Offener Brief an die neue Schulsenatorin
Sehr geehrte Frau Bekeris,
wir, die Hamburger Gruppe der bundesweiten Bildungsinitiative Bildungswende JETZT!, gratulieren Ihnen zur Bestätigung Ihres neuen Amtes durch die Hamburger Bürgerschaft und wünschen Ihnen einen guten Start! Gleichzeitig wünschen wir Herrn Rabe alles Gute für die Zukunft, vor allem gesundheitlich. Wir freuen uns auf eine konstruktive Zusammenarbeit mit Ihnen, um gemeinsam die Bildung in Hamburg gerechter, inklusiver und demokratischer zu machen.
Download des offenen Briefes Schule muss anders
„Es geht darum, Inklusion im Alltag zu leben“, sagten Sie ganz richtig in Ihrer Antrittsrede. Wir teilen diese Einschätzung mit ganzem Herzen. Als Schulsenatorin stehen Sie nun an den Hebeln und Schaltern, mit denen eine echte Inklusion aller Schüler*innen ermöglicht werden kann, und wir möchten Sie dabei unterstützen.
Wir sind ein Bündnis aus Pädagog*innen, Schüler*innen, Eltern und Studierenden. Im September 2023 waren wir in Hamburg beim ersten bundesweiten Bildungsprotest seit fast 10 Jahren auf der Straße, um für die dringend benötigte Bildungswende laut zu werden. Uns eint das Ziel, mit der Bildung in Hamburg das Fundament zu setzen für eine offene Gesellschaft, die auch in Zukunft resilient gegen die Polemik von Hass und Ausgrenzung ist, die immer häufiger und unverhohlener zutage tritt.
Ein wichtiger Schritt dorthin ist ein inklusives Bildungssystem, in dem Eltern von Kindern mit Behinderung nicht zwischen sozialer Teilhabe und bestmöglicher Förderung wählen müssen, sondern beides am selben Ort, dem Ort ihrer Wahl, erhalten.
Wir fordern: Alle Hamburger Schulen müssen barrierefrei sein!
Nur so erleben Schüler*innen die offene Gesellschaft, die alle Menschen willkommen heißt, die stark zu machen das zentrale Ziel von Bildung sein muss!
„Mein Ziel ist es, jungen Menschen Bildungserfolge zu ermöglichen - unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Elternhaus oder Geschlecht.“ Danke, Frau Bekeris, für diese Worte! Auch wir sehen, dass die soziale Spaltung der Gesellschaft ihren Anfang in der Bildung nimmt: Kinder streben danach, „aufs Gymnasium“ zu gehen, weil da die „guten Kinder“ sind. Sie sind traurig, wenn sie nicht die Gymnasialempfehlung erhalten. Und Eltern versuchen notfalls mit einem Bürgerentscheid die Bedingungen an Gymnasien nach ihren Vorstellungen zu verändern, obwohl es an der Stadtteilschule diese Bedingungen (mehr Zeit zum Lernen) bereits gibt. Was hier deutlich wird und auch ausgesprochen werden muss, ist, dass das Zwei-Säulen-System eine soziale Selektion darstellt, denn Sprachprobleme, Lernschwierigkeiten, herausforderndes Verhalten und prekäre Lebenssituationen schultern die Stadtteilschulen in deutlich größerem Maße als die Gymnasien!
Darum fordern wir: Eine Schule für Alle!
Nur so kann es eine gerechte Bildung geben, unabhängig von Herkunft, Elternhaus oder Geschlecht.
Auf dem Weg dorthin dürfen wir die Bildung aller Hamburger*innen nicht durch Partikularinteressen einzelner (privilegierter) Gruppen torpedieren lassen: Bitte verhindern Sie G9 an den Gymnasien, damit die Stadtteilschulen nicht dadurch geschwächt werden, dass die Vielfalt dort abnimmt, weil Familien dem sozialen Sog einer vermeintlich homogenen, leistungsstarken und „sozialverträglichen“ Lerngruppe nicht mehr standhalten können.
Für alle Jugendlichen und Kinder bestimmen die heutigen Zustände an unseren Schulen deren zukünftige Chancen, Perspektiven und Partizipationsmöglichkeiten in unserer Gesellschaft. Wir möchten daher zum Schluss noch einmal ganz deutlich betonen: Schüler*innen müssen in der Gestaltung der Schule und des Schulsystems eine zentrale Rolle bekommen. Dafür braucht es feste Strukturen zur Beteiligung, viele Freiräume und eine grundsätzliche partizipative Grundhaltung. Denn das ist letzten Endes Demokratiebildung, deren Wichtigkeit wir hier nicht weiter betonen müssen.
Herr Rabe schreibt, Bezug nehmend auf die Hattie-Studie, in seinem Abschiedsbrief: „Entscheidend ist guter Unterricht: anspruchsvoll, fachlich sicher, aktivierend, erklärend, gut strukturiert.“ Wir hoffen, dass Sie die Forschungslage etwas umfassender wahrnehmen und neben diesen (durchaus zutreffenden und seit langem bekannten) Qualitätsmerkmalen für guten Unterricht auch einen sehr zentralen Aspekt berücksichtigen, der im Bildungssystem gern vernachlässigt wird: Bildung braucht Beziehung und Beziehungsarbeit braucht Zeit!
Diese Erkenntnis aus der Studie John Hatties zu unterschlagen, ist fahrlässig, wenn es um die Gestaltung eines zukunftsfