GGG Magazin
ImFokus – SchuleImFokus:
– Stärken entdecken & entfalten
GGGaktiv:
– HA-Berichte
– Innovationskongress Oberstufe
– Eine Schule für alle und die AfD
Das ganze Heft: DIE SCHULE FÜR ALLE 2024/4
INHALT
Editorial / Impressum
IMPRESSUM WER FÜR UNS SCHREIBT
Editorial hier lesen
Editorial
Dieter Zielinski
Für dieses Magazin hatten wir, die Redaktion, schnell Konsens über unseren Themenschwerpunkt, aber Schwierigkeiten, uns auf eine Formulierung für den Titel zu verständigen. Schließlich einigten wir uns auf Stärken entdecken und entfalten. Zur Diskussion standen auch Begriffe wie Begabung, Potenziale bzw. Talente sowie die Verben ermöglichen und entwickeln. All das sollte den inhaltlichen Schwerpunkt des Magazins zum Ausdruck bringen. Am heftigsten debattierten wir darüber, ob das Verb „begaben“ das Gemeinte ausdrückt. Vielleicht regt es Sie, liebe Leserin, lieber Leser, auch an, sich Gedanken über die Bedeutung der Begriffe zu machen.
Mit den Artikeln setzen wir uns mit einem Grundanliegen der Schulen des gemeinsamen Lernens auseinander. Nämlich damit, wie es bei aller Heterogenität, die wir als konstituierend für unsere Schulen ansehen, gelingen kann, wirklich allen Schüler:innen zu ermöglichen, ihre Stärken zu erkennen und ihre Potenziale zu entfalten. Dies erfordert u. a. eine Abkehr von einer defizitorientierten zu einer stärkenorientierten Sicht auf deren Leistungen. Besonders deutlich wird dies, wenn es um den Lernerfolg neurodivergenter Lernender geht. Siehe dazu den Artikel „Verkannte Stärken“ von Peter Ehrich.
Im ersten Artikel in der Rubrik „Im Fokus“ erinnert Christa Lohmann daran, dass Heinrich Roth bereits 1969 in dem von ihm herausgegebenen Gutachten „Begabung und Lernen“ festgestellt hat, dass Lernleistungen von zahlreichen Faktoren abhängig und nicht durch statische, auf ererbten Anlagen beruhende Begabungen festgelegt sind. Dass dies auch heute noch gilt, belegen die Analysen von John Hattie, über die Ursula Reinartz berichtet. Eva-Maria Osterhues-Bruns stellt in ihrem Gastbeitrag die Bund-Länder-Initiative „Leistung macht Schule“ (LemaS) und deren Bedeutung für die Grundschule ins Zentrum ihrer Ausführungen. LemaS nimmt die Potenzialentfaltung aller Schüler:innen in den Fokus. Damit verbunden ist auch ein Perspektivwechsel von einer herkömmlichen Begabtenförderung, die sich einzelnen Schüler:innen zuwendet, zu einer Begabungsförderung, die alle Lernenden im Blick hat. Christian Fischer führt mit seinem Artikel in die Idee einer transformativen Begabungsförderung ein, in der es vor dem Hintergrund der globalen Herausforderungen nicht allein um personenorientierte Kompetenzen, sondern auch um gemeinwohlorientiertes Handeln und Verantwortungsübernahme geht. Schließlich gibt uns Petra Schreiber am Beispiel von Schleswig-Holstein darüber Auskunft, was ein Bundesland unternimmt, um LemaS, Begabungs- und Begabtenförderung mit Fortbildungsmaßnahmen für Lehrkräfte zu unterstützen. Mit Petra Schreiber haben wir ein Interview geführt.
In unserer Rubrik „Schulen im Fokus“ berichten wir in fünf sehr unterschiedlichen Beispielen, mit welchen Schwerpunkten Begabungsförderung und auch Begabtenförderung in der Praxis umgesetzt wird. Das kann so verschieden sein, wie die Arbeit mit Lernentwicklungsportfolios, über die Lisa Kunze, Bargteheide, berichtet, oder die Förderung von Leistungssportlern an der Gesamtschule Berger Feld in Gelsenkirchen.
Natürlich informieren wir auch diesmal wieder aus unserer Verbandsarbeit. Besonders besorgt sind wir zurzeit über die nach den letzten Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg zugenommenen Möglichkeiten der AfD, in Regierungsverantwortung zu kommen. In einer Presseerklärung unseres Hauptausschusses fordern wir von allen demokratischen Parteien, die demokratische Kultur im Bildungswesen zu stärken und jegliche Regierungsbeteiligung der AfD zu verhindern. Ergänzend dazu haben wir Christa Lohmann gebeten, einen Kommentar darüber zu verfassen, inwieweit unsere Vorstellungen einer demokratischen, die Vielfalt der Schüler:innen bejahenden Schule gefährdet wären, würde die AfD Regierungsverantwortung übernehmen. Das Ergebnis: Von unseren Vorstellungen bliebe nicht viel übrig.
Liebe Leserin und lieber Leser, ich wünsche Ihnen auch im Namen der Redaktion viel Gewinn beim Lesen der Artikel in diesem Magazin.
Schulpreis 2024
Wir gratulieren zum Deutschen Schulpreis.
Unser Glückwunsch richtet sich an alle, die an diesen Schulen lernen, dort arbeiten oder als Eltern beteiligt sind. Sie alle sorgen für ein gutes Schulklima, ohne das ein solcher Preis nicht erreichbar ist.
Auf ihren Websites stellen sich die Schulen vor:
Friedenauer Gemeinschaftsschule Wilhelm-von-Humboldt-Gemeinschaftsschule
Übrigens...
beide Schulen sind Ganztags- und Langformschulen (Jahrgänge 1–13), arbeiten inklusiv und jahrgangsübergreifend (1–3, 4–6, 7–9), kennen kein Sitzenbleiben, verzichten auf äußere Leistungsdifferenzierung und geben keine Noten bis Jahrgang 9. Beide sind GGG-Mitglieder.
Informieren Sie sich auch auf der Schulpreis-Website und lesen Sie u. a. die Laudationes:
Laudatio Friedenauer Gemeinschaftsschule Laudatio Wilhelm-von-Humboldt-Gemeinschaftsschule
Gastbeitrag von E.-M. Osterhues-Bruns
LemaS für die Grundschule
hier lesen
Begabungen fördern durch LemaS – die Bund-Länder-Initiative Leistung macht Schule
Eva-Maria Osterhues-Bruns
Mit der Initiative Leistung macht Schule (LemaS) haben das Bundesbildungsministerium (BMBF) und die Kultusministerkonferenz (KMK) 2016 ein Programm initiiert, welches die Potenzialentfaltung von Schülerinnen und Schülern in den Fokus rückt. LemaS ist auf insgesamt zehn Jahre ausgelegt und startete im Schuljahr 2017/2018. Die Initiative gliedert sich in zwei, jeweils fünf Jahre andauernde Förderphasen. Während die erste Phase auf die Entwicklung von Strategien, Konzepten und Materialien für eine lernförderliche Schul- und Unterrichtskultur ausgerichtet war, steht in der jetzigen zweiten Phase der Transfer der entwickelten Konzepte in eine breitere schulische Praxis im Vordergrund.
Hintergrund zur Entstehung
Zahlreiche Schulleistungsstudien wie PISA, TIMMS, IGLU oder der IQB-Bildungstrend weisen seit vielen Jahren darauf hin, dass zu viele Kinder Mindeststandards nicht erreichen. Auch für den Primarbereich zeigt der letzte IQB-Bildungsbericht auf, dass der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die den Mindeststandard in den Fächern Mathematik und Deutsch nicht bewältigen im Vergleich zum letzten Bildungstrend gestiegen ist. Gleichzeitig hat auch der Anteil der leistungsstarken Schülerinnen und Schüler, die den Regelstandard erfüllen oder übertreffen, in beiden Fächern abgenommen (vgl. KMK 2022).
Um gerade auch leistungsstarken Schülerinnen und Schülern im Unterricht gerecht werden zu können, entwickelte die KMK bereits im Jahr 2015 eine Förderstrategie mit dem Ziel, „die Förderung von leistungsstarken und potenziell leistungsfähigen Schülerinnen und Schülern zu verbessern“ (KMK 2015, S. 3). Aus diesem Beschluss ist die Initiative Leistung macht Schule erwachsen.
Die zweite Phase von LemaS
Mit Beginn der zweiten Phase und dem damit verbundenen Transfer in eine breite Schulöffentlichkeit legt das BMBF verstärkt einen Fokus darauf, zukünftig Lernsettings so zu gestalten, dass „in Zukunft viel mehr Kinder die Chance erhalten, ihre Potenziale und Talente unabhängig von ihrer sozialen Herkunft zu entwickeln“ (BMBF 2020. In: Fischer / Fischer-Ontrup 2021, S. 38).
Bedeutung von LemaS für die Grundschule
Gerade der Grundschule als Schule für alle Kinder kommt somit eine zentrale Bedeutung zu. Hier gilt es, Lernarrangements zunehmend so zu gestalten, dass Kinder Lerngelegenheiten erhalten, die an ihren individuellen Lernvoraussetzungen und -interessen anknüpfen. Sie müssen die Chance erhalten, neue Themen zu entdecken – aber auch die Zeit, allein oder mit anderen, sich in diese Themen zu vertiefen und eigene, neue Lernwege erproben zu können. Portfolios oder Lerntagebücher als individuelle Lernnachweise dokumentieren Lernfortschritte und Leistungen der Kinder. Zugleich setzen solche Lernarrangements eine enge Begleitung durch die Lehrkräfte voraus, um das Erkennen, insbesondere von spezifischen Leistungspotenzialen einzelner Schülerinnen und Schüler, zu ermöglichen. In Lerngesprächen zwischen Kindern (und Eltern) und Lehrkräften können dann besondere Leistungen und Potenziale thematisiert und nächste Schritte einer Förderung ausgelotet werden. Kinder zu stärken, indem ihre Potenziale entdeckt und gefördert werden, ist eine zentrale Aufgabe der Grundschule und eine Kernforderung des Grundschulverbandes. Solche Lernsettings können daher dazu beitragen, besondere Potenziale von Schülerinnen und Schüler zu entdecken, Bildungsbenachteiligungen zu reduzieren und Chancengerechtigkeit zu erhöhen.
GGGaktiv
Berichte aus der bildungspolitischen Verbandsarbeit
Die ganze Rubrik GGG aktiv mit allen Artikeln steht Ihnen zum Herunterladen zur Verfügung.
J. Knigge-Blietschau: Bericht vom Hauptausschuss
Ein Neuling im Hauptausschuss der GGG. Er will wiederkommen.
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Stimmungsbericht
von der Hauptausschusssitzung in Bad Sassendorf
Johann Knigge-Blietschau
Nach drei Jahren als Co-Vorsitzender unseres kleinen, aber sehr feinen Landesverbandes Schleswig-Holstein habe ich im September zum ersten Mal an der Hauptausschusssitzung teilgenommen. Für mich war das eine horizonterweiternde Erfahrung.
Natürlich hatten wir mit Dieter Zielinski als Bundesvorsitzendem und langjährigem Landesvorsitzenden immer einen kurzen Draht zur Bundes-GGG. Darum wusste ich, welche wichtigen Aktivitäten die GGG auf Bundesebene entfaltet. Aber der Hauptausschuss hat für mich greifbar gemacht, wie bundesweit vernetzt und handlungsfähig unser Verband ist. Allerdings wurde auch deutlich, dass wir in der Altersstufe unter 50 noch deutlich stärker werden müssen.
Handlungsfähig – dieser Anspruch wurde gleich beim ersten großen inhaltlichen Thema deutlich: Auf welchem Weg kommen wir zur einen Schule für alle? Der Auftakt dazu war gelungen: In einem sehr interessanten Impulsreferat von Rainer Dahlhaus wurden die zahlreichen Hindernisse auf diesem Weg thematisiert. Im Zentrum stand dabei die Bündelung sozialer Problemlagen an Schulen des gemeinsamen Lernens in der Konkurrenz zu Gymnasien, unterlegt mit sehr aufschlussreichem Zahlenmaterial, insbesondere Sozialindizes. Die Weiterarbeit an diesem Thema wurde zunächst an die Bundesarbeitsgruppe Politik delegiert. Der Kampf für die eine Schule für alle ist angesichts der zunehmenden Bildungsungerechtigkeit objektiv immer wichtiger. Auch wenn die Aussicht, ihn in absehbarer Zeit zu gewinnen, ausgesprochen schlecht sind, ist es dennoch motivierend, das große Ziel nicht aus dem Auge zu verlieren. Es zeugt vom Selbstbewusstsein unseres Verbandes.
Beeindruckt war ich von den Berichten vom Bundeskongress in Sachsen. Auch hier wurde für mich die strategische Handlungsfähigkeit der GGG in einer Weise deutlich, die ich bis dahin nicht gesehen hatte: Einen großen Kongress mit lokalen Partnern in einem Bundesland zu veranstalten, wo die Schulen des gemeinsamen Lernens noch schwach sind, ist eine großartige Leistung, für die alle Verantwortlichen zu Recht überschwängliches Lob bekommen haben. Ich bin sehr gespannt, ob es gelingt, eine ähnlich erfolgreiche Veranstaltung 2026 in Thüringen durchzuführen. Das ist zumindest der Plan.
Fachlich hochinteressant war der Vortrag zur äußeren Differenzierung in den Schulen des gemeinsamen Lernens. Der per Video zugeschaltete Referent Dr. Benjamin Edelstein hatte anhand der Schulgesetze der Bundesländer die Schulstruktur mit einem Fokus auf die integrierten Schulformen analysiert. Dabei zeigte sich, dass eine vollständige Integration der Schülerinnen und Schüler in binnendifferenzierten Lerngruppen keineswegs vorausgesetzt werden kann. Die Aufteilung der Schüler*innen zumindest in Kursen, die verschiedenen Bildungsgängen zugeordnet werden, ist nach wie vor weit verbreitet – in Schleswig-Holstein existiert diese nur noch als Ausnahme vom gemeinsamen Unterricht. Damit ist SH in der Integration relativ weit vorn – aber auch in unserem Bundesland gibt es Schulen, die es mit der „Verkursung“ in den oberen Klassenstufen so weit treiben, dass die Schülerinnen und Schüler kaum noch in einer Klasse zusammensitzen.
Dies ist kein vollständiger Bericht. Es gab noch zahlreiche weitere wichtige Impulse – nicht zuletzt die Bemühungen, die Website der GGG neu zu gestalten. Inhaltlich waren diese drei Tage sehr angefüllt und spannend. Vor allem habe ich mich aber auch gefreut, die Aktiven unseres Verbandes aus den anderen Bundesländern beim abendlichen Zusammensein näher kennen zu lernen. Unterkunft, Verpflegung und Logistik waren perfekt. Ich bin sehr froh, an der Tagung teilgenommen zu haben und freue mich auf das nächste Mal.
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2024/4
G. Lein: Gemeinsamer Werte-Unterricht in einer Schule für alle
Gemeinsamer Werteunterricht für alle und/oder Religionsunterricht ist hier die Frage.
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Gemeinsamer Werteunterricht
in einer Schule für alle
Gerhard Lein
Die GGG setzt sich seit Bestehen für die Schule für alle ein, in der Schülerinnen und Schüler nicht nach Leistung oder sonstigen Merkmalen eingeteilt oder sortiert werden. Wie wir wissen, ist das ein langwieriger Kampf. Ein gemeinsames Unterrichtfach, in das wir die trennenden Religionsunterrichte und dazu den Ethik-Philosophie-Religionskunde-Unterricht für religionsfern aufwachsende Schüler*innen überführen sollten, gehört im Grund dazu!
