Die Fortbildungsverantwortliche für Begabten- und Begabungsförderung in Schleswig-Holstein beantwortete unsere Fragen.
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Begabungsförderung in SH Langfassung
Begabungsförderung in Schleswig-Holstein
Ein Interview
Christa Lohmann und Dieter Zielinski führten ein Interview mit Petra Schreiber am 24.09.2024 im IQSH
Das Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (IQSH) unterstützt die Schulen dabei, Begabungs- und Begabtenförderung ganzheitlich in ihrer pädagogischen Praxis umzusetzen. Zu den Angeboten des Instituts gehören u. a. Fort- und Weiterbildungsangebote, Beratung, die Springer-Förderung, die Ausbildung von Schülerpaten sowie die Verknüpfung mit der außerunterrichtlichen Begabtenförderung im Enrichment-Programm SH. Mit der Bund-Länder-Initiative „Leistung macht Schule“ (LemaS) ist ein großes Projekt hinzugekommen, das insbesondere auch die Gemeinschafts- und Grundschulen miteinbezieht. Petra Schreiber leitet das Sachgebiet für Begabten- und Begabungsförderung.
Die Grundlage des Interviews ist der Artikel „Begabungsförderung“, den das IQSH im Netz veröffentlicht hat.1
Nach herzlicher Begrüßung und unserer Frage nach ihrer Arbeit für LemaS eröffnet Frau Schreiber das Interview.
Schreiber (S): LemaS ist eine Initiative von Bund und Ländern zur Förderung leistungsstarker und potenziell besonders leistungsfähiger Schülerinnen und Schüler. Das führt uns auch gleich zu der Frage, welches Begabungs- und Leistungsverständnis in einer Schule zugrunde gelegt wird. Für mich ist der wesentliche Ausgangspunkt in der Bund-Länderinitiative LemaS, dass wir auch potenziell leistungsstarke Kinder und Jugendliche finden und fördern sollen. Das sind aus meiner Sicht ALLE…! Durch LemaS sollen die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen optimiert werden und zwar unabhängig von Herkunft, Geschlecht und sozialem Status. Es geht also nicht nur um eine reine Förderung von intellektuellen Begabungen, sondern um eine ganzheitliche, personorientierte Begabungsförderung.
Der positive und stärkenorientierte Blick von allen in Schule beteiligten pädagogischen Fachkräften ist die Grundlage für eine begabungsfreundliche Lern- und Lehrkultur, die in jeder Schulart gelebt werden sollte. Mit dieser positiven Pädagogik, die von einer professionellen Haltung getragen wird, können Förder- und Fordermöglichkeiten entwickelt, erprobt und etabliert werden. Die jetzige LemaS-Transferphase unterstützt mit ihren Materialien, den sogenannten P³rodukten (P³=Produkt-Person-Prozess) diese Entwicklung einer begabungs- und leistungsförderlichen Schul- und Unterrichtskultur. Derzeit werden die Produkte in drei Schulnetzwerken in Schleswig-Holstein erprobt.2
Wie kombinieren Sie die Begabungsförderung mit der inklusiven Schule, die ihr Unterrichtsangebot auf die ganze Breite der Schülerschaft ausrichtet? Vor allem an den Gemeinschaftsschulen ohne Oberstufe haben wir bekanntlich eine sehr durchmischte, teilweise schwierige Schülerklientel.
S: Es geht nicht, wie bereits angedeutet, um die bloße Aneignung von besonderen Methoden, den Einsatz von „geeigneten“ Materialien oder die Bereitstellung von Angeboten für ein paar ausgewählte Schülerinnen und Schüler. Begabungsförderung und inklusive Unterrichtsentwicklung wachsen immer im Kontext von innovativer Schulentwicklung. Inklusive Lernsettings haben dabei das Ziel, im Unterricht und in der Schulstruktur Raum für die Entfaltung der Potenziale von Kindern und Jugendlichen zu bieten. Die Begabungen müssen nicht unweigerlich in den Schulfächern auftreten. Wenn sie erfolgreiche Lernprozesse initiieren wollen, dann lohnt es sich, ein besonderes Augenmerk auf die systematische Entwicklung der Selbstkompetenzen ihrer Schülerinnen und Schüler zu legen. Auf dieser Grundlage entwickeln wir derzeit im IQSH die Kurse der Springerförderung inhaltlich weiter und weiten das Angebot auf die Gemeinschaftsschulen aus.
Wie macht man das denn, Begabungen bei Kindern zu finden? Bezieht sich das zunächst auf die Schulfächer oder geht es darüber hinaus?
