"Kann es wirklich sein, dass es seit 40 Jahren Gesamtschulen in Deutschland gibt - und diese JETZT, im Jahr 2009, anfangen Lernen mit heterogenen Lerngruppen zu üben?" - Eindrücke des taz-Redakteurs vom Bundeskongress in Hamburg.

CHRISTIAN FÜLLER

Wie geht eigentlich Gesamtschule?

Nach 40 Jahren stellt sich die Gretchenfragen einer integrierten Schule wieder neu: Wie lernt man in heterogenen Gruppen?

In der Runde sitzen 18 Leute. LehrerInnen und SchulleiterInnen von Gesamtschulen in ganz Deutschland. Der Workshop, den sie besuchen, handelt von der Jenaplanschule in Jena. Als die für einen Bildungskongress typische Vorstellungsrunde beendet ist, weiß man, worauf 16 der 18 Teilnehmer neugierig sind: Sie wollen wissen, wie individuelles Lernen eigentlich geht. "Das große Thema ist Binnendifferenzierung", sagt es stellvertretend eine Lehrerin der Bert-Brecht-Gesamtschule in Löhne, "weil wir die äußere Leistungsdifferenzierung aufheben wollen." So oder so ähnlich hatten es beinahe alle nacheinander formuliert.

Als auswärtiger Gast reibt man sich die Augen: Kann es wirklich sein, dass es seit 40 Jahren Gesamtschulen in Deutschland gibt – und diese JETZT, im Jahr 2009, anfangen Lernen mit heterogenen Lerngruppen zu üben? Es kann. Denn die Grundkonstruktion der Gesamtschule haben ja nicht diejenigen erfunden, die sie seit 40 Jahren machen. Sondern die Kultusminister, die bei einer Hafenrundfahrt im Jahr 1983 festlegten, wie Gesamtschule auszusehen habe: Wie eine kleine Kopie des gegliederten Schulsystems. Ab der siebten Klasse müssen die Schüler in den Hauptfächern sukzessive in Niveaugruppen geteilt werden – sogar in so genannten Integrierten Gesamtschulen.

Dieses Geburtsdilemma prägte auch die Podiumsdiskussion des Gesamtschulkongresses. Dort saßen Christa Goetsch, grüne Schulsenatorin aus Hamburg, Cornelia von Ilsemann (Bremen) und Steffen Zillich, schulpolitischer Sprecher der Linken (Berlin). Genauer saßen hier jene Bundesländer (Stadtstaaten), die eine generelle Schulstrukturreform angehen: Sie zielen auf eine zweigliedrige Verfassung. Auf der einen Seite das Gymnasium. Auf der anderen Seite eine Schulform, die ebenfalls zum Abitur führt. Sie heißt mal Stadtteilschule (Hamburg), mal Oberschule (Bremen), mal integrierte Sekundarschule (Berlin) und wird durch Fusion aus den Haupt- Real- und Gesamtschulen gebildet. Auf die Frage, warum Schulen, die das gleiche bedeuten, so unterschiedliche Namen bekommen, antworteten die Teilnehmer so ratlos wie lässig: Ja, was sollen wir machen! Wir sind in einer Diskussion, die schon im jeweiligen Land schwierig zu führen (und zu gewinnen) ist. Da wäre es nicht leicht, sich auch noch nach draußen mit anderen Ländern über Schulnamen abzustimmen.

Die Diskussion zeigte beides. Eine im Grunde unerhörte Einigkeit - und zugleich eine große Zerrissenheit.

Goetsch, von Ilsemann und Zillich haben ganz ähnliche Vorstellungen und Fragen. Sie müssen versuchen, die Entwicklung der neuen Schulen, die aus Fusionen entstehen, so intelligent wie möglich zu begleiten. Sie müssen ihnen eine Oberstufe oder eine Kooperation mit Oberstufen verschaffen, damit das Abitur wirklich zu einer Perspektive wird für Schüler, die diese Perspektive vorher nicht hatten. Und sie müssen etwas ziemlich Kompliziertes hinbekommen: das binnendifferenzierte Lernen in den Schulen anstoßen. "Die Schule der Zukunft ist eine autonome Schule", fasste Christa Goetsch das Entwicklungsmotto zusammen. Zu deutsch: Wir helfen denen, aber sie müssen ihre pädagogische Kultur letztlich selber entwickeln.

Aber die Diskutanten sind zugleich zerrissen. Denn sie stehen vor einem komplizierten Umgestaltungsprozess – in dem praktisch nur mehr oder weniger entschiedene Gegner der Reform auftauchen. Die Koalitionspartner wollen es jeweils immer ein bisschen anders. Die Eltern erweisen sich als ängstliche bis brachiale Gegner der Reform wie etwa in Hamburg und Berlin. Und natürlich wird von außen sehr skeptisch auf die Reform geblickt. Auch auf dem Hamburger Kongress formulierten viele überzeugte Gesamtschulaktivisten die Frage: Wieso geht ihr den Schritt zur Zweigliedrigkeit - wenn ihr doch wisst, dass man eigentlich nur eine "Schule für alle" braucht. Die Antwort des Podiums war in etwa die: Wenn wir überhaupt einen Schritt gehen wollen, dann diesen, dass es künftig nur noch Schulen mit Anschluss nach oben gibt. Mehr geht nicht.

Im Grunde beginnt nun die Arbeit am Detail. Und das muss jede Schule vor Ort selbst hinbekommen. Im Workshop der Jenaplanschule rissen die Fragen nach dem jahrgangsübergreifenden, also binnendifferenzierten Lernen nicht ab: Kann man so etwas auch im sozialen Brennpunkt hinbekommen? Wie bekommt man Fachlehrer dazu, sich an gemeinsamen, aber fachfremden Projekten zu beteiligen? Das wollten die Teilnehmer wissen. Die Praxis des individuellen Lernens, sie ist wieder am Anfang.