Das einzige Unterrichtsfach, das es in unser Grundgesetz geschafft hat, ist der Religionsunterricht. Im Artikel 7 Absatz 3 steht u. a., dass er „unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechts … in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt“ wird, und Ländersache ist. Was in den Anfangsjahren der Bundesrepublik unproblematisch, einfach und überschaubar schien, immerhin waren über 90 % der Bürgerinnen und Bürger Mitglieder einer der beiden großen Religionsgemeinschaften, hat sich zu einer verwirrenden Vielfalt entwickelt. Heute geht es nicht mehr nur um evangelischen oder katholischen Religionsunterricht. In Hamburg haben z. B. fünf verschiedene Religionsgemeinschaften, in Hessen über zehn das gesetzliche Recht, „ihren“ schulischen Religionsunterricht durchzuführen. Dabei sind auch islamische und alevitische Religionsgemeinschaften, nicht jedoch z. B. die buddhistische, die noch auf diese Anerkennung wartet. Die Länderregelungen sind sehr unterschiedlich.
Nur noch die Hälfte der bundesdeutschen Bevölkerung ist Mitglied einer Religionsgemeinschaft
Nun hat sich hierzulande auch die Religionszugehörigkeit insgesamt dramatisch verändert. Nur noch die Hälfte der bundesdeutschen Bevölkerung ist Mitglied einer Religionsgemeinschaft oder fühlt sich einer zugehörig So haben es jüngst die 5. Studie der EKD zur Kirchenmitgliedschaft1 oder der Bertelsmann-Religionsmonitor2 festgestellt. Ca. die Hälfte der Schülerinnen und Schüler besuchen nach Erreichen der Religionsmündigkeit mit 14 Jahren weiterhin den Religionsunterricht, die anderen melden sich für alternative Pflichtunterrichte – zumeist Philosophie, Ethik oder wie auch immer die Länder sie bezeichnen, auch hier von Land zu Land sehr unterschiedlich.
Nicht alle Bundesländer bieten den Erziehungsberechtigten in den Klassen 1–4, 5/6 einen Alternativunterricht und drängen deren Kinder auf diese Weise unfair in einen Religionsunterricht hinein. In einigen Bundesländern rücken die Religionsgemeinschaften zusammen, bilden einen konfessionell-kooperativen evangelisch-katholischen – oder gar „religionspluralen“ Religionsunterricht. Das vorgebliche Motiv: Besser miteinander und voneinander lernen als getrennt übereinander reden.
Gegenstand des Religionsunterrichts sind Bekenntnisinhalte und Glaubenssätze so das BVerfG
Religionsunterricht, so hat es das Bundesverfassungsgericht am 25.2.1987 entschieden, ist jedoch „keine überkonfessionelle vergleichende Betrachtung religiöser Lehren, nicht bloße Morallehre, Sittenunterricht, historisierende und relativierende Religionskunde, Religions- und Bibelgeschichte. Sein Gegenstand ist vielmehr der Bekenntnisinhalt, nämlich die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Diese als bestehende Wahrheit zu vermitteln, ist seine Aufgabe.“ (BVerfGE 74, 244 (252)). Wer weiß, wie lange innerreligiöse, synkretistische Modelle des Zusammengehens höchstrichterlichen Bestand haben werden.
Kooperationstendenzen bei Religionsgesellschaften können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Religionsunterricht auf trennende bzw. konkurrierende Bekenntnisse ausgerichtet ist. Und angesichts der schon erwähnten religions-demografischen Entwicklung in unserem Land schließt er zudem die stark zunehmende Zahl konfessionsfreier Menschen aus einem im Grunde eigentlich erwünschten Dialog aus.
Was wir brauchen ist ein gemeinsames Fach
Was wir brauchen ist ein gemeinsames Fach, in dem Schülerinnen und Schüler lernen, sich über Werte in unserer Gesellschaft auszutauschen; dabei sollen sie auch Religionen und deren Wertvorstellungen kennen lernen und – gerade, wenn sie Erfahrungen mit ihnen haben – sich auch kritisch auseinandersetzen. Dies alles in Verantwortung des Staates und nicht einzelner konkurrierender Religionsgesellschaften.
Genauso wie im Gesellschaftskunde-/Politik-Unterricht bei Unterrichtenden, die Mitglieder von Parteien sind, kein sozialdemokratischer oder christdemokratischer Unterricht gemacht werden darf.
Wem könnten eine Diskussion und Propagierung dieser Forderung besser zustehen als der GGG, einer Organisation, die sich seit Bestehen einsetzt für ein gemeinsames Lernen in einer nicht ausgrenzenden Schule, und dem Grundschulverband, dem wir als GGG herzlich verbunden sind.
In der Bevölkerung haben wir eine deutliche Mehrheit für einen gemeinsamen Ethikunterricht. Das Marktforschungsinstitut GFK (Nürnberg) fand 2022 in einer repräsentativen Studie dafür eine klare Mehrheit von 72 Prozent. Dass sich ein beträchtlicher Teil der Befragten (50 %) auch für ein zusätzliches freiwilliges Fach Religionslehre ausspricht, irritiert nicht, wenn zugleich nur gerade 28 % wollen, dass alles so bleibt3 .
Nicht unerwähnt bleiben soll eine weitgehend unbekannte Bestimmung unseres Grundgesetzes. Im Artikel 7 (3) heißt es: „Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach.“ Schaut man in den Länder-Schulgesetzen nach, dann findet man keines, in dem die bekenntnisfreie Schule (ohne Religionsunterricht!) auch nur genannt wird.
Dr. Dieter Galas, ehem. Schulleiter der IGS Langenhagen und GEW-Niedersachsen-Vorsitzender, hat dieses Unterlaufen einer Grundgesetzbestimmung vor einiger Zeit durch eine (leider erfolglose) Petition an den Landtag wieder bewusst gemacht. Die Bundes-Fachgruppe Gesamtschulen der GEW hat jüngst beschlossen, das Thema „Bekenntnisfreie Schule“ auf den Bundes-Gewerkschaftstag der GEW zu bringen. Schulen müssen ein Recht erhalten, den Weg zu einer bekenntnisfreien Schule beschreiten zu dürfen!
Der Hauptausschuss der GGG hat sich mit dem Thema beschäftigt
Die Diskussion im Hauptausschuss am 24.9.2024 spiegelte nicht nur die Vielfalt der Regelungen in den Bundesländern wider, sondern ließ auch die große Zahl von Versuchen erkennen, die komplizierte Situation schulisch handhabbar zu machen. Dazu wurde von allerlei Bemühungen der Schulverwaltungen, aber auch von schulinternen Regelungen und Verabredungen berichtet. Und klar, die GGG begibt sich auf ein schwieriges Feld, wenn sie hier eine Meinungsbildung Richtung gemeinsamer Unterricht und Lernen mit- und voneinander, nicht nebeneinander her vorantreiben will. Hier werden wir einen langen Atem brauchen, aber das kennen wir. Konsens war, dass die GGG am Ball bleiben, Gespräche mit unseren Bündnispartnern Grundschulverband und GEW führen und das Thema vielleicht bei den Himmelfahrtstagungen sowie beim nächsten Bundeskongress auf die Tagesordnung bringen will.
Wer sich tiefer einlesen möchte, dem sei das Buch „Religionsunterricht oder Ethikunterricht? Entstehung des Religionsunterrichts – Rechtsentwicklung und heutige Rechtslage – politischer Entscheidungsbedarf“ von Hartmut Kreß empfohlen. Erschienen 2022 im Nomos Verlag. Erfreulicherweise ist das teure Buch im open access zugänglich4. Meine Rezension gibt es im Humanistischen Pressedienst5.
1 https://www.ekd.de/vernetzte-vielfalt-68334.htm
2 https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/religionsmonitor/ueber-die-studie
3 https://fowid.de/meldung/religions-und-oder-ethikunterricht
4 https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783748932116.pdf?download_full_pdf=1
5 https://hpd.de/artikel/religionsunterricht-oder-ethikunterricht-20499
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2024/4
D. Zielinski: Innovationskongress 'Oberstufe 2024'
Wie kommen wir zu einer zukunftsfähigen Oberstufe? Ideen sind da, aber auch Hindernisse.
hier lesen
Innovationskongress
Oberstufe 2024
Dieter Zielinski
Der erste Innovationskongress Oberstufe fand am 13. und 14. September 2024 auf Einladung des Bündnisses für ein zukunftsfähiges Abitur1, dem die GGG angehört, an der Humboldt-Universität Berlin sowie der Evangelischen Schule Berlin-Zentrum statt. Anknüpfend an die Potsdamer Erklärung2 ging es darum, „die Innovationskräfte zu vernetzen und über innovative und teilweise heute schon praktizierte Modelle an Schulen ins Gespräch zu kommen.“
Weit mehr als 300 Personen aus dem gesamten Bundesgebiet hatten sich zu diesem Kongress angemeldet und damit ein Zeichen für das Interesse und den Veränderungsbedarf an Fragen der Zukunftsfähigkeit des Abiturs gesetzt.
In ihrem Eröffnungsvortrag nahm Prof. Dr. Anne Sliwka von der Universität Heidelberg eine Einordnung vor. Nach ihrer Analyse entwickelten sich heute alle wichtigen Initiativen aus der Zivilgesellschaft heraus. Zunehmende Unsicherheiten und eine unsere Gesellschaft insgesamt verändernde digitale Revolution machten es erforderlich, auch die Bildung für das 21. Jahrhundert neu zu denken. Künftig werde es nach Sliwka wesentlich mehr auf Metakognitionen wie z. B. Selbstregulation, Selbstreflexion, Eigenverantwortlichkeit und Teamfähigkeit ankommen. „Teach less – learn more“ sei jetzt die Devise. Wie eine pädagogische Praxis dazu aussehen könne, beschrieb sie mit dem „deeper-learning“-Modell.
Anregend waren die anschließend von Jöran Muuß-Merholz präsentierten Visionen zur Schule im Jahr 2040, auch wenn diese aufgrund einer Erkrankung des Darstellers nur filmisch gezeigt werden konnten.
Mit diesen Perspektiven wechselten die Teilnehmer:innen den Veranstaltungsort und begaben sich in die Evangelische Schule Berlin-Zentrum. Hier wurde das Programm am Nachmittag mit einem Angebot von mehr als 20 Workshops fortgesetzt, u. a. zu Themen wie „Abitur und Gesellenbrief“, „Digital hybride Oberstufenkurse“, „Lern- und Feedbackkultur in einer zeitgemäßen Oberstufe“ aber auch „Politische Rahmenbedingungen für ein zukunftsfähiges Abitur“.
Welche Überlegungen auf der administrativen Ebene zurzeit in Bezug auf die Umsetzung der zuletzt von der KMK beschlossenen „Vereinbarung zur Gestaltung der gymnasialen Oberstufe und der Abiturprüfung“ angestellt würden, beschrieb der in Vertretung seiner Ministerin Julia Willie Hamburg angereiste Abteilungsleiter des Niedersächsischen Kultusministeriums Carsten Milde. Seine Darstellungen zeigten insbesondere, dass im Rahmen der getroffenen Vereinbarung manches möglich wird, aber auch, dass das Korsett in Bezug auf die Zukunftsfähigkeit der Oberstufe noch viel zu eng geschnürt ist.
Dass administrative Vorgaben und Praxiserfahrungen zusammengebracht und in Wechselwirkung weiter entwickelt werden müssen, war für mich die wichtigste Erkenntnis aus diesem Kongress. Wie dies möglich sein könnte, wurde in der Vorstellung einer in Hamburg eingerichteten Kommission zur Entwicklung von Qualitätskriterien für den Umgang mit alternativen und komplexeren Prüfungsformaten wie z. B. Klausurersatzleistungen deutlich.
Zur Lebendigkeit des Kongresses trugen auch die aktive Beteiligung von Schüler:innen und die immer wieder eingestreuten Innovationsimpulse z. B. von Andreas Schleicher (filmisch) oder Ralph Brinkhaus (in Präsenz) bei. Zusammengefasst gesagt war es eine rundum gelungene und dem Anliegen, einem zukunftsfähigen Abitur näher zu kommen, befördernde Veranstaltung. Stellvertretend für das gesamte Vorbereitungsteam seien hier Friedemann Stöffler und Inge Gembach-Röntgen für die perfekte Vorbereitung und Organisation gedankt. Für den 18./19. September 2026 ist eine Fortführung des Kongresses mit noch mehr Teilnehmer:innen geplant.
1 https://www.buendnis-zukunft-abitur.de/das-buendnis/
2 https://www.buendnis-zukunft-abitur.de/wp-content/uploads/2024/02/Potsdamer-Erklaerung-Download.pdf
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2024/4
Die Schule für alle und die AfD: Inkompatibel!
Eine Schule für alle: Die AfD will das Gegenteil – GGG-Presseerklärung und ergänzender Kommentar von Christa Lohmann
hier lesen
Eine Schule für alle und die AfD: Inkompatibel!
Der Hauptausschuss im September dieses Jahres hat sich mit den Vorstellungen der AfD und insbesondere mit ihren bildungspolitischen Absichten beschäftigt. Ein Fazit zieht die GGG-Pressemitteilung vom 22.9.2024, die wir hier auszugsweise wiedergeben. Christa Lohmann ergänzt sie und zeigt in ihrem Kommentar, in welch erschreckendem Maße die AfD sich gegen die Eine Schule für alle und das zu Grunde liegende Menschenbild wendet.
Wehren wir uns
– unsere demokratische Gesellschaft ist gefährdet!
GGG-Pressemitteilung vom 22.09.2024:
Die GGG nimmt Stellung zu den Wahlergebnissen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg.
Mit großer Sorge blicken die Mitglieder des GGG-Hauptausschusses, der vom 20.09. bis zum 22.09.2024 in Bad Sassendorf getagt hat, auf die Landtagswahlergebnisse in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Die in den ersten beiden Ländern als gesichert rechtsextrem, in Brandenburg als Verdachtsfall eingeschätzte AfD hat Wahlergebnisse erzielt, die ihr weiteren politischen Einfluss ermöglichen. Schon jetzt hat die AfD über ihre parlamentarische Präsenz erheblichen Einfluss auf die politische Debatte, sollte sie an der Regierung beteiligt werden, wäre sie in der Lage, ihre grundgesetzwidrigen, dem Menschenrecht widersprechenden Vorstellungen auch im Bildungsbereich umzusetzen.
Die vollständige Pressemitteilung
Achtung! Demokratie in Gefahr
Ein Kommentar von Christa Lohmann
Nach den hohen Wahlerfolgen für die AfD in drei Bundesländern, davon zweimal mit einer Sperrminorität ausgestattet, wächst meine Sorge um die Stabilität der demokratischen Strukturen und unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt; wächst meine Angst, dass die GGG und mit ihr die Schulen des gemeinsamen Lernens wie z. B. Gesamt- und Gemeinschaftsschulen in ihren Zielvorstellungen für Schule und Lernen massiv gefährdet sind.
- Wir setzen uns für Heterogenität und den damit verbundenen kulturellen, religiösen und ethnischen Reichtum ein, von dem alle Lernenden profitieren – die AfD will autochthone Klassen, nach einem strengen Leistungsprinzip ausgewählt, damit eine völkische Elite gefördert werden kann.
- Wir bekennen uns zur inklusiven Schule – die AfD hält Inklusion für ein Ideologieprojekt, bei dem die Stärkeren von den Schwächeren ausgebremst werden. Sie unterstützt deshalb den Erhalt von Förder- und Sonderschulen.
- Wir setzen uns für Diversität in Schulen und in der Gesellschaft ein – sie propagiert den völkischen Staat mit ihrem Wahlslogan „Deutschland für die Deutschen“.
- Über Schule hinaus befürworten wir das Asylrecht, um von Verfolgung und Tod bedrohten Menschen Schutz zu geben – die AfD, die an dem Potsdamer Treffen beteiligt war, hat „Remigration“ angekündigt, nicht zuletzt seien die Migrantenkinder schuld an den schlechten Leistungsergebnissen.