S: Da heißt es: Achtung! Begabungen lauern überall! Es lohnt sich auf jeden Fall auf Schatzsuche im Klassenzimmer zu gehen. So gibt es sicher viel mehr Kinder und Jugendliche, die begabt sind, aber dieses vielleicht nicht gerade im Unterricht zeigen. Vor allem dann nicht, wenn die Aufgabenformate wenig divergentes Denken zulassen und das interessengesteuerte Lernen wenig Berücksichtigung findet. Wir müssen uns in Schulen fragen, an welchen Stellen wir Freiraum für Persönlichkeitsentwicklung schaffen können, damit wir über die Stärkung der Selbstkompetenz auch eine Steigerung der Fach- und Methodenkompetenzen bewirken.
Das ist ein weiter Weg. Wie schaffen Sie den Zusammenhalt in einer sehr heterogen zusammengesetzten Lerngruppe?
S: Sie können den Zusammenhalt stärken, indem sie Lern- und Begegnungsräume schaffen. Wenn sie der Grundannahme folgen, dass jedes Kind besonders ist und jedes Kind über besondere Stärken verfügt, dann gibt es keine Ausnahmeregelungen bei individuellen Fördermaßnahmen. Da sind wir wieder bei der Haltung und der Rollenvielfalt der Lehrkraft, die die Prozesse auf verschiedenen Ebenen moderieren und begleiten muss.
Wie können Lehrkräfte dafür sensibilisiert werden, dass sie besondere Begabungen erkennen?
S: In den Fort- und Weiterbildungen halten wir unterschiedliche Formate in Präsenz vor (siehe Fachportal3 und formix4). Wir bieten zudem auch ein kostenloses e-learning Programm5 an, in dem die einzelnen Handlungsfelder gelungener Begabungsförderung beleuchtet werden. Betrachtet werden die Bereiche Diagnose, Dialog, Entwicklung und Kompetenz, um dem Anspruch einer ganzheitlichen Potenzialentwicklung von Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden.
Das Programm arbeitet mit verschiedenen digitalen Formaten wie Videos, animierten Erklärstücken, Interviews mit Personen aus der Wissenschaft, Praxis und außerschulischen Fachdisziplinen. Darüber hinaus gibt es vertiefende Texte und Beispiele. Über weiterführende Fragestellungen werden die Pädagogen aufgefordert, über die eigene Arbeit zu reflektieren und das zuvor Gelernte in die eigene Handlungspraxis und persönliche Einstellung einzuordnen.
Wir haben es mit einer hochkomplexen Heterogenität zu tun auf allen Feldern, ethnisch, religiös, soziale Herkunft usw. Wenn das in der Ausbildung, in der ersten Phase nicht berücksichtigt wird, dann ist es ganz schwer für die Lehrkräfte, damit klar zu kommen.
S: Ja, die Anforderungen an das Lehrerhandeln sind komplex und da braucht es u. a. Flexibilität, Reflexivität und natürlich auch Fachwissen. Im Bereich der Begabten- und Begabungsförderung erhalte ich nach den Fortbildungen häufig die Rückmeldung, dass allein schon das Wissen um die besonders oder hochbegabten Kinder (die ja keine homogene Gruppe darstellen!) ihnen enorme Erleichterung verschafft und vor allem mehr Sicherheit für ihre eigene pädagogische Praxis bringt. Eine reine „Wissensvermittlung“ in der ersten Lehrerphase führt aber noch nicht zum kompetenten Handeln in der Praxis. Es gilt immer wieder darum, selbstkritisch das eigene Handeln zu beleuchten. Hier planen wir aktuell mit unseren universitären Beratungsstellen ein Format, in dem fachwissenschaftliche Module unmittelbar mit der schulischen Praxis verknüpft werden. Wir haben in Schleswig-Holstein so viel innovative und hochentwickelte Schulen, die Lösungen für die genannten Herausforderungen gefunden haben! Der schleswig-holsteinische und deutsche Schulpreis machen dies jährlich sichtbar. Ich würde sagen, in diesem Zusammenhang ist Abgucken und Weitersagen ausdrücklich erwünscht. (Anm. d. Red: hierzu Lisa Kunze, Begabungsförderung im Dialog an der Anne-Frank-Schule Bargteheide, in diesem Heft)
Sie haben gesagt, Sie machen viel über Fort- und Weiterbildung. Im Text über die Begabungsförderung heißt es, dass Sie passgenaue Schulentwicklungstage anbieten. Könnten Sie das bitte für uns konkretisieren?
S: Es geht darum, dass sich Schulen immer standortspezifisch und ressourcenabhängig für die Begabungsförderung weiterentwickeln. Dabei schauen wir mit den Beteiligten auf den aktuellen Schulentwicklungsprozess und identifizieren zuallererst die vorhandenen Stärken. Oft wirkt die Begabungs- und Begabtenförderung als Katalysator für Schulentwicklungsprozesse, weil es im Wesentlichen um die Qualitätskriterien des Kerngeschäftes von Schule und damit von gutem Unterricht und guter Schule geht. Für das Kollegium und die Schulleitung sind die von uns durchgeführten Potenzialanalysen eine Bestätigung ihrer bisher geleisteten Arbeit. Begabungsförderliche Strukturen zu etablieren, bedeutet kein grundlegendes Umdenken, sondern systematisches Weiterentwickeln der Prozesse und offen bleiben für interne und externe Impulse. Wie beim forschenden Lernen: Die Neugierde und Experimentierfreude erhalten.
