Die Gesamtschule, das ungeliebte Kind in Baden-Württemberg
Zu Beginn des Bildungsaufbruchs Anfang der 70-er Jahre gab es einmal sieben Gesamtschulen in BW, drei davon haben dem Ansturm der konservativen Bataillone über 40 Jahre lang bis heute standgehalten. Durch die Abwehrschlachten der Vergangenheit leicht lädiert, kann man die drei Überlebenden heute in Mannheim, Heidelberg und Freiburg besichtigen. Aber sind das heute noch Gesamtschulen?
Sie fahren maximal bis Klasse 7 integriert und bilden da auch noch drei Kurse in den Hauptfächern. Ab Klasse acht geht‘s ab in die drei Schularten des sogenannten Regelsystems.
Kollegen in anderen Bundesländern nennen das bestenfalls kooperative Gesamtschule. In BW spricht man von einem „verbrannten“ Begriff und von Ruinen aus der Zeit der Bildungsaufbrüche. Man dürfe heute die Gemeinschaftsschule und die Gesamtschule auch nicht in einen Topf werfen.
Darf man nicht?
Wenn ich den gerade erschienen Info-Flyer des Ministeriums zur Gemeinschaftsschule (GMS) anschaue, dann finde ich darin nichts, was nicht genau so für die Gesamtschule gelten würde.
Unverständlich ist auch, wenn die GMS-Kollegen den Gesamtschulen vorwerfen, sie würden ja auf drei verschiedenen Niveaus mit Fachleistungsdifferenzierung unterrichten und wären demzufolge nur der „kleine Bruder“ des gegliederten Systems.
Schauen wir einmal etwas genauer hin:
In der Verordnung des Kultusministeriums über die Sek.I der GMS vom 22.6.12 heißt es in §3 (1):
„Die Schüler werden in einem gemeinsamen Bildungsgang je nach ihren individuellen Leistungsmöglichkeiten entsprechend den Bildungsstandards der Hauptschule, der Realschule, des Gymnasiums oder der Sonderschule unterrichtet.“
Worin besteht der Unterschied zur Gesamtschule in BW? Warum eigentlich fragt kaum jemand einmal nach der Leistung dieser Schulart? Ist denn die unglaubliche Förderleistung dieser Schulart nicht von allgemeinem Interesse, auch für die Entwicklung der GMS? Keine andere Schulart in BW schafft es, mehr als 50 % ihrer sogenannten Haupt- und Realschüler/innen durch das Abitur zu bringen. Kaum eine andere Schulart schafft es, alle ihre Schüler/innen zu einem Abschluss zu führen, trotz (oder vielleicht wegen?) Kursystem. Wie macht die Gesamtschule das?
Natürlich gibt es darauf viele verschiedene Antworten. Aber die zentralen Punkte sind für mich: Beziehung und Motivation! *). Dies herzustellen ist den Gesamtschulen weitgehend gelungen. Motivation zu schaffen ist eine Kunst, die auf Beziehung basiert. Es ist die Kunst erfolgreicher Schulen und Lehrer/innen. Wir sollten uns in GMS und auch Gesamtschule mehr mit dieser Kunst, als vorwiegend nur mit den Techniken des Lehrens und Lernens beschäftigen. Wenn hierüber ein Konsens in der Schulpolitik erreicht werden könnte, wäre das ein weiterer Durchbruch in der Diskussion um die eine Schule für alle.
P.S.: Für die dritte Tranche der GMSen (2014/15) wurden 108 Anträge gestellt, darunter 15 Realschulen. Zusammen also bereits fast 240 Schulen.
_________________________________________________________
*) „Motivation schlägt Intelligenz“, Child Development, Volume 84, Issue 4, Müchen, 2013.
Jürgen Leonhardt