- Wir bemühen uns in unseren Schulen darum, kein Kind zu beschämen, jedem einzelnen Jugendlichen gerecht zu werden, seine Möglichkeiten zu sehen und zu entwickeln – die AfD lehnt Individualisierung ab, fordert wieder hartes Durchgreifen und Strafen wie ein Kind in die Ecke stellen.
- Wir wollen mit den Kindern und Jugendlichen auf Augenhöhe kommunizieren, Regeln verständlich machen, damit sie Teilhabe und Mitbestimmung lernen können – die AfD will die autoritäre Schule, um damit auch jeglicher Verweichlichung entgegenzuwirken. Echte Männlichkeit soll in der Erziehung wieder eine Rolle spielen. Ich erinnere aus der Nazi-Zeit das Postulat: „Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl, flink wie die Windhunde“. Das Pendant dazu ist der von der AfD geforderte Mut zur Mutterschaft, wie auch von Hitler damals gefordert, und zu einer kinderreichen, gesunden Familie.
- Unser Ziel ist die demokratische Schule1, die im Unterricht und in den Strukturen der Schule Mitbestimmung und Mitentscheidung erleben lässt – die AfD propagiert das Demokratieverbot. Es darf an Schulen keine politische Aufklärung mehr geben. Mittel für politische Bildung sollen ebenso abgeschafft werden wie Landesprogramme für Toleranz und Weltoffenheit. Initiativen gegen Antisemitismus, Schulfahrten zum KZ Buchenwald o. ä. Projekte werden sofort nach Regierungsübernahme durch die AfD verboten.
Was sich hier zusammenbraut2, weckt übelste Erinnerungen an die Jahre nach Hitlers Machtergreifung. Wenige hatten damals Hitlers „Mein Kampf“ gelesen und waren später überrascht, dass man Vieles von den politischen Entscheidungen hätte wissen können, die Deutschland ins Unglück gestürzt haben. Hätte uns mehr Wissen retten können? Mit Sicherheit nicht allein. „Erleben und Handeln sind besser als Bücher“ schreibt Prof. Aladin El Mafaalani in einem Interview. Politische Bildung ist unerlässlich in der Schule, aber noch wichtiger ist, dass Schülerinnen und Schüler eine demokratische Schule erleben, in der Teilhabe praktiziert wird und die jungen Menschen erleben, dass ihre Mitbestimmung Gewicht hat und ausgehandelte Kompromisse zu Lösungen führen können.
1 s. auch „Die Schule für alle“ 2021/2 Demokratie, Demokratische Schule – Schule der Demokatie, https://ggg-web.de/publikationen/ggg-zeitschrift/1495-die-schule-fuer-alle-2021-2
2 PROGRAMM FÜR DEUTSCHLAND. Das Grundsatzprogramm der Alternative für Deutschland. Stuttgart 2016
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2024/4
ImFokus
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C. Lohmann: Begabung ist dynamisch und keine statische Größe
Bereits 1969 wusste man: Begabung ist entwickelbar.
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Begabung ist dynamisch
und keine statische Größe
Christa Lohmann
Mit Heinrich Roth wurde die Bildungsforschung revolutioniert, weg von der Vorstellung der ererbten Begabung, hin zu der Forderung, Begabung zu entwickeln; weg von dem genetisch dummen Kind hin zu einem Unterricht, der die Talente und Fähigkeiten aller Lernenden entdeckt und fördert.
Die Forschung entdeckt einen neuen Begriff des Lernens
Die 68er waren der Beginn bildungs- und schulpolitischer Reformen. Der Deutsche Bildungsrat, 1965 von Bund und Ländern gegründet, fungierte 1966–75 als Kommission für Bildungsplanung. „[Diese] hielt es für angemessen, einen Ausschuss von wissenschaftlichen Sachverständigen einzurichten, der das Problem der Begabung, Begabungsförderung und Begabungsauslese“ nach dem Stand der gegenwärtigen Forschung darstellt“1 (S. 17). Entstanden ist daraus das Gutachten Begabung und Lernen2. Die 16 Wissenschaftler in dem von Heinrich Roth herausgegebenen Band waren sich einig, dass Pauschalbegriffe wie Begabung oder Intelligenz keine entscheidende Rolle mehr spielen. Der Zentralbegriff wird der Lernbegriff, ein neuer Begriff des Lernens, ausdifferenziert in Lernfähigkeit, Lernprozess, Lernerfahrungen, Lernzuwachs, Lernleistungen sowie deren Steuerung und Steigerung. Lernleistungen, so der Ausschuss, sind von weit mehr und auch von weit bedeutsameren Bedingungsfaktoren abhängig als nur von dem Faktor Begabung im Sinne einer erblich eindeutigen Anlage. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die verschiedenen Faktoren, die eine Lernleistung beeinflussen, dann eine besonders günstige, lernfördernde Wirksamkeit haben, wenn sie zusammenwirken und sich gegenseitig unterstützen (S. 22).
Welche Bedingungsfaktoren sind für Lernleistungen verantwortlich?
Der Ausschuss entwickelte demzufolge eine Untersuchungsstrategie, nach der die verschiedenen Sachverständigen in ihren jeweiligen Gutachten – 14 an der Zahl – eindeutig und präzise darlegen sollten, „welche Persönlichkeits- oder Umweltvariable als Bedingungsfaktoren für das Zustandekommen von Lernleistung gemeint ist“ (S. 19). Im Einzelnen wurden untersucht:
- der biogenetische Anteil, d. h. die Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit der Lernleistungen (Begabung) von erbbestimmten Anlagen,
- der entwicklungspsychologische Anteil, d. h. die Abhängigkeit bzw. die Unabhängigkeit der Lernleistungen von endogenen Reifeprozessen, die Bedeutung altersspezifischer Lernbereitschaften und die Rolle sachstrukturell bedingter Sequenzen im Lernprozess,
- der Anteil der Leistungsmotivation, d. h. die Abhängigkeit der Lernleistungen von der Lernmotivation, von der Anstrengungsbereitschaft zu lernen,
- die Abhängigkeit dessen, was wir Begabung nennen, von transferfördernden Lernprinzipien, deren Anwendung in Lehrverfahren den Lernenden befähigt, auch die höchste intellektuelle Leistungsfähigkeit, das Problemlösen, zu erlernen,
- der Anteil der Lernangebote in der frühen Umwelt, d. h. die Abhängigkeit der Lernleistungen von den Lernangeboten und Lernerfahrungen in der Familie, wie sie in Sozialisationstheorien enthalten sind,
- der Anteil der sprachlichen Anregungs- und Lernangebote in der frühen Umwelt, d. h. die Abhängigkeit von der schichtspezifischen Unterschiedlichkeit des kulturellen Milieus der Elternhäuser,
- der Anteil der Bildungswilligkeit der Eltern, ihre Einstellung zu Schule, Schulleistung, Schulerfolg,
- die Frage der begabungsgerechten Auslese während der Schulzeit,
- die Frage, inwieweit das Lehrerurteil in Zeugnissen, Noten etc. den Lernleistungen gerecht wird – die Frage nach der Objektivität,
- die Frage nach der Zuverlässigkeit der Abiturnoten als Voraussage für die Studierfähigkeit.
- Schließlich sollte untersucht werden, inwieweit Schulorganisation, Lehrpläne, Lehrverfahren, Lehrerverhalten und Lernmittel auf die Entwicklung von Begabungen und die Steigerung von Lernleistungen Einfluss nehmen (S. 20f.).
Lernleistungen verbessern heißt, die Effizienz des ganzen Erziehungsfeldes zu erhöhen
Im Abschlusskapitel seiner Einleitung hält Roth als durchgängigen Erkenntnisgewinn aller Gutachten die erkannte und erforschte Vielfalt von Bedingungsfaktoren fest, die an der Effektivität von Lern- und Lehrprozessen beteiligt sind. Einseitige Aussagen über eine einzige Variable halten keiner ernsthaften Kritik stand. „Man darf also, wenn man von Begabung spricht, nicht an eine isolierte und statische Größe denken, die es als solche nicht gibt, sondern an eine dynamische Veränderliche in einem Netz von Bezugsgrößen, die alle mitentscheiden, ob Potentialitäten entwickelt oder nicht entwickelt werden. Wer die Lernfähigkeiten und Lernleistungen in einem Schulwesen verbessern will, muß versuchen, die Wirksamkeit aller Faktoren, die Effizienz des ganzen Erziehungsfeldes, zu erhöhen“ (S. 65).
Roths Forschungen haben die Pädagogik der Gesamtschule stark befruchtet
Unabhängig von der Neudefinition, was Begabung ist bzw. nicht ist, weisen die einzelnen Themen der wissenschaftlichen Untersuchungen weit in die spätere Arbeit und Entwicklung der Gesamtschulen hinein, für die es zeitgleich mit Begabung und Lernen die ersten Schulversuche gab. Z. B. die Bedeutung der Motivation, die frühkindliche Erziehung, die Rolle der Familie, die schichtspezifisch unterschiedlichen Herkunftsmilieus der Kinder, die Problematik des Lehrerurteils und vor allem der Zusammenhang der gesamten Schulorganisation auf Lernen und Lernleistung.
Auch wenn der Begriff nicht fällt, weist Roth bereits zu diesem Zeitpunkt auf die Bedeutung von Individualisierung hin, wenn er effektives Lernen dadurch gelingen sieht, dass jeder nach seinen Neigungen, Erfolgen und Fortschritten Schwerpunkte bilden darf, dass Neigungsgruppen gebildet werden und dass man Lehrgänge schneller durchlaufen darf. Und er vergisst nicht darauf hinzuweisen, dass Lehrer so ausgebildet sein müssen, dass sie dergleichen Anforderungen gerecht werden (S. 67).
1 Deutscher Bildungsrat. Gutachten und Studien der Bildungskommission, 4. Begabung und Lernen. Stuttgart 1969
2 Bis 1970 lagen u. a. auch die Gutachten zur Ganztagsschule und Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen vor.
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2024/4
U. Reinartz: John Hattie und der Begabungsbegriff
Zwischen vererbter Intelligenz und erworbenen Fähigkeiten: Lernen bei John Hattie heißt Ausbau des individuellen, noch nicht verwirklichten Potenzials.
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John Hattie
und der Begabungsbegriff
Ursula Reinartz
Welche Relevanz hat Begabung für erfolgreiches Lernen bei John Hattie? Und in welchem Verhältnis stehen Begabung und Lernen zueinander?
Potenzial statt Begabung
John Hattie legt in „Visible Learning 2.0“ (1) den Begriff „Potenzial“ zu Grunde.
„Die Grundaussage dieses Buches ist, dass jedes Kind von Geburt an ein Lernender ist. Alle sind unterrichtbar, alle können sich entwickeln und allen kann beigebracht werden das Lernen wertzuschätzen“ (Hattie, S. 95). So ist es das Ziel eines jeden, das ihm zugeschriebene oder auch selbst angedachte Potenzial zu erreichen, oder besser noch, zu erkennen, dass er oder sie darüber hinaus gehen kann (Hattie, S. 96f).
Intelligenz und Lernleistung
Laut einer Untersuchung von Hattie und Hansford aus dem Jahr 1982 besteht eine Korrelation von 0,51 zwischen Intelligenzmessung und Lernleistung. „Das ist ein hoher Wert, aber es gibt viele weitere Möglichkeiten, die Lernleistung von allen Schülerinnen und Schülern zu verbessern – unabhängig von ihrer Intelligenz“ (Hattie, S. 63).
Inwiefern ist Intelligenz oder angelegte Begabung nach John Hattie 2024 ausschlaggebend für den Lernerfolg? Prüft man die von ihm untersuchten Faktoren daraufhin, so wird man am ehesten mit den Begriffen „vorausgehende Fähigkeiten & Intelligenz“ und „vorausgehendes Leistungsniveau“ fündig (2) Beide Faktoren haben danach jeweils eine große Bedeutung mit einer hohen Effektstärke und Sicherheit im Ergebnis. Beide Begriffe beinhalten allerdings sowohl beim Lernenden angelegte als auch durch vorheriges Lernen erworbene Fähigkeiten (Hattie, S. 62f.) und sind dahingehend nicht trennscharf abgrenzbar.
John Hattie setzt aber seinen Fokus auf das Lernenkönnen, indem er sagt: „… wenn wir die aktuellen Leistungen als auch das intellektuelle Potenzial kennen, [sind wir] besser in der Lage …, das noch nicht verwirklichte Potenzial zu verstehen“ (Hattie, S.63).
Bedeutsam ist, dass aus den über 200 Untersuchungskriterien seiner Auswertung von Metastudien vor allem die Aspekte eine besondere Wirksamkeit haben, die mit einer positiven Erwartung des Lernenkönnens verbunden sind, sei es vonseiten der Eltern, der Lehrenden oder der Lernenden selbst.
Einstellungen und Haltung des Lernenden selbst spielen beim Erwerb von Fähigkeiten eine überaus große Rolle: die „Beurteilung der eigenen Leistungsfähigkeit“, „positive Selbstwirksamkeitserwartungen“ und ein „positives Selbstkonzept“. Hinzu kommen „Feldunabhängigkeit“, nämlich die Fähigkeit vom Ganzen her und analytisch zu denken, „kritisches Denken“ und „exekutive Funktionen“ (3), die die Steuerungen von Denkprozessen beinhalten.
Außerdem ist eine positive Gefühlslage gegenüber dem Lernen wichtig: Emotionen, wie „Freude“, „Neugierde“ und auch schlichtweg „Glücklichsein“ beim Lernen. (4) Dazu gehört auch „emotionale Intelligenz“, die sich laut John Hattie auf „Fähigkeiten, emotionsbezogene Informationen zu regulieren, zu steuern und zu zeigen, sowie auf die Selbstkontrolle und Selbstmotivation“ (5) beziehen (Hattie, S. 78–81). (6)
Äußere unterstützende Einflüsse sind Elternhaus, Schule, Schulbehörden, Curricula, Technologien u. v. m. Dabei kommt es darauf an, „den Lernenden zu helfen, ihr Potenzial auszuschöpfen, … mit ihnen zusammenzuarbeiten, um das zu übertreffen, was sie für ihr Potenzial halten“ (Hattie, S. 96).
Der wichtigste Faktor für erfolgreiches Lernen überhaupt
Der wichtigste Faktor für Lernen überhaupt liegt aber in der „Kollektiven Wirksamkeitserwartung“ durch die Lehrerinnen und Lehrer und in der „Einschätzung des Leistungsniveaus durch die Lehrperson“ (7). Es liegt in der gemeinsamen Verantwortung der Lehrenden, die Lernenden zum eigenständigen Lernen zu ermächtigen und eine entsprechend positive Zuschreibung und Erwartungshaltung für den Erfolg zu legen.
Festzuhalten bleibt: Für John Hattie gibt es keine festgeschriebene Begabung, sondern ein umfassendes „Potenzial“, das für den Lernenden ausbaufähig ist – ausgehend von seinem aktuellen Leistungsniveau und auf die zukünftigen Lernmöglichkeiten bezogen.
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2024/4
C. Fischer: Begabungsförderung – Ein Schlüssel für die Gestaltung unserer Zukunft
Anlass und Anspruch aktueller Begabungsforschung und transformativer Begabungsförderung – eine Bestandsaufnahme
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Begabungsförderung
– Ein Schlüssel für die Gestaltung unserer Zukunft
Christian Fischer
Die globalen Herausforderungen verdeutlichen, dass ein gesellschaftlicher Wandel dringend erforderlich ist. Die nachhaltige Gestaltung unserer Zukunft erfordert Akteur:innen mit ausgeprägtem analytisch-kritischen Engagement und ethischer Verantwortungsübernahme. Dabei kann die transformative Begabungsförderung von jungen Menschen im schulischen Kontext einen wegweisenden Beitrag leisten.
