu. Nach der Veranstaltung ging ich zügig zum Bahnhof, um noch den letzten ICE nach Mannheim zu kriegen. Wenige Minuten später kam auch unsere Kultusministerin den Bahnsteig entlang. Sie fährt jeden Tag von Mannheim, wo sie Schulbürgermeisterin war, nach Stuttgart ins Ministerium. Kurze Begrüßung, kurzes Gespräch über die Veranstaltung und dann eine halbe Stunde Austausch über die zukünftige Schulpolitik in BW im Zug. Auch hier möchte ich zum Inhalt nichts sagen. Entscheidend wichtig für mich waren weniger die konkreten Informationen, die ich erhielt, als vielmehr das deutliche Gefühl des Aufbruchs in der Bildungslandschaft. Solch ein Gespräch – mit einer leibhaftigen Kultusministerin – hatte ich noch nie geführt. Ich gewann den Eindruck, dass wir in BW am Anfang eines neuen Prozesses stehen, der nicht mehr revidiert werden kann. Die Widerstände im eher konservativen Teil der Bevölkerung und auch der Lehrerschaft scheinen gebrochen. Die Veranstaltungen der neuen Mannschaft im Kultusministerium im Lande stoßen auf großes Interesse. Die Säle sind voll und es gibt rege Diskussionen um die Details der vom MKS herausgegebenen Eckpunkte zur Innovation im Schulsystem. Ja, Innovation ist gemeint, nicht nur noch eine weitere „Reform“.
Worum geht es?
Es geht um eine neue Schule, die Gemeinschaftsschule (GMS) heißen wird. Der Streit um Begriffe und Inhalte der „Gesamtschule“ und der GMS ist in der GEW noch etwas am brodeln. Ich zitiere die wichtigsten Passagen aus dem Eckpunktepapier des MKS:
- Die GMS arbeitet in der Sek. I auf der Grundlage der Bildungsstandards von Hauptschule, Realschule und Gymnasium.
- Die GMS ermöglicht eine inklusive Beschulung von behinderten Kindern und Jugendlichen.
- Alle Schüler/innen lernen nach individuellen Voraussetzungen.
- In der GMS gibt es keine Versetzung/Nichtversetzung und keine Wiederholungen im bisherigen Sinne.
- Alle allgemein bildenden Schulen können sich zu Gemeinschaftsschulen weiterentwickeln.
Die GEW BW hat im Gremium Vorstandsbereich (VB) am 30.09.11 ein eigenes Eckpunktepapier verfasst, das sich mit der Überschrift „Die schulpolitischen Vorhaben der Landesregierung“ sehr viel differenzierter mit dem Thema beschäftigt. Es kritisiert auch die insgesamt etwas unscharfen Formulierungen, nennt vor aber allem die Defizite bzw. macht alternative Vorschläge (z. B. Klassenteiler 25 statt 28). Das Papier ist allerdings noch nicht vom Landesvorstand der GEW abgesegnet.
Für mich ist dieser von der GEW angemahnte (im Papier der Landesregierung fehlende) Satz am bedeutsamsten:
„An der Gemeinschaftsschule unterrichten Lehrkräfte aller Schularten“.
Das ist ohne Frage ein kritischer Punkt. Wir brauchen Gymnasiallehrer/innen in der GMS von Anfang an! Ohne sie gerät der Anspruch der gymnasialen Bildungsstandards in der GMS ins Wanken. Dies hier ist gleichsam auch ein Appell an die Gymnasialkolleg/innen, sich der Idee der GMS nicht zu verschließen. Sie ist zweifellos die Schule der Zukunft. Ohne sie werden wir nicht in der Lage sein, die Potenziale unserer Kinder auszuschöpfen und weiterzuentwickeln. Es wird sich hier ohnedies etwas ändern müssen, da die Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung ab dem nächsten Schuljahr entfällt. Für die Gymnasien könnte das zu einer verstärkten Heterogenität ihrer Schülerschaft führen. Der „Sprung“ zur GMS ist dann nicht mehr weit. Konkret geplant sind im Augenblick etwa 30 Schulen, die sich ab dem Schuljahr 2013/14 auf den Weg zur GMS begeben sollen. Die Stabsstelle, die im MKS eigens für Beratung und Genehmigung eingerichtet wurde, vermeldet großes Interesse von Gemeinden und Schulen, besonders im ländlichen Bereich. Von 60 Anträgen ist die Rede! Wie wir aber mittlerweile wissen, ist bei solchen Zahlen Vorsicht geboten. Noch unter der alten Landesregierung wurde schon von 60 Anträgen auf Reformschulen gemunkelt. Diese Zahl konnte aber im Nachhinein von niemand bestätigt werden. In der letzten Sitzung der Fachgruppe Gesamtschulen der GEW in Karlsruhe erfuhr ich von einem Kollegen der Staudinger Gesamtschule in Freiburg, dass man dort darüber nachdenke, einen Antrag auf Genehmigung als GMS zu stellen. Großes Erstaunen bei uns Gesamtschulleuten! „Was versprecht ihr euch denn davon?“, fragte eine Kollegin, „Seid ihr denn nicht schon Gemeinschaftsschule?“
Ja, das ist die große Frage. Wir wissen es noch nicht.
Jürgen Leonhardt