Ich komme nochmal auf die Haltung zurück. Ist das auch ein Aspekt in Ihren Fortbildungsveranstaltungen?
S: Als Aspekt würde ich das nicht bezeichnen, eher als zentralen Bestandteil, der implizit in jeder unserer Fortbildungsveranstaltungen verankert ist. Die „richtige“ Haltung können wir ja nicht verordnen, nur immer wieder vorleben und nach den „guten“ Prinzipien handeln. Daher braucht es in Schule immer wieder einen lebendigen Diskurs, eine Verständigung über die Frage „Was leitet uns?“ Das ist eine äußerst wichtige Auseinandersetzung für die die Zeit im schulischen Alltag häufig zu fehlen scheint – dennoch ist sie gewinnbringend, weil sie letztendlich vereint und damit stärkt.
In Ihrem Artikel steht: „Individuelle unterrichtliche Lernarrangements sind grundsätzlich von außerunterrichtlichen Formen der Begabungsförderung zu trennen. Allerdings sollen diese nebeneinanderstehenden Bausteine durch gute Abstimmung der Lehrkräfte, Eltern, Lernenden und außerschulischen Anbietern so ineinandergreifen, dass passende Angebote die betreffenden Lernenden erreichen.“ Was heißt das konkret?
S: Die Enrichment-Angebote in SH vertiefen und erweitern die thematischen und methodischen Unterrichtsangebote und ermöglichen begabten Schülerinnen und Schülern eine zusätzliche, außerschulische Förderung.
Zudem haben alle Schulen in unserem Land die Möglichkeit, ihre Schüler:innen an dem kostenlosen Angebot der länderübergreifenden „Digitalen Drehtür“6 teilnehmen zu lassen. Die Seminare finden auch vormittags statt und damit parallel zum Unterricht.
Nimmt also eine Schülerin, ein Schüler solch ein besonderes Angebote wahr, z. B. an Wettbewerben oder den Juniorakademien, dann ist die Einbindung dieser Inhalte in die schulische Praxis ein entscheidender Faktor für die ganzheitliche Begabungsförderung. Dieses Selbstverständnis würde die Akzeptanz von unterschiedlichen Förder- und Forderbedarfen erhöhen und damit das Risiko der Ausgrenzung im Klassenverband verringern.
Wir sollten diese Vorgehensweise insbesondere für die Weiterentwicklung der Ganztagsschulen nutzen. Die Verknüpfung von Vor- und Nachmittagsangeboten und die erforderliche Zusammenarbeit von verschiedenen Berufsgruppen bietet für die Förderung von Begabungen, aber auch für die Entdeckung von Potenzialen eine besondere Chance.
Zum Schluss noch die ganz konkrete Frage nach LemaS in Schleswig-Holstein
S: Wir können im Schuljahr 2023/24 unsere drei LemaS-Schulnetzwerke gut in die vorhandene Struktur der hiesigen Begabungs- und Begabtenförderung einbinden. Die seit 2010 bestehenden Kompetenzzentren in der Sek. I/II, Kompetenzzentren Kita-Grundschule und die sogenannten SHiB-Schulen (Schleswig-Holstein inklusive Begabtenförderung) bieten mit ihrer individuellen Expertise beste Voraussetzungen, um die LemaS-Leitidee langfristig in regionalen Kompetenznetzwerken umzusetzen.
Unser Ziel ist es, dass allen Schülerinnen und Schülern in Schleswig-Holstein die Chance geboten wird, ihre Stärken und Talente zu entwickeln und dies unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht oder ihrem sozialen Status. In diesem Kontext erhoffen wir uns auch eine qualitative Vernetzung mit der Bund-Länder-Initiative „Startchancen“, den Bildungsregionen unserer Perspektivschulen, um die Bildungsbiografien von allen Kindern bestmöglich begleiten zu können.
Damit wurde das Interview beendet, und wir bedankten uns für das hochinteressante Gespräch.
1 https://www.schleswig-holstein.de/DE/fachinhalte/B/begabtenfoerderung/schulBegabungsfoerderung
2 https://www.schleswig-holstein.de/DE/fachinhalte/B/begabtenfoerderung/schulBegabungsfoerderung
3 https://fachportal.lernnetz.de/
4 https://formix.lernnetz-sh.de/
6 https://digitale-drehtuer.de/
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2024/4