Transformative Begabungsförderung bei jungen Menschen
Angesichts der aktuellen globalen Herausforderungen (z.B. Weltklima, Weltgesundheit, Weltfrieden) ist ein fundamentaler ökologischer, ökonomischer und sozialer Wandel in unserer Gesellschaft dringend erforderlich. Die aktive Gestaltung derartiger Transformationsprozesse erfordert Akteur:innen mit hochentwickelten Kompetenzen verbunden mit einer ausgeprägten Persönlichkeit bezogen auf ein analytisch-kritisches Engagement und ethische Verantwortungsübernahme (Sternberg, 2017). Dazu bedarf es eines personenorientierten Wissens, aber auch eines gemeinwohlorientierten Handelns, das sich heute schon bei besonders engagierten jungen Menschen zeigt, die sich für eine nachhaltige Zukunftsgestaltung in unserer Gesellschaft engagieren. Bei diesen Personen mit zivilgesellschaftlichem Engagement und kreativem Problemlösungsverhalten werden neben adaptiven Fähigkeitspotenzialen (z. B. Kommunikation, Kreativität, kritisches Denken) auch transformative Persönlichkeitspotenziale (z .B. Motivation, Resilienz, Achtsamkeit) sichtbar. Wie das in die Fläche getragen werden kann, ist Anlass und Anspruch heutiger Begabungsforschung und transformativer Begabungsförderung. Grundlage einer derartigen nachhaltigen Potenzialentwicklung sind exzellente innovative Lernumgebungen vor allem im schulischen Kontext, welche die vielfältigen Potenzialbereiche von Personen in sozialen Kontexten ansprechen (Fischer & Fischer-Ontrup, 2023).
Im Rahmen der transformativen Begabungsförderung wird auf der einen Seite die Transformation individueller Potenziale in domänenspezifische Performanz (z. B. Sprachen, Mathematik, Naturwissenschaften) bezogen auf die Verantwortungsübernahme für die eigenen Lernprozesse in den Blick genommen. Auf der anderen Seite wird die Transformation persönlicher Potenziale in zukunftsgerechte Performanz (z. B. kreatives Problemlösen, ethisches Engagement) im Hinblick auf die Verantwortungsübernahme für die gesellschaftliche Zukunftsgestaltung adressiert. Dieses transformative Begabungsverständnis fokussiert die aktuellen globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, für deren Bewältigung es junger Menschen bedarf, die zur Lösung dieser Probleme beitragen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen (Sternberg, 2023). So zielt die transformative Begabungsförderung bei jungen Menschen darauf, persönliche Entwicklungen zu realisieren, aber auch gesellschaftliche Veränderungen im Sinne der nachhaltigen Entwicklung zu initiieren (Fischer & Fischer-Ontrup, 2023). Diese Zusammenhänge werden im transformativen Modell der Begabungs- und Leistungsentwicklung (TMBL) mit Blick auf die nachhaltige Potenzial- und Performanzentwicklung von Personen in sozialen Kontexten beschrieben, wobei eine adaptive Lernumgebung auf der Personen-, Institutionen- und Systemebene verbunden mit einer wachstumsorientierten Haltung bedeutsam ist (Fischer et al., 2024).
Adaptive Lernarchitekturen zur nachhaltigen Potenzialentwicklung
Der Erwerb von zukunftsfähigen Gestaltungskompetenzen junger Menschen – fokussiert auf die langfristige zivilgesellschaftliche Verantwortungsübernahme – erfordert im Sinne einer Bildung für nachhaltige Potenzialentwicklung adaptive Lernarchitekturen vor allem im schulischen Kontext, wie in der Förderinitiative „Leistung macht Schule“ (LemaS). Dabei werden zunächst individuelle Lernpotenziale zur Verantwortungsübernahme für das eigenen Lernen nachhaltig entwickelt, bevor entfaltete Leistungspotenziale zur Verantwortungsübernahme für die gesellschaftliche Zukunft (z. B. im Rahmen der Nachhaltigkeits-, Demokratie- oder Friedensbildung) eingesetzt werden. Die Expertise zum eigenständigen Lernen wird vor allem in Lernarchitekturen zum selbstregulierten forschenden Lernen erworben, während die Agency, die Handlungsfähigkeit im Sinne eines gemeinwohlorientierten Agierens insbesondere durch Lernformate zum transformativen problembasierten Lernen entwickelt werden kann (Fischer & Fischer-Ontrup, 2023).
So kann die Kompetenz zum selbstregulierten Lernen etwa im Rahmen von diagnosebasierten individualisierten Förderformaten (diFF) erworben werden, welche Strategien des selbstregulierten forschenden Lernens (d. h. Informationsverarbeitung, Lernprozesssteuerung, Selbstregulation) fördern und herausfordern (Fischer et al., 2021). Dabei werden drei Ziele fokussiert: 1) Entwicklung von Lerninteressen mittels individueller Spezialthemen, 2) Herausforderung von Lernpotenzialen mittels eigenständiger Forschungsarbeiten, 3) Förderung von Lernkompetenzen mittels adaptiver Strategievermittlung. Hier ist die adaptive Lernbegleitung von Lehrpersonen zentral, damit diese im Sinne des Scaffolding (engl. „Gerüst“, d. h. Unterstützungsangebot angepasst an die Lernpotenziale) die Zone der proximalen Entwicklung der Lernenden bezogen auf die zunehmende Verantwortungsübernahme für eigene Lernprozesse ermöglichen (van de Pol, Volman & Beishuizen, 2010). In diesen diagnosebasierten Förderformaten werden sechs Phasen (1. Förderdiagnostik, 2. Themenwahl, 3. Informationsrecherche, 4. Produktdokumentation, 5. Ergebnispräsentation, 6. Projektreflexion) der Unterrichtsentwicklung adressiert, aber auch die Schulgestaltung (z. B. Leitbildentwicklung, Qualifizierung) fokussiert (Vohrmann, Fischer & Fischer-Ontrup, 2020).
Die Bereitschaft zum gemeinwohlorientierten Handeln kann etwa im Kontext von adaptiven Förderformaten zur nachhaltigen Zukunftsgestaltung entwickelt werden, wobei Lernende zunächst Wissen zu den Sustainable Development Goals erwerben, um dann ihr Umfeld durch Aktionen zu nachhaltigem Engagement zu bewegen (Kohnen, Fischer & Fischer-Ontrup, 2021). Das digital gestützte Format orientiert sich an den Prinzipien des Design Thinking als einem systematischen, iterativen Prozess, bei dem produktorientierte Lösungen zu realen Problemstellungen konzipiert werden (Shivley, Stith & Rubenstein, 2021). Ein Fokus liegt auf den 21st Century Skills (d. h. Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken), womit die Verantwortungsübernahme für die gesellschaftliche Zukunft in den Blick genommen wird. Dies gilt auch für das Förderformat zum Sustainable Entrepreneurship, das mit Blick auf nachhaltige unternehmerische Initiativen ebenfalls Phasen des Design Thinking umfasst (1. Problem finden, 2. Problemfeld erkunden, 3. Problem definieren, 4. Lösungsideen entwickeln, 5. Lösung/Prototypen entwickeln, 6. Lösung/Prototypen testen), wobei neben der Unterrichtsentwicklung auch die Schulgestaltung und Professionalisierung in den Fokus rückt (Fischer & Fischer-Ontrup, 2023).
Diese adaptiven Lernarchitekturen sind stets von potenzial- und wachstumsorientierten Denkweisen geprägt, die sich an der Idee des Growth Mindset (Dweck, 2006) ausrichten verbunden mit der Erkenntnis, dass die Potenziale junger Menschen entwickelbar und veränderbar sind. Konkret zeigt sich eine wachstumsorientierte Haltung von Lehrpersonen in hohen Erwartungen, ausgeprägtem Vertrauen und individueller Unterstützung (Lokhande & Grießig, 2021); diese Denkweise ist im Schulischen Kontext vor allem für Lernende aus bildungsbenachteiligten Lagen bedeutsam.
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2024/4
P. Schreiber (im Interview): Begabungsförderung in Schleswig-Holstein
Die Fortbildungsverantwortliche für Begabten- und Begabungsförderung in Schleswig-Holstein beantwortete unsere Fragen.
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Begabungsförderung in SH Langfassung
Begabungsförderung in Schleswig-Holstein
Ein Interview
Christa Lohmann und Dieter Zielinski führten ein Interview mit Petra Schreiber am 24.09.2024 im IQSH
Das Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (IQSH) unterstützt die Schulen dabei, Begabungs- und Begabtenförderung ganzheitlich in ihrer pädagogischen Praxis umzusetzen. Zu den Angeboten des Instituts gehören u. a. Fort- und Weiterbildungsangebote, Beratung, die Springer-Förderung, die Ausbildung von Schülerpaten sowie die Verknüpfung mit der außerunterrichtlichen Begabtenförderung im Enrichment-Programm SH. Mit der Bund-Länder-Initiative „Leistung macht Schule“ (LemaS) ist ein großes Projekt hinzugekommen, das insbesondere auch die Gemeinschafts- und Grundschulen miteinbezieht. Petra Schreiber leitet das Sachgebiet für Begabten- und Begabungsförderung.
Die Grundlage des Interviews ist der Artikel „Begabungsförderung“, den das IQSH im Netz veröffentlicht hat.1
Nach herzlicher Begrüßung und unserer Frage nach ihrer Arbeit für LemaS eröffnet Frau Schreiber das Interview.
Schreiber (S): LemaS ist eine Initiative von Bund und Ländern zur Förderung leistungsstarker und potenziell besonders leistungsfähiger Schülerinnen und Schüler. Das führt uns auch gleich zu der Frage, welches Begabungs- und Leistungsverständnis in einer Schule zugrunde gelegt wird. Für mich ist der wesentliche Ausgangspunkt in der Bund-Länderinitiative LemaS, dass wir auch potenziell leistungsstarke Kinder und Jugendliche finden und fördern sollen. Das sind aus meiner Sicht ALLE…! Durch LemaS sollen die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen optimiert werden und zwar unabhängig von Herkunft, Geschlecht und sozialem Status. Es geht also nicht nur um eine reine Förderung von intellektuellen Begabungen, sondern um eine ganzheitliche, personorientierte Begabungsförderung.
Der positive und stärkenorientierte Blick von allen in Schule beteiligten pädagogischen Fachkräften ist die Grundlage für eine begabungsfreundliche Lern- und Lehrkultur, die in jeder Schulart gelebt werden sollte. Mit dieser positiven Pädagogik, die von einer professionellen Haltung getragen wird, können Förder- und Fordermöglichkeiten entwickelt, erprobt und etabliert werden. Die jetzige LemaS-Transferphase unterstützt mit ihren Materialien, den sogenannten P³rodukten (P³=Produkt-Person-Prozess) diese Entwicklung einer begabungs- und leistungsförderlichen Schul- und Unterrichtskultur. Derzeit werden die Produkte in drei Schulnetzwerken in Schleswig-Holstein erprobt.2
Wie kombinieren Sie die Begabungsförderung mit der inklusiven Schule, die ihr Unterrichtsangebot auf die ganze Breite der Schülerschaft ausrichtet? Vor allem an den Gemeinschaftsschulen ohne Oberstufe haben wir bekanntlich eine sehr durchmischte, teilweise schwierige Schülerklientel.
S: Es geht nicht, wie bereits angedeutet, um die bloße Aneignung von besonderen Methoden, den Einsatz von „geeigneten“ Materialien oder die Bereitstellung von Angeboten für ein paar ausgewählte Schülerinnen und Schüler. Begabungsförderung und inklusive Unterrichtsentwicklung wachsen immer im Kontext von innovativer Schulentwicklung. Inklusive Lernsettings haben dabei das Ziel, im Unterricht und in der Schulstruktur Raum für die Entfaltung der Potenziale von Kindern und Jugendlichen zu bieten. Die Begabungen müssen nicht unweigerlich in den Schulfächern auftreten. Wenn sie erfolgreiche Lernprozesse initiieren wollen, dann lohnt es sich, ein besonderes Augenmerk auf die systematische Entwicklung der Selbstkompetenzen ihrer Schülerinnen und Schüler zu legen. Auf dieser Grundlage entwickeln wir derzeit im IQSH die Kurse der Springerförderung inhaltlich weiter und weiten das Angebot auf die Gemeinschaftsschulen aus.
Wie macht man das denn, Begabungen bei Kindern zu finden? Bezieht sich das zunächst auf die Schulfächer oder geht es darüber hinaus?
S: Da heißt es: Achtung! Begabungen lauern überall! Es lohnt sich auf jeden Fall auf Schatzsuche im Klassenzimmer zu gehen. So gibt es sicher viel mehr Kinder und Jugendliche, die begabt sind, aber dieses vielleicht nicht gerade im Unterricht zeigen. Vor allem dann nicht, wenn die Aufgabenformate wenig divergentes Denken zulassen und das interessengesteuerte Lernen wenig Berücksichtigung findet. Wir müssen uns in Schulen fragen, an welchen Stellen wir Freiraum für Persönlichkeitsentwicklung schaffen können, damit wir über die Stärkung der Selbstkompetenz auch eine Steigerung der Fach- und Methodenkompetenzen bewirken.
Das ist ein weiter Weg. Wie schaffen Sie den Zusammenhalt in einer sehr heterogen zusammengesetzten Lerngruppe?
S: Sie können den Zusammenhalt stärken, indem sie Lern- und Begegnungsräume schaffen. Wenn sie der Grundannahme folgen, dass jedes Kind besonders ist und jedes Kind über besondere Stärken verfügt, dann gibt es keine Ausnahmeregelungen bei individuellen Fördermaßnahmen. Da sind wir wieder bei der Haltung und der Rollenvielfalt der Lehrkraft, die die Prozesse auf verschiedenen Ebenen moderieren und begleiten muss.
Wie können Lehrkräfte dafür sensibilisiert werden, dass sie besondere Begabungen erkennen?
S: In den Fort- und Weiterbildungen halten wir unterschiedliche Formate in Präsenz vor (siehe Fachportal3 und formix4). Wir bieten zudem auch ein kostenloses e-learning Programm5 an, in dem die einzelnen Handlungsfelder gelungener Begabungsförderung beleuchtet werden. Betrachtet werden die Bereiche Diagnose, Dialog, Entwicklung und Kompetenz, um dem Anspruch einer ganzheitlichen Potenzialentwicklung von Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden.
Das Programm arbeitet mit verschiedenen digitalen Formaten wie Videos, animierten Erklärstücken, Interviews mit Personen aus der Wissenschaft, Praxis und außerschulischen Fachdisziplinen. Darüber hinaus gibt es vertiefende Texte und Beispiele. Über weiterführende Fragestellungen werden die Pädagogen aufgefordert, über die eigene Arbeit zu reflektieren und das zuvor Gelernte in die eigene Handlungspraxis und persönliche Einstellung einzuordnen.
Wir haben es mit einer hochkomplexen Heterogenität zu tun auf allen Feldern, ethnisch, religiös, soziale Herkunft usw. Wenn das in der Ausbildung, in der ersten Phase nicht berücksichtigt wird, dann ist es ganz schwer für die Lehrkräfte, damit klar zu kommen.
S: Ja, die Anforderungen an das Lehrerhandeln sind komplex und da braucht es u. a. Flexibilität, Reflexivität und natürlich auch Fachwissen. Im Bereich der Begabten- und Begabungsförderung erhalte ich nach den Fortbildungen häufig die Rückmeldung, dass allein schon das Wissen um die besonders oder hochbegabten Kinder (die ja keine homogene Gruppe darstellen!) ihnen enorme Erleichterung verschafft und vor allem mehr Sicherheit für ihre eigene pädagogische Praxis bringt. Eine reine „Wissensvermittlung“ in der ersten Lehrerphase führt aber noch nicht zum kompetenten Handeln in der Praxis. Es gilt immer wieder darum, selbstkritisch das eigene Handeln zu beleuchten. Hier planen wir aktuell mit unseren universitären Beratungsstellen ein Format, in dem fachwissenschaftliche Module unmittelbar mit der schulischen Praxis verknüpft werden. Wir haben in Schleswig-Holstein so viel innovative und hochentwickelte Schulen, die Lösungen für die genannten Herausforderungen gefunden haben! Der schleswig-holsteinische und deutsche Schulpreis machen dies jährlich sichtbar. Ich würde sagen, in diesem Zusammenhang ist Abgucken und Weitersagen ausdrücklich erwünscht. (Anm. d. Red: hierzu Lisa Kunze, Begabungsförderung im Dialog an der Anne-Frank-Schule Bargteheide, in diesem Heft)
Sie haben gesagt, Sie machen viel über Fort- und Weiterbildung. Im Text über die Begabungsförderung heißt es, dass Sie passgenaue Schulentwicklungstage anbieten. Könnten Sie das bitte für uns konkretisieren?
S: Es geht darum, dass sich Schulen immer standortspezifisch und ressourcenabhängig für die Begabungsförderung weiterentwickeln. Dabei schauen wir mit den Beteiligten auf den aktuellen Schulentwicklungsprozess und identifizieren zuallererst die vorhandenen Stärken. Oft wirkt die Begabungs- und Begabtenförderung als Katalysator für Schulentwicklungsprozesse, weil es im Wesentlichen um die Qualitätskriterien des Kerngeschäftes von Schule und damit von gutem Unterricht und guter Schule geht. Für das Kollegium und die Schulleitung sind die von uns durchgeführten Potenzialanalysen eine Bestätigung ihrer bisher geleisteten Arbeit. Begabungsförderliche Strukturen zu etablieren, bedeutet kein grundlegendes Umdenken, sondern systematisches Weiterentwickeln der Prozesse und offen bleiben für interne und externe Impulse. Wie beim forschenden Lernen: Die Neugierde und Experimentierfreude erhalten.
Ich komme nochmal auf die Haltung zurück. Ist das auch ein Aspekt in Ihren Fortbildungsveranstaltungen?
S: Als Aspekt würde ich das nicht bezeichnen, eher als zentralen Bestandteil, der implizit in jeder unserer Fortbildungsveranstaltungen verankert ist. Die „richtige“ Haltung können wir ja nicht verordnen, nur immer wieder vorleben und nach den „guten“ Prinzipien handeln. Daher braucht es in Schule immer wieder einen lebendigen Diskurs, eine Verständigung über die Frage „Was leitet uns?“ Das ist eine äußerst wichtige Auseinandersetzung für die die Zeit im schulischen Alltag häufig zu fehlen scheint – dennoch ist sie gewinnbringend, weil sie letztendlich vereint und damit stärkt.
In Ihrem Artikel steht: „Individuelle unterrichtliche Lernarrangements sind grundsätzlich von außerunterrichtlichen Formen der Begabungsförderung zu trennen. Allerdings sollen diese nebeneinanderstehenden Bausteine durch gute Abstimmung der Lehrkräfte, Eltern, Lernenden und außerschulischen Anbietern so ineinandergreifen, dass passende Angebote die betreffenden Lernenden erreichen.“ Was heißt das konkret?
S: Die Enrichment-Angebote in SH vertiefen und erweitern die thematischen und methodischen Unterrichtsangebote und ermöglichen begabten Schülerinnen und Schülern eine zusätzliche, außerschulische Förderung.
Zudem haben alle Schulen in unserem Land die Möglichkeit, ihre Schüler:innen an dem kostenlosen Angebot der länderübergreifenden „Digitalen Drehtür“6 teilnehmen zu lassen. Die Seminare finden auch vormittags statt und damit parallel zum Unterricht.
Nimmt also eine Schülerin, ein Schüler solch ein besonderes Angebote wahr, z. B. an Wettbewerben oder den Juniorakademien, dann ist die Einbindung dieser Inhalte in die schulische Praxis ein entscheidender Faktor für die ganzheitliche Begabungsförderung. Dieses Selbstverständnis würde die Akzeptanz von unterschiedlichen Förder- und Forderbedarfen erhöhen und damit das Risiko der Ausgrenzung im Klassenverband verringern.
Wir sollten diese Vorgehensweise insbesondere für die Weiterentwicklung der Ganztagsschulen nutzen. Die Verknüpfung von Vor- und Nachmittagsangeboten und die erforderliche Zusammenarbeit von verschiedenen Berufsgruppen bietet für die Förderung von Begabungen, aber auch für die Entdeckung von Potenzialen eine besondere Chance.
Zum Schluss noch die ganz konkrete Frage nach LemaS in Schleswig-Holstein
S: Wir können im Schuljahr 2023/24 unsere drei LemaS-Schulnetzwerke gut in die vorhandene Struktur der hiesigen Begabungs- und Begabtenförderung einbinden. Die seit 2010 bestehenden Kompetenzzentren in der Sek. I/II, Kompetenzzentren Kita-Grundschule und die sogenannten SHiB-Schulen (Schleswig-Holstein inklusive Begabtenförderung) bieten mit ihrer individuellen Expertise beste Voraussetzungen, um die LemaS-Leitidee langfristig in regionalen Kompetenznetzwerken umzusetzen.
Unser Ziel ist es, dass allen Schülerinnen und Schülern in Schleswig-Holstein die Chance geboten wird, ihre Stärken und Talente zu entwickeln und dies unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht oder ihrem sozialen Status. In diesem Kontext erhoffen wir uns auch eine qualitative Vernetzung mit der Bund-Länder-Initiative „Startchancen“, den Bildungsregionen unserer Perspektivschulen, um die Bildungsbiografien von allen Kindern bestmöglich begleiten zu können.
Damit wurde das Interview beendet, und wir bedankten uns für das hochinteressante Gespräch.
1 https://www.schleswig-holstein.de/DE/fachinhalte/B/begabtenfoerderung/schulBegabungsfoerderung
2 https://www.schleswig-holstein.de/DE/fachinhalte/B/begabtenfoerderung/schulBegabungsfoerderung
3 https://fachportal.lernnetz.de/
4 https://formix.lernnetz-sh.de/
6 https://digitale-drehtuer.de/
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2024/4
P. Ehrich: Verkannte Stärken – neuro-inklusives Lernen
Neurodiversität: Die inklusive Sicht auf Abweichungen von der „Norm“ verändert Schule
hier lesen
Verkannte Stärken
Herausforderungen und Perspektiven für ein neuro-inklusives Lernen
Peter Ehrich
Vorbemerkung
Dieser Artikel führt die Ergebnisse aus Interviews und Schreibgesprächen mit vier deutschen und internationalen Forschenden, Autor*innen, Lehrkräfteausbildner*innen und Berater*innen zum Thema Neurodiversität und Neuroinklusion zusammen. Interviewt wurden: Thomas Armstrong (Executive Director bei American Institute for Learning and Human Development und Autor), Paul Ellis (Head of Education Cambridge International Learning, Ausbilder und Autor), Karina und Svenka Kahl (Schul- und Elternchoaches) und Julia Thurner (Lehrkräftetrainerin und Transformationsbegleiterin für Schulen).
„Die Defizitorientierung hindert die Sicht auf die Stärken der Schüler und verstärkt das Gefühl des Andersseins“ (Thurner). Diese Erkenntnis ist besonders relevant im Kontext neurodivergenter Lernender, die unterschiedliche neurologische Bedingungen wie Autismus, AD(H)S, Dyslexie oder intellektuelle Beeinträchtigungen aufweisen. Diese Lernenden bringen besondere Herausforderungen und Stärken in das Bildungssystem mit.
Um eine inklusive Lernumgebung zu schaffen, müssen sowohl die individuellen Bedürfnisse dieser Schüler*innen als auch die Hürden des bestehenden Schulsystems berücksichtigt werden. Der folgende Artikel beleuchtet die wichtigsten neurodivergenten Bedingungen, ihre Herausforderungen und Stärken, die systemischen Hürden sowie konkrete Handlungsmöglichkeiten auf verschiedenen Ebenen.
Zappelphilipp, Träumer und Schusselchen – Neurodivergente Lernende in der Schule und ihre Stärken
In einer inklusiven Gesamtschule einer mitteldeutschen Großstadt stammen die Schüler*innen aus Familien mit unterschiedlichen Einkommensverhältnissen, einschließlich 14 % mit Migrationshintergrund. An einem Schultag unterrichtet eine Lehrkraft in vier Klassen mit je etwa 25 Schüler*innen und trifft auf 5–6 Kinder mit LRS/Dyslexie, ebenso viele mit AD(H)S und 3–8 mit Dyskalkulie. Oft ist auch ein Kind mit ASS dabei. Diese Prävalenz verdeutlicht die starke Vertretung neurodivergenter Lernender in Schulen. In der Tabelle werden die häufigsten Diagnosen mit ihren Herausforderungen nach DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) und den damit verbundenen Stärken aufgeführt.
Kondition |
Prävalenz |
Schwächen nach DSM |
Stärken |
Dyslexie/ |
Ca. 5 % in Deutschland, |
Schwierigkeiten beim Erkennen von Wörtern: Langsame, fehlerhafte oder stockende Lesefähigkeit: Rechtschreibprobleme: |
Kreativität und Problemlösungsfähigkeiten; Ausgeprägte Empathiefähigkeit. |
AD(H)S |
Ca. 5–7 % in Deutschland, |
Unaufmerksamkeit: Impulsivität: Hyperaktivität: |
Hyperfokussierung auf interessante Themen; hohe Kreativität und Innovationsfähigkeit; ausgeprägte Energie und Begeisterung. |
Rechen-schwäche/ |
Ca. 3–8 % in Deutschland, |
Schwierigkeiten beim Erlernen von Rechenoperationen: Probleme mit mathematischen Regeln und Konzepten. Probleme mit Zahlenverständnis: |
Häufig starke räumliche Vorstellungskraft; |
Dyspraxien |
Ca. 3–8 % weltweit |
Ungeschicklichkeit: Schwierigkeiten bei der Planung von Bewegungen. |
Kreative Ansätze zur Problemlösung; |
Autismus-Spektrum-störung/ |
0,6–0,7 % in Deutschland, |
Defizite in der sozialen Interaktion: Schwierigkeiten, soziale Signale zu erkennen. Eingeschränkte, stereotype Verhaltensweisen: |
Detailorientierung und tiefes Fachwissen in spezifischen Interessensgebieten; |
Die Begriffe ‚Schwächen‘, ‚Defizit‘ und ‚Störung‘ erscheinen hier als Zitate aus dem DSM. Der Autor dieses Artikels teilt diese Begrifflichkeit nicht. Sie werden ersetzt durch ‚Bedarf‘ und ‚Herausforderung‘. |
Herausforderungen und Stärken: Die duale Perspektive
Neurodivergente Lernende stehen häufig vor Herausforderungen wie der Stigmatisierung durch Mitschüler*innen und Lehrkräfte, einer mangelnden Akzeptanz ihrer Lernstile sowie einem an Defiziten orientierten Schulsystem, das ihre individuellen Stärken oft nicht erkennt. Leistungspotenziale können dann womöglich nicht in vollem Maß entfaltet werden. Es droht Leistungsversagen durch Underachievement. Kahl betont die Benachteiligung, die neurodivergenten Schüler*innen daraus erwächst, und stellt fest: „In der Schule bleibt man stehen, während andere sich weiterentwickeln.“
Trotz dieser Herausforderungen besitzen neurodivergente Schüler*innen einzigartige Stärken, die in einem unterstützenden Umfeld zur Entfaltung kommen können. Dies reicht von besonderen Problemlösungsfähigkeiten über Detailgenauigkeit bis hin zu kreativen Ansätzen in verschiedenen Fachbereichen.
Hürden im Schulsystem auf den betrachteten Ebenen: Die Herausforderungen der traditionellen Struktur
Systemische Hürden:
Das derzeitige Schulsystem ist oft starr und lässt wenig Raum für individualisierte Lernansätze. Daher „braucht es mehr Anerkennung für die Vielfalt der Talente und Interessen, die Kinder mitbringen“ (Ellis). Dies führt dazu, dass Lehrkräfte Schwierigkeiten haben, Lehrmethoden zu finden, die für alle Schüler*innen geeignet sind.
Mangelnde Differenzierung:
Die oft fehlende Differenzierung in den Unterrichtsmethoden kann dazu führen, dass neurodivergente Schüler*innen nicht die Unterstützung erhalten, die sie benötigen. Armstrong sagt dazu: „Eine Einheitsgröße passt nicht für alle; wir müssen den Unterricht an die Bedürfnisse der Lernenden anpassen“. Standardisierte Tests verstärken zudem den Druck und lassen oft wenig Raum für alternative Bewertungskriterien (Ellis). Dieses Defizit an Differenzierung bezieht sich auch auf die Öffnung der räumlichen und zeitlichen Lernumgebung (Thurner).
Lehrkräfte und Sensibilisierung:
Viele Lehrkräfte sind nicht ausreichend über neurodivergente Bedingungen informiert, was zu Missverständnissen und unzureichender Unterstützung führt. Ellis betont: „Die Ausbildung der Lehrkräfte muss dringend erweitert werden, um inklusiven Unterricht zu gewährleisten“. Hier sind regelmäßige Schulungen und Workshops notwendig, die Lehrkräfte für die Vielfalt in ihren Klassen sensibilisieren. Anzusetzen ist auch in der wissenschaftlichen Forschung und der Bereitstellung entsprechender Literatur. Thurner mahnt in diesem Kontext an, „Es ist wirklich erschreckend, wie wenig wir in Deutschland zu diesem Thema haben.“ Sowohl die Aufbereitung einschlägigen Informationsmaterials als auch entsprechender Fortbildungsangebote bleiben hier noch ein Desiderat.
Mangel an Ressourcen:
An vielen Schulen mangelt es an den notwendigen Ressourcen, um neurodivergente Lernende zu unterstützen. Dies betrifft sowohl Lehrmaterialien als auch Personal, das in den spezifischen Bedürfnissen dieser Schüler*innen geschult ist. Der Mangel an spezialisierten Fachkräften führt dazu, dass Lernende nicht die individuelle Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und das Fach- und Handlungswissen nicht interkollegial etwa bei der gemeinsamen Entwicklung von Unterricht oder gemeinsamen Fortbildungen gestreut werden kann.
Soziale Isolation:
Neurodivergente Schüler*innen erleben oft soziale Isolation, sowohl durch das Stigma ihrer Bedingungen als auch durch Schwierigkeiten, soziale Beziehungen zu knüpfen. Armstrong hebt hervor: „Wenn wir soziale Integration nicht aktiv fördern, verlieren wir wertvolle Perspektiven und Talente“ (Armstrong). Programme, die den Austausch zwischen neurodivergenten und neurotypischen Schüler*innen fördern, sind dringend erforderlich. Vergleichbare Angebote wären auch auf Ebene der Elternarbeit förderlich.
Forderungen zur Verbesserung der inklusiven Bildung für neurodivergente Lernende
Um die schulischen Bedingungen für neurodivergente Lernende zu verbessern, sind folgende neun Forderungen wegweisend:
Lehrkräftebildung und Sensibilisierung
Lehrkräfte sollten in der Anerkennung und Wertschätzung von Neurodiversität geschult werden. Fortbildungsangebote zu inklusiven Lehrmethoden und den spezifischen Bedürfnissen neurodivergenter Schüler*innen können dazu beitragen, ein besseres Verständnis für deren Stärken und Herausforderungen zu entwickeln.
Differenzierte Lehrmethoden
Durch die Implementierung verschiedener Lehrmethoden, die sowohl visuelle, auditive als auch kinästhetische Lernstile berücksichtigen, können alle Schüler*innen besser erreicht werden.
Unterstützung durch Technologien
Die Integration moderner Technologien und digitaler Lernmittel kann neurodivergenten Lernenden helfen, ihre Lernprozesse zu optimieren. Tools, die auf persönliche Bedürfnisse zugeschnitten sind, bieten den Lernenden die Möglichkeit, ihr Lernen selbstbestimmt zu gestalten.
Förderung von Resilienz und emotionaler Intelligenz
Schulische Programme zur Förderung der sozialen und emotionalen Resilienz von neurodivergenten Schüler*innen sind von zentraler Bedeutung. Diese Programme können ihnen helfen, mit Herausforderungen besser umzugehen und ein starkes Selbstwertgefühl zu entwickeln.
Individuelle Lernpläne
Die Erstellung individueller Lernpläne für neurodivergente Lernende ist unerlässlich, um deren spezifische Stärken und Bedürfnisse zu berücksichtigen. Diese Pläne sollten regelmäßig überprüft und angepasst werden.
Peer-Mentoring-Programme
Die Implementierung von Peer-Mentoring-Programmen kann neurodivergenten Lernenden helfen, sich im Miteinander und im Lernen besser zurechtzufinden. Mentor*innen können wertvolle Unterstützung bieten und den Austausch fördern.
Zusammenarbeit mit Eltern und Fachleuten
Eine enge Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften, Eltern und Fachleuten ist entscheidend, um eine ganzheitliche Förderung neurodivergenter Lernender sicherzustellen. Regelmäßige Gespräche und Austausch sind notwendig, um den Bedürfnissen der Schüler*innen gerecht zu werden.
Anpassung der schulischen Infrastruktur
Die schulische Infrastruktur sollte so gestaltet werden, dass sie den Bedürfnissen neurodivergenter Lernender entgegenkommt. Dazu gehört die Schaffung von Rückzugsorten, Ruhebereichen und flexiblen Lernumgebungen.
Sensibilisierung der Schulgemeinschaft
Programme zur Sensibilisierung und Aufklärung über Neurodiversität in der Schulgemeinschaft können dazu beitragen, Mobbing und Stigmatisierung zu reduzieren und ein respektvolles Miteinander zu fördern.
Fazit: Die Vision einer inklusiven Bildung
Die Förderung neurodivergenter Lernender erfordert ein Umdenken im Bildungssystem. Durch die Anerkennung der individuellen Stärken und die Überwindung systematischer Hürden kann eine inklusive und unterstützende Lernumgebung geschaffen werden. Gezielte Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen – von der Aufklärung über die Anpassung der Lernmethoden bis hin zur Schaffung eines flexiblen Curriculums – sind unerlässlich, um allen Schüler*innen, unabhängig von ihren neurologischen Bedingungen, die bestmöglichen Voraussetzungen für ihren Lernerfolg zu bieten.
Mehr zum Thema:
Thomas Armstrong: www.institute4learning.com
Paul Ellis: https://paul-ellis.net
Karina und Svenka Kahl: www.menschenbildung.de
Julia Thurner: www.instagram.com/mrs_thurner/?hl=de
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2024/4
SchuleImFokus
Starke Schulen fördern Stärken
Zum Herunterladen steht Ihnen die ganze Rubrik Schule im Fokus mit allen Artikeln zur Verfügung.
D. Kesting: Wo Vielfalt auf Potenzial trifft – Gesamtschule Münster Mitte
Begabungsförderung ist Teil der inklusiven Schulkultur in der Gesamtschule Münster Mitte.
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Wo Vielfalt auf Potenzial trifft
Begabungsförderung an der Gesamtschule Münster Mitte
Dagmar Kesting
Die Gesamtschule Münster Mitte (im Folgenden GeMM) gilt als Vorbild im Bereich der Begabungsförderung und bewegt sich in vielen Netzwerken, die sich zu dem Thema austauschen. Die GeMM ist überzeugt, dass individuelles Potenzial in jedem Kind schlummert. Doch wie lässt sich dieses Potenzial in einem Umfeld finden und fördern, das so heterogen ist?
Die Schule hat diese Herausforderung mit einem dynamischen, kreativen und vor allem inklusiven Konzept angenommen, das auf eine Förderung des ganzen Menschen abzielt. Geprägt von einer grundsätzlich potenzialorientierten Haltung jedem einzelnen Kind gegenüber, steht nicht nur die intellektuelle, sondern auch die soziale, emotionale und persönliche Entwicklung im Fokus.
Lehrkräfte und multiprofessionelles Team arbeiten hier eng zusammen, denn es geht darum, jedes Kind zu seiner nächstmöglichen Entwicklungsstufe zu begleiten, ungeachtet dessen, ob es im Vorfeld einen Förderbedarf oder einen hohen IQ attestiert bekommen hat.
Stärken – Potenziale – Begabungen
An der GeMM wird der Begabungsbegriff weit gefasst. Hier geht es um weitaus mehr als nur hohe schulische Leistungen. Begabung kann sich in allen Bereichen des schulischen Lebens und Erlebens zeigen. Durch ein professionelles System zur Identifikation von Stärken wird von Anfang an sensibel darauf geachtet, welches Potenzial Schülerinnen und Schüler in den unterschiedlichsten Bereichen mitbringen. Das macht einen stärkenorientierten Blick auf jedes einzelne Kind möglich, unter dem sich Selbstbewusstsein und Selbstwahrnehmung auf gesunde Art entwickeln können.
Mit dem „FairStärken“-Projekt beobachten die Lehrkräfte bereits in den ersten Wochen des 5. Schuljahres intensiv, wo besondere Fähigkeiten sichtbar werden. Im Rahmen dieses Programms ist auch vorgesehen, dass Schülerinnen und Schüler sich gegenseitig nominieren können und so einen positiven und wertschätzenden Blick auf die Stärken der anderen erlangen. So gelingt es, versteckte Talente, die vielleicht noch im Verborgenen liegen, frühzeitig zu entdecken, und im Prozess Vertrauen und Selbstvertrauen zu schaffen.
Ob im Verlauf der Schullaufbahn aus Stärken Potenziale werden und aus Potenzialen Begabungen, das ist zunächst unerheblich. Aus der Förderung heraus erwächst das, was möglich sein kann – und oft taucht Ungeahntes auf, das einem defizitorientierten Blick auf das Kind ewig verborgen bliebe.
Enrichment statt Elite: Immer im Flow bleiben
Ein entscheidendes Merkmal der Begabungsförderung an der GeMM ist, dass sie zu einem großen Teil innerhalb des regulären Unterrichts stattfindet. Das Stichwort lautet hier „Enrichment“, das alle Schülerinnen und Schüler während des gesamten Unterrichtsalltags miteinbezieht. Das selbstregulierte Arbeiten im „Lernbüro“ macht differenzierte Lernangebote möglich, aber auch Zusatzangebote wie die „Digitale Drehtür“ kommen hier zum Einsatz.
Für besonders interessierte und talentierte Schülerinnen und Schüler gibt es zusätzliche Herausforderungen, wie die „GeMM-Talente“ oder das „diFF-Projekt“, die außerhalb der regulären Klasse angeboten werden. Hier kann man sich in ein selbst gewähltes Projekt hineinvertiefen, allein oder mit anderen.
Die Angebote der inneren und äußeren Differenzierung sorgen dafür, dass niemand auf der Strecke bleibt, während Potenziale im eigenen Tempo und nach individuellen Fähigkeiten wachsen können. Im Flow zu bleiben, bedeutet dabei, Underachievement ebenso zu verhindern wie Angst durch Überforderung. Bei der Auswahl des richtigen Angebots hilft die wöchentliche, für jeden zugängliche Begabungssprechstunde.
Soziale Begabungen: Engagement und Verantwortung lernen
In einer Welt, die sich durch rasante technologische, gesellschaftliche und ökologische Veränderungen auszeichnet, gewinnt die Förderung von Talenten zunehmend an Bedeutung. Die GeMM hat erkannt, dass Begabungsförderung nicht nur darauf abzielen kann, individuelle Talente zu stärken, sondern auch darauf, junge Menschen auf die komplexen Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten und ihre Stärken für die Gesellschaft nutzbar und relevant zu machen.
Mit einem visionären und dennoch längst überfälligen Ansatz, der Kreativität, kritisches Denken, soziale Verantwortung und die Stärken des Einzelnen in den Mittelpunkt stellt, macht die Schule sich zum Ziel, Kinder und Jugendliche zu befähigen, aktiv und im Team an der Lösung globaler Zukunftsprobleme mitzuwirken.
Im „GeMM4Future“-Projekt wird in Teams an den Nachhaltigkeitszielen gearbeitet. Mithilfe realistischer Zielsetzungen erfahren die Kinder Selbstwirksamkeit und Verantwortung für die eigene Umwelt.
Die „GeMM-Lesescouts“ haben sich zum Ziel gesetzt, im Peer-Mentoring-Verfahren andere Kinder zum Lesen zu motivieren. Gerade diejenigen, die zuhause kein gefülltes Bücherregal und keine Lesevorbilder haben, profitieren von diesem Projekt zur Förderung der Lesekultur. Aber auch die Lesescouts selbst setzen ihre Leidenschaft, ihr Talent, für den sozialen Zweck ein und schaffen Bildungsgerechtigkeit. Sie übernehmen Verantwortung und erfahren Selbstwirksamkeit und Wertschätzung.
Eine Schule für alle: Inklusion als Erfolgsfaktor
Die GeMM ist stolz auf ihr inklusives Konzept: Die Begabungsförderung findet in einer Schule statt, die sich der Heterogenität ihrer Schülerschaft bewusst ist. Dort, wo geflüchtete Kinder in DaZ-Kursen gefördert werden und das große Spektrum neurodiverser, sozial-emotionaler oder anderer Besonderheiten tagtäglich zum Thema wird, geht man davon aus, dass in dieser gesamten Bandbreite Begabungen zu finden sind. Begabte stehen hier nicht neben anderen, die entsprechend dann nicht begabt sein dürften, sondern alle an dieser Schule arbeitenden und lernenden Menschen verfügen über Begabungen, und es ist für alle vorteilhaft, diese zu sehen und zu entfalten.
Fazit: Begabungsförderung als gelebte Begabungskultur
Die Begabungsförderung an der Gesamtschule Münster Mitte zeigt, wie wichtig eine stärkenorientierte Haltung, gepaart mit einem weit gefassten Begabungsbegriff, gerade in heutiger Zeit ist. Begabungsförderung wird hier nicht als elitäres Projekt, sondern als inklusiver Prozess und nicht zuletzt als Teil der Schulkultur verstanden und gelebt. Die Schülerinnen und Schüler entwickeln sich nicht nur intellektuell ihren Potenzialen entsprechend, sondern wachsen auch emotional und sozial – in einer Umgebung, die sie als ganze Persönlichkeiten sieht und stärkt. Die GeMM lebt Begabungskultur, getreu ihrem Motto „Gemeinsam Erreicht Man Mehr“.
Weitere Informationen:
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2024/4
I. König: Gemeinsam einfach stark – Lobdeburgschule Jena
Begabten- und Begabungsförderung an der Lobdeburgschule Jena – Von der Grundschule bis zur Oberstufe greifen inner- und außerschulische Angebote ineinander.
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Gemeinsam einfach stark
Begabungs- und Begabtenförderung an der Lobdeburgschule
Iris König
„Miteinander leben lernen“ – so lautet das Motto unserer Staatlichen Gemeinschaftsschule „Lobdeburgschule“ in Jena. Unser Lebensraum Schule wird von 700 Schüler:innen der Klasse 1 bis 12 inklusive temporärer Austauschschüler:innen aus dem Ausland ebenso gemeinsam gestaltet wie von Pädagog:innen der Primarstufe und der Sekundarstufen I und II sehr unterschiedlicher Ausbildung und Prägung. Jede:n individuell anzunehmen und zu fördern, gehört gerade wegen dieser Diversität zum grundsätzlichen Leitbild unserer Schule.
Wir verbinden mit dem Terminus Begabungsförderung die Idee, den ‚klassischen Lehrer:innenblickwinkel‘ zu verschieben und statt Schwächen zu schwächen (durch ausgiebiges Training), Stärken zu stärken. Hier geht es für alle Kinder und Jugendlichen unserer Schule um die Möglichkeit, sich entsprechend ihrer Stärken und Kompetenzen wirkungsvoll in den Schulalltag einzubringen und ihr individuelles Entwicklungspotential auszuschöpfen.
Als Teil davon darf die Begabtenförderung hervorgehoben werden. Sie richtet sich an Kinder und Jugendliche, die im traditionellen Sinne als ‚hochbegabt‘ bezeichnet werden. Dabei folgen wir in unserem Begriffsverständnis dem multiplen Intelligenzmodell nach Howard Gardner.
Es geht uns mit unseren Maßnahmen um Lernende, die allgemein oder fachgebietsspezifisch soweit über dem Durchschnitt ihrer Alterskamerad:innen liegen, dass sie einerseits ihr Anderssein sehr deutlich spüren und andererseits oft mit Lernangeboten konfrontiert sind, die sich für ihren individuellen Lernweg wenig eignen.
Das Kurssystem
Kern der Förderung ist ein in die Struktur des Unterrichtsalltags integriertes Kurssystem von der Klassenstufe 1 bis 10. Eingeordnet ist es in die ‚Eigene Lernzeit (ELZ)‘.
In der Grundschule haben die Erstklässler:innen eine Stunde Neugierzeit pro Woche bis zum Schuljahresende. Diese dient dem Kennenlernen, der kontinuierlichen Begegnung mit komplexen und ihrem eigenen Lerndurst entsprechenden Aufgaben und dem Ausloten ihrer Interessen (als Ausgangspunkt für die Kurse ab Klassenstufe 2).
Von der Klassenstufe 2 bis zur Klassenstufe 4 gibt es in einer Doppelstunde pro Woche ein jahrgangsübergreifendes Angebot. Die betreffenden Kinder wählen sich dreimal jährlich in einen von fünf angebotenen Kursen ein. Die Angebote sind eine Mischung aus mathematisch-naturwissenschaftlichen, technischen, sprachlichen und künstlerisch-kreativen Angeboten.
In der Sekundarstufe 1 gibt es Extrakurse als Doppelstunde im Rahmen der Begabungs- und Begabtenförderung (BBF). Diese sind ebenfalls in die `Eigene Lernzeit` integriert. Die Kurse sind immer jahrgangsübergreifend organisiert (in der Regel 5/6, 7/8, 9/10). Auch hier gibt es wiederum mathematisch-naturwissenschaftliche, sprachliche, technische und künstlerisch-kreative Angebote für die sich Schüler:innen schriftlich begründet einwählen dürfen. Dieses Kurssystem bietet sich unter anderem an, um Schülerwettbewerbe in diesem Rahmen zu realisieren wie z. B.: Jugend debattiert, Jugend forscht, Formel 1, Europawettbewerb, …)
Kursleitungen sind nicht nur Lehrkräfte der Schule. Etwa 50 % und bei guter finanzieller Lage auch mehr Kurse werden durch Fachpersonen aus dem kommunalen Umfeld begleitet. Diese schließen nach Prüfung einen Honorarvertrag mit dem Schulförderverein, der die Finanzen der Begabten- und Begabungsförderung verwaltet. Manche Kurse werden auch durch Partnerinstitutionen unserer Schule gestaltet, wie z. B. der Schülerforscherklub durch den witelo e. V. aus Jena. Im Primarbereich drei- und im Sekundarbereich zweimal pro Schuljahr gibt es Zusammenkünfte aller Kursleiter:innen, um den spezifischen Charakter dieser Kurse aufrecht zu erhalten und auftretende Fragen zu beantworten. Für letztere gibt es eine kontinuierliche Ansprechpartnerin an der Schule (Koordinatorin für Begabungs- und Begabtenförderung).
Andere Formen pädagogischer Begleitung: Beratungsgespräche/Einzelfallbegleitung
Ausgebildete Kolleg:innen kommen zu Elterngesprächen hinzu, wenn es beim beteiligten Kind auch um Aspekte der Hochbegabung geht. Eltern und Schüler:innen können ihrerseits Kolleg:innen zum beratenden Gespräch aufsuchen. In Fällen von Überspringen einer Klassenstufe werden die betreffenden Schüler:innen bei Bedarf in regelmäßigen Reflexionsrunden durch eine Pädagogin/einen Pädagogen begleitet.
Verbindung und Vermittlung zu außerschulischen Angeboten
Jena bietet eine Vielzahl an Angeboten für begabte Schüler:innen in der Region. Die Bildungscamps in Christes und Zella-Mehlis bieten während der Schulzeit temporär (jeweils eine Woche) für Schüler:innen der Klassenstufen 1 bis 10 eine sinnvolle und wirkmächtige Alternative zum schulischen Lernen. Ausgewählte Schüler:innen der Oberstufe können ein Juniorstudium an der Friedrich-Schiller-Universität absolvieren.
Das Regionalzentrum für Begabungsförderung Ost mit Sitz am Carl-Zeiß-Gymnasium Jena bietet ein umfangreiches Korrespondenzzirkelprogramm für viele naturwissenschaftliche Fächer und Mathematik in der Sekundarstufe I. An der Salzmannschule Schnepfenthal gibt es einen Korrespondenzzirkel Sprache für Schüler:innen der Klassenstufe 4.
Das Schülerforschungszentrum in der Dauerausstellung „Imaginata“ bietet dem Forschungsdrang auch in der Freizeit viele Möglichkeiten, die es zu Hause so nicht gibt.
Einmal im Quartal findet an einer Jenaer Schule samstags der ‚mach-bar!‘-Tag statt für Schüler:innen, die vom Lernen nicht genug bekommen.
Mit der Herbstschule erhalten einzelne Schüler:innen in den Ferien die Möglichkeit mit Lernpat:innen höherer Klassenstufen eine Woche lang täglich 1,5 Stunden Kenntnisse in einem Schulfach zu vertiefen. Jede:r Schüler:in kann maximal zwei Fächer belegen.
Leistung lohnt sich
Auch wenn das ein bisschen nach FDP-Wahlwerbung klingt, hatten wir exakt dieses Motto bei uns für diese Art der Veranstaltungen kreiert. Hier geht es v. a. darum, einen Gegentrend zu setzen zu der ‚Coolness‘ schlechter Benotung und betont lässiger Egalhaltung gegenüber der Gemeinschaft Schule.
Unter diesem Motto gibt es in jedem Schuljahr einen ein- oder mehrtägigen Ausflug mit speziellem Bildungserlebnis für Schüler:innen, die sich über das normale Maß hinaus für die Schule engagiert haben. Das können Wettbewerbspreisträger:innen ebenso sein wie jene, die neue Impulse in das Schulleben getragen haben oder sich besonders in der Unterstützung anderer Klassen/Schülergruppen/Mitschüler:innen hervortaten (Beispielziele: EU-Parlament in Brüssel, Gläserne Manufaktur in Dresden, Falknerei/Rennsteig – Juniorfalknerschein).
Identifizierung von Begabungen
Kontinuierlich fortgebildete Lehrer:innen diagnostizieren die Begabungen des Kindes und sprechen Empfehlungen aus. Mit der Denkolympiade für alle Schüler:innen in Klasse 5 nutzen wir ein Instrument schullehrstoffunabhängiger Überprüfung. Besondere Bedeutung hat die Selbstidentifikation bzw. Benennung über die Peer-Group im Rahmen des oben beschriebenen Kurssystems ab Klasse 5.
Netzwerke und Partner
Als LemaS-Schule (´Leistung macht Schule´) sind wir Teil eines bundesweiten Fördernetzwerkes für Begabungs- und Begabtenförderung. Dazu stehen wir im direkten Austausch und Kontakt mit dem Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport und demThüringer Institut für Lehrerfortbildung. Wir kooperieren mit dem Bildungscamp e. V., mit witelo e. V., der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der Ernst Abbe-Fachhochschule Jena, dem Förderverein Lobdeburgschule e. V., Komme e. V. und anderen.
Seit nunmehr 15 Jahren befinden wir uns auf dem Weg, eine zielgerichtete Begabten- und Begabungsförderung an der Lobdeburgschule in Jena zu etablieren. Unser im Leitbild formulierter Anspruch auf Individualisierung und Förderung aller ist oberste Maxime. Und es gibt sie auch an unserer Schule – jene Kinder und Jugendlichen, die unterfordert sind mit den ‚normalen‘ kognitiven Angeboten und überfordert werden mit ihrer ständigen Anpassungsleistung. Deshalb lohnt es sich, die Stärken aller Schüler:innen in den Vordergrund der pädagogischen Betrachtung zu rücken.
Weitere Informationen:
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2024/4
L. Kunze: Begabungsförderung im Dialog – Anne-Frank-Schule Bargteheide
Eine großartige Idee, wie eine gute Feedbackkultur Begabungen entdecken und entwickeln kann – Anne-Frank-Schule Bargteheide
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Begabungsförderung im Dialog
an der Anne-Frank-Schule Bargteheide
Lisa Kunze
An der Anne-Frank-Schule Bargteheide stellt der Dialog zwischen den Schülerinnen und Schülern, Eltern und Lehrkräften einen wertvollen Schlüssel zum Gelingen der Begabungsförderung dar. Er ist fest im partizipativen Beurteilungssystem dieser Gemeinschaftsschule verankert, das auf einer Kombination aus fächerübergreifender Portfolioarbeit und regelmäßigen Portfoliogesprächen beruht.
Von der 5. bis zur 10. Klasse führen die Schülerinnen und Schüler der Anne-Frank-Schule ein Lernentwicklungsportfolio, in das sie jedes Halbjahr ein Produkt aus jedem Unterrichtsfach aufnehmen. Sie können dabei zwischen vielfältigen Produktformaten wählen, sodass neben selbstverfassten Geschichten oder Plakaten beispielsweise auch Werkstücke aus dem Kunst- oder Technikunterricht, selbstkreierte Podcastfolgen aus dem Weltkundeunterricht oder Videoaufnahmen aus dem Sportunterricht Eingang in die Portfolios der Lernenden finden. Diese Produkte werden von den Schülerinnen und Schülern jeweils um ein reflexives Element ergänzt, bei dem es sich unter anderem um eine Lernlandkarte, einen Selbsteinschätzungsbogen oder eine frei formulierte Reflexion der eigenen Lernentwicklung im jeweiligen Fach handeln kann.
Für die Arbeit an ihren Portfolios erhalten die Schülerinnen und Schüler der Anne-Frank-Schule sowohl im Fachunterricht als auch im Freiarbeitsfach Forschen und Üben Zeit. In diesem Rahmen werden sie von ihren Lehrkräften bei der Portfolioarbeit individuell begleitet und bedarfsgerecht unterstützt. Die Lernenden unterstützen sich darüber hinaus auch gegenseitig, indem sie sich beispielsweise ihre Portfolios vorstellen und dazu eine Rückmeldung geben.
Halbjährliche Portfoliogespräche
Zum Ende eines jeden Halbjahres finden dann die 30-minütigen Portfoliogespräche statt, an denen neben den Schülerinnen und Schülern auch ihre Eltern und ihre beiden Klassenlehrkräfte beteiligt sind. Nach einer kurzen Begrüßungsphase beginnen diese Gespräche damit, dass die Lernenden die Produkte aus ihrem Portfolio vorstellen und darauf aufbauend eine eigene Einschätzung ihrer Leistungen und Lernfortschritte in den verschiedenen Unterrichtsfächern abgeben. An diese Selbsteinschätzung knüpfen die beiden Klassenlehrkräfte in der darauffolgenden Rückmeldephase an, in der sie den Schülerinnen und Schülern ein differenziertes und wertschätzendes Feedback geben. Auf der Grundlage ihrer eigenen Beobachtungen und den kompakten verbalen Rückmeldungen, die sie von den anderen Lehrkräften ihrer Klasse im Vorweg erhalten haben, bestätigen die Klassenlehrkräfte zutreffende Einschätzungen der Lernenden und gehen mit ihnen gemeinsam bei Bedarf auch möglichen Unterschieden zwischen der Selbst- und Fremdbeurteilung auf den Grund. Daraus entwickelt sich ein zukunftsorientierter Dialog, der der weiteren Planung des Lernens der Schülerinnen und Schüler dient und in einer Lernvereinbarung mit mehreren individuell bedeutsamen Lernzielen für das kommende Halbjahr mündet.
In der zuvor beschriebenen Form ersetzen die Portfolioarbeit und die Portfoliogespräche an der Anne-Frank-Schule von der 5. bis zur 7. Klassenstufe vollständig tradierte Zeugnisformate. Ab der 8. Klassenstufe werden sie parallel zur verpflichtenden Notenvergabe in einer leicht abgewandelten Form fortgeführt.
Für die Förderung der individuellen Begabungen der Schülerinnen und Schüler besitzt das besondere Portfoliokonzept der Anne-Frank-Schule in verschiedener Hinsicht ein großes Potenzial. Es ermöglicht es den Lehrkräften zunächst, einen differenzierten Einblick in die individuellen Stärken und Übungsbedarfe der Lernenden zu gewinnen, und trägt so zur pädagogischen Diagnostik bei. Die gewonnenen Erkenntnisse stellen zudem eine wertvolle Grundlage für die Abstimmung des Unterrichts auf die individuellen Voraussetzungen der Lernenden dar. Da an der Anne-Frank-Schule bewusst auf eine äußere Fachleistungsdifferenzierung verzichtet wird, kommen in diesem Zusammenhang bevorzugt verschiedene Formen der Binnendifferenzierung und Öffnung des Unterrichts zum Einsatz. Im Umgang mit den damit verbundenen Wahlmöglichkeiten und Gestaltungsfreiräumen kommt es den Schülerinnen und Schülern der Anne-Frank-Schule zugute, dass auch sie im Rahmen der Portfolioarbeit und der Portfoliogespräche ein detailliertes Bild von ihren eigenen Fähigkeiten, Interessen und Zielen gewinnen. Über den schulischen Kontext hinaus ist dies unter anderem auch für die Wahl eines ihren Begabungen entsprechenden Berufs hilfreich. Die Eltern erhalten durch die Portfoliogespräche schließlich ebenfalls einen anschaulichen Einblick in die schulische Lernentwicklung ihres Kindes und werden dadurch in die Lage versetzt, es von häuslicher Seite aus noch erfolgreicher zu unterstützen.
Begabungsförderliche Maßnahmen mit allen Beteiligten beraten
Zusätzlich bieten die Portfoliogespräche den Schülerinnen und Schülern, Eltern und Lehrkräften einen geeigneten Rahmen dafür, gemeinsam über begabungsförderliche Maßnahmen zu beraten, die über den fachlichen Unterricht hinausgehen. In diesen Gesprächen kann so beispielsweise die Verwirklichung anspruchsvoller Projekte im Freiarbeitsfach Forschen und Üben in die Wege geleitet werden. Es ist den Lehrkräften in diesem Rahmen außerdem möglich, die Lernenden und ihre Eltern über fest in den Ganztagsbetrieb integrierte AG-Angebote und Projekte zu informieren, die der Förderung verschiedener Begabungen und Interessen dienen. Diese reichen vom kreativen Schreiben über sportliche Angebote bis hin zum naturwissenschaftlichen Experimentieren. Darüber hinaus bietet die Anne-Frank-Schule als Kompetenzzentrum für Begabungsförderung auch verschiedene Enrichment-Angebote an, über die in den Portfoliogesprächen ebenfalls gemeinsam beraten werden kann. Das Gleiche gilt auch für weitere begabungsförderliche Angebote wie die digitale Drehtür, das Schülerforschungszentrum oder das Team der Schülerpaten, das herausfordernde Projekte wie die Entwicklung eines Escape Games für die Schulgemeinschaft verfolgt.
Die Anne-Frank-Schule bietet ihren Schülerinnen und Schülern somit vielfältige Möglichkeiten dazu, ihr individuelles Potenzial zu entfalten, und die dialogbasierte Leistungsbeurteilung mit Portfolios trägt dazu bei, dass die Lernenden auch dazu bereit und in der Lage sind, diese Möglichkeiten verantwortungsvoll zu nutzen. Aus der langjährigen wissenschaftlichen Evaluation der dialogbasierten Leistungsbeurteilung durch die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel geht so beispielsweise hervor, dass das besondere Portfoliokonzept der Anne-Frank-Schule die intrinsische Motivation und die Lernzielorientierung der Schülerinnen und Schüler fördert. Sie unterstützt die Lernenden zudem bei der Entwicklung eines differenzierten Selbstkonzepts und einer positiven Selbstwirksamkeitserwartung, die für die erfolgreiche Bewältigung von herausfordernden Lern- und Leistungssituationen von zentraler Bedeutung ist. Zusätzlich dazu fördern die Portfolioarbeit und die Portfoliogespräche wertvolle überfachliche Kompetenzen wie die Selbstbeurteilungskompetenz oder Fähigkeiten aus dem Bereich des selbstregulierten Lernens, die den Schülerinnen und Schülern sowohl während ihrer Schulzeit als auch darüber hinaus zugutekommen. Schließlich stärken die Portfoliogespräche auch die Beziehungen zwischen den Beteiligten sowie die Kooperation zwischen Schule und Elternhaus.
Angesichts dieser vielfältigen Vorteile wurde die dialogbasierte Leistungsbeurteilung mit Portfolios im Jahr 2023 in die Zeugnisverordnung des Landes Schleswig-Holstein aufgenommen, sodass dieses partizipative Beurteilungssystem fortan von allen interessierten Gemeinschaftsschulen in diesem Bundesland mit einem zustimmenden Schulkonferenzbeschluss eingeführt werden kann.
Online-Tipp: Ein sehenswerter Kurzfilm und weitere Informationen zum Portfoliokonzept der Anne-Frank-Schule Bargteheide sind unter dem folgenden Link zu finden:
https://deutsches-schulportal.de/konzepte/portfolio-dialogische-form-der-leistungsbeurteilung/
Weitere Informationen: Anne-Frank-Schule Bargteheide
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2024/4
M. Sommerfeld: Nicht nur eine DFB-Eliteschule – Gesamtschule Berger Feld
Gesamtschule Berger Feld: hier haben Mario Neuer, Benedikt Höwedes und Alexandra Popp gelernt und ihre Karriere gestartet.
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Nicht nur eine DFB-Eliteschule
Gesamtschule Berger Feld
Mario Sommerfeld
Die Gesamtschule Berger Feld in Gelsenkirchen verbindet als „DFB-Eliteschule des Fußballs“ und „NRW-Sportschule“ Begabtenförderung für Leistungssportler und Begabungsförderung für alle Schüler in einem inklusiven Schulmodell. Im Verlauf der letzten Jahrzehnte sind zahlreiche Spitzensportler aus ihr hervorgegangen. Dazu gehören u.a. die Fußball-Weltmeister Manuel Neuer und Benjamin Höwedes.
Die Gesamtschule Berger Feld war eine der ersten Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen. In den 70er Jahren war der Andrang bereits groß und das Interesse immens, sodass ca. 2.200 SchülerInnen den Ganztagsbetrieb – eine Neuheit in der Stadt – auf dem Berger Feld aufnahmen. Die Nachfrage war noch viel größer.
Der Sport kann ohne Sprachbarrieren wunderbar vereinen und Integration ermöglichen
Im Jahr 2007 hat sich die Schule das „Gemeinsame Lernen“ auf die Fahne geschrieben und galt als Vorreiter in Gelsenkirchen. Die vergangenen Jahre zeigten bei allen Herausforderungen eine erfolgreiche Integration von SchülerInnen mit körperlichen bzw. geistigen Einschränkungen und Lernschwächen im Lernprozess einzelner Klassen. Aber auch die Integration von SchülerInnen mit ausländischen Wurzeln hat Tradition und verläuft erfolgreich. Zudem kann der Sport, der ohne jeglichen Zweifel an der Schule einen großen Stellenwert hat, ohne Sprachbarrieren ganz wunderbar vereinen und Integration ermöglichen. Heute lernen gut 100 Kinder mit allen Förderschwerpunkten an der Gesamtschule Berger Feld, die von einem Team von LehrerInnen, SonderpädagogInnen und MPTlern unterstützt werden.
Die Gesamtschule Berger Feld ist DFB-Eliteschule des Fußballs
Die Gesamtschule Berger Feld ist in erster Linie national und international durch ihr ausgereiftes Sportprofil bekannt. Schon früh wurde das Profil im Bereich Fußball geschärft und bereits im Jahr 1995 eine Kooperation mit dem FC Schalke 04 abgeschlossen. 2007 wurde die Schule zur „DFB-Eliteschule des Fußballs“ ernannt. Sie etablierte sich damit als eine der ersten von etwa 30 Eliteschulen in ganz Deutschland und wurde im Vorfeld der Heimeuropameisterschaft im Jahr 2024 nicht grundlos als Location für das Maskottchen-Launch von „Albärt“ mit prominenten Gästen wie Philipp Lahm ausgewählt. Zudem erlangte sie den Titel „NRW‑Sportschule“ im Schuljahr 2012/13. Die Gelsenkirchener Schule liegt im sogenannten Berger Feld, vorteilhaft im Schatten der „Veltins Arena“ des langjährigen Kooperationspartners FC Schalke 04. Aus manchen Klassenräumen können viele der mittlerweile über 50 Sportler ihren Traum täglich sehen. Meist finden junge Sportler in den Jahrgängen 8, 9 und 10 teilweise sogar aus anderen Bundesländern, wie auch einst Ralf Fährmann aus Chemnitz, den Weg ins Ruhrgebiet. Nicht immer leicht fiel die Entscheidung für die Spieler und die Eltern, die ihren Schützling aus dem Elternhaus ins vereinseigene Internat bzw. in jüngeren Jahren zu Gasteltern ziehen lassen.
Ziel einer jeden DFB-Eliteschule liegt darin, junge talentierte Sportler im Fußball adäquat zu begleiten und zu fördern, sodass bestmögliche Ergebnisse im schulischen und sportlichen Kontext erreicht werden können. Dieses Ziel ist in Anbetracht des „Fulltime-Jobs“ für die jungen Sportler mit den belastungsintensiven sportlichen und den hohen schulischen Anforderungen lediglich in Kooperation zwischen Schule, Verein und den dazugehörigen Verbänden (DFB, FLVW), dem Sportministerium und der Bezirksregierung Münster erreichbar.
Zahlreiche Fotos und Trikots bekannter Fußballprofis schmücken den Flur
Der Flur im Verwaltungstrakt der Schule, gegenüber vom Büro des sportaffinen Schulleiters Mario Sommerfeld, wird durch zahlreiche Fotos und Trikots von bekannten Fußballprofis geschmückt, die als Jugendliche an der Adenauerallee die Schulbank gemeinsam mit ca. 1.500 Schülerinnen gedrückt haben: Mit Alexandra Popp, Manuel Neuer, Marvin Friedrich, Leroy Sané, Joel Matip oder Keke Topp sind nur ein paar der Absolventen genannt, die in bis zu drei Trainingseinheiten am Vormittag unter der Leitung von hauptamtlichen Trainern auf dem Platz stehen und ihren Traum realisieren konnten. Die gemeinsame Kooperation erlaubt es, ein optimales schulisches und sportliches Umfeld für Fußballtalente zu schaffen. Eine Infrastruktur, die ihresgleichen in Deutschland sucht, ermöglicht den Sportlern zudem kurze Wege zwischen den Sportanlagen von Schalke 04 und der Schule.
Bestmöglicher Schulabschluss für alle
Der dadurch planmäßig entfallende Unterricht wird durch FachkollegInnen in verankerten Kompensationsstunden effizient aufgearbeitet und erteilte Hausaufgabenbetreuung und Nachhilfestunden gewährleisten eine umfassende schulische Förderung.Trotz der optimalen Ausbildung ist der sportliche Durchbruch nicht garantiert. Zu groß ist die Konkurrenz und zu schnelllebig das Fußballgeschäft, in dem eine schwerwiegende Verletzung das Karriereaus bedeuten kann. Aus diesem Grund und um erfolgreichen Fußballern eine hervorragende berufliche Perspektive nach ihrer Karriere zu ermöglichen, ist allen Beteiligten von schulischer und Vereinsseite an einem bestmöglichen Schulabschluss gelegen.
Betreut werden sie von den Fußballkoordinatoren Sebastian Husemeyer für die Sekundarstufe II und Kevin Kisyna für die Sekundarstufe I, wenn es z. B. um Freistellungen und individuelle Absprachen zwischen Fachlehrer, Sportler und Eltern geht. Beispiele sind vielfältig, wie die Qualifikation mit der Schulmannschaft für das Bundesfinale von Jugend trainiert für Olympia in Berlin oder für Länderspielmaßnahmen etc. Mit dem Sportmentor Thomas Kaiser besitzt die Schule ein Alleinstellungsmerkmal. Bei der Persönlichkeitsbildung in Bezug auf eigenverantwortliches Handeln, Werte, soziale Kompetenzen, sowie bei Problemlösungen in zwischenmenschlichen Beziehungen, Integrationsarbeit für die Schulgemeinschaft, aber auch bei wesentlichen Fragen zur Berufsorientierung, wie auch bei der Stipendiumssuche im Ausland (USA) mit dem Kooperationspartner „soccership“ steht er als Ansprechpartner zur Verfügung.
Sportförderung auch im Rudern, Judo, BMX und in der Leichtathletik
Mit der Ernennung zur NRW‑Sportschule im Schuljahr 2012/2013 hat das Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport in NRW der Gesamtschule Berger Feld die Aufgabe übertragen, im Verbundsystem Leistungssport und Schule neben den Fußballschülern in der Eliteschule des Fußballs weitere talentierte junge SportlerInnen sowohl in ihren jeweiligen Sportarten zu fördern als auch eine Chance auf einen bestmöglichen Schulabschluss zu bieten. Ein frühzeitiges Scouting und Förderung bereits in fünf ausgewählten Kooperationsgrundschulen in Gelsenkirchen erhöhten die Qualität und Quantität bei den letzten sportmotorischen Tests und erleichterten die Überführung von SchülerInnen zur NRW- Sportschule.
Bei erfolgreicher Aufnahme in einer der zwei Sportklassen erwartet die SchülerInnen fünf Sportstunden in der Woche, aufgeteilt in drei Stunden im Klassenverbund und eine Doppelstunde in ausgewählten Kleingruppen in der jeweiligen Schwerpunktsportart Rudern, Judo, BMX und Leichtathletik. Bei Spitzensportlern kann ebenfalls ein- bis zweimal Vormittagstraining nach individueller Absprache mit dem Koordinator Jochen Wittor stattfinden. In diesem Zusammenhang entsteht bis zum 2. Schulhalbjahr 2024/25 eine neue und hochwertige Leichtathletikanlage direkt neben der Mehrfachturnhalle auf dem Schulgelände. Zudem ist mittelfristig die Ernennung zur Eliteschule des Fußballs für Mädchen anvisiert. Das Fundament wurde bereits mit der Zusammenarbeit mit dem FC Schalke 04 angelegt, sodass die Qualität des Sportprofils durch verschiedene Bausteine in Gelsenkirchen in Zukunft weiter optimiert werden soll und Integration und Förderung weiterhin so auf allen Ebenen für „Alle“ trotz spezieller Begabtenförderung gelingen kann.
Weitere Informationen:
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2024/4
K. Baumeister: Heterogenität und Potenzialentwicklung – Comenius-Gesamtschule Voerde
Potenzialentwicklung für eine heterogene Schülerschaft – Lernbüros an der Comenius-Gesamtschule Voerde
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Heterogenität und Potezialentwicklung
– Lernbüros an der Comenius-Gesamtschule Voerde
Kirsten Baumeister
Heterogenität ist ein Wort, das in der Bildungsdiskussion nicht mehr wegzudenken ist, wenn es um Schwierigkeiten bei der bestmöglichen Förderung von Schüler:innen, aber auch, wenn es um die Begründung von neuen Lehr- und Lernansätzen geht.
Ein Konzept, das an vielen Schulen, auch an der Comenius-Gesamtschule Voerde, erfolgreich umgesetzt wird, um den Schüler:innen in ihrer Potenzialentwicklung besser gerecht zu werden, sind die Lernbüros.
Die Lernenden entscheiden über den Lernprozess
Unsere Lernbüros beziehen sich derzeit noch auf die Fächer Deutsch, Mathematik, Englisch und sind darauf ausgelegt, der Heterogenität unserer Schüler:innen, sowohl im Hinblick auf die Leistungsniveaus als auch auf individuelle Lerntypen, gerecht zu werden. Dies gelingt durch projektartiges Arbeiten in folgender Schrittigkeit:
Die Schüler:innen lernen in den Jahrgangsstufen 5 und 6 die Struktur der Lernbüros zunächst innerhalb des Klassenverbandes kennen und entwickeln ihre Reflexionskompetenz – bezogen auf den eigenen Lernprozess und Feedbackgespräche.
Ab Jahrgangsstufe 7 – derzeit ist das System bis Jahrgang 9 ausgebaut – entscheiden die Schüler:innen, welches Lernbüro (D, M, oder E) sie dreimal in der Woche (zweimal eine Doppel-, einmal eine Einzelstunde – im Band für den ganzen Jahrgang) besuchen.
Die Schüler:innen bestimmen selbst, wie sie dabei vorgehen. So besuchen einige z. B. die Fächer abwechselnd, während andere ihren Fokus zunächst auf ein fachbezogenes Projekt in einem Lernbüro legen, dieses abschließen, bevor sie sich dem nächsten widmen. In Austauschrunden mit Lehrkräften wird evaluiert, ob das Vorgehen dem Lernstand und Lerntyp entspricht und zum bestmöglichen Erfolg führt.
Wir legen Wert darauf, dass nicht Aufgaben schematisch „abgearbeitet“ werden. Deshalb verfolgen wir einen projektorientierten und deutlich prozessorientierteren Ansatz.
Das bedeutet, dass im Lernbüro ein produktorientiertes Projekt (z. B. ein Podcast, ein Lernspiel…) erstellt wird. Es gibt immer zwei Projekte zur Auswahl. Diese variieren in Sozialform, Methode und teils auch hinsichtlich des Schwerpunkts, um sowohl die Bandbreite der Lerntypen als auch die divergenten kognitiven wie fachlichen Kenntnisse berücksichtigen zu können. D. h. die Projekte sind so aufgebaut, dass unterschiedliche Leistungsniveaus berücksichtigt werden. Zudem wollen wir den Lernenden ermöglichen, individuelle Potenziale sowie Interessen einbringen und ausbauen zu können.
Doch wie gelingt das und vor allem, wie gestaltet sich bei aller notwendigen Berücksichtigung des Lernenden als Individuum die Notengebung?
Reflexion und Notengebung
In digitalen Taskcards können die Schüler:innen Hilfestellungen (Erklärvideos, Internetseiten, Tippkarten zu Methoden…) ebenso einsehen wie den Erwartungshorizont. Bei der Benotung werden die individuelle Dokumentation der Projektplanung und der Lernprozess berücksichtigt. So wird bei der Präsentation der Projektergebnisse mit Hilfe von Leitfragen der Lernprozess reflektiert: „Wo gab es Schwierigkeiten?“ „Was habe ich dazu gelernt?“ „Was mache ich beim nächsten Mal anders?“ Auch diese Reflexion findet Eingang in die Endnote. Dabei sind die Aspekte so gestaltet, dass die individuelle Entwicklung berücksichtigt werden kann. Da Teampartner:innen frei gewählt werden, können z. B. auch Schüler:innen mit dem Förderschwerpunkt Lernen mit leistungsstarken Schüler:innen ein Produkt gestalten. Selbstverständlich wird das in der Bewertung berücksichtigt: zum einen durch die individuelle Dokumentation der Projektplanung, zum anderen durch die vorgegebene Fokussierung auf den eigenen Lernprozess in der Phase der Präsentation.
Feedback durch Meilensteingespräche
Um sicherzustellen, dass die Schüler:innen nicht erst am Schluss mit einem nicht zufriedenstellenden Ergebnis konfrontiert und damit demotiviert werden, wird vor dem Beginn der Produkterstellung ein Meilensteingespräch mit den betreuenden Lehrkräften geführt.
Dabei fokussiert das persönliche Gespräch auf den aktuellen, individuellen Leistungsstand und die Schritte, die zum Erstellen eines angemessenen Produktes notwendig sind. Hier werden spezifische Hilfestellungen zur Vertiefung oder Motivationshilfen gegeben. Es kommt vor, dass bisherige Ergebnisse überarbeitet werden müssen. Wichtig ist uns dabei aufzuzeigen, dass Fehler Teil des Lernprozesses sind und ohne sie ein Fortschritt nur bedingt gelingen kann.
Gleichzeitig ist durch die Taskcards (z. B. durch Links, die tiefergehende Informationen enthalten) und den Austausch mit den Lehrkräften sichergestellt, dass alle Schüler:innen, gerade auch leistungsstärkere, ihr Potenzial ausschöpfen, sich weiterentwickeln, das Projekt proaktiv ausgestalten und sich nicht mit dem Minimum zufriedengeben.
Durch die schriftliche Dokumentation aller Arbeitsschritte, auch des Meilensteingespräches, kann – basierend auf dem individuellen Leistungsstand zu Beginn des Projektes – der Heterogenität der Schülerschaft Rechnung getragen werden.
Neue Verantwortung für Lehrkräfte und Lernende
Selbstverständlich erfordert diese Art des Lehr- und Lernprozesses ein Umdenken der Lehrkräfte hinsichtlich der persönlichen Haltung und des eigenen Rollenverständnisses. Das ist aber nicht die einzige Herausforderung, der sich Schule in diesem Zusammenhang, in einem solchen Entwicklungsprozess, einem Aufbrechen der tradierten Strukturen, stellen muss.
Neben dem Wechsel der Lehrerperspektive, weg von der klassischen Lehrerrolle als reiner Wissensvermittler hin zum Berater, Lerncoach… , stellen sich auch neue Herausforderungen auf Seiten der Schüler:innen: Das Reflexionsvermögen der Schüler:innen muss weitergehend geschult werden, eine Erziehung hin zur stärkeren Übernahme von Verantwortung für den eigenen Lernprozess (z. B. „Welche Hilfestellung in der Taskcard hat für mich Relevanz?“) muss erfolgen, und ebenso eingeübt werden, wie Fehler als legitimen Teil des Lernprozesses zu sehen – eine Einsicht, die durch die Erziehung mit dem Rotstift in Schulen systematisch abtrainiert wurde.
Weitergehende Perspektiven
Trotz der Herausforderungen – neben dem Aufwand bei der Erstellung der Projektpfade – haben wir im Interesse unserer heterogenen Schülerschaft weitergehende Perspektiven, die wir verfolgen:
- Digitale Lernbüros und damit auch Schulung des Umgangs mit digitalen Medien,
- Erweiterung des projekt- und prozessorientierten Lernbürokonzeptes in der Sekundarstufe I auf weitere Fächer(gruppen),
- Vernetzung mit dem Konzept der Fachlernzeiten (Wissenserwerbfokussierung) in der Oberstufe.
Weitere Informationen:
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2024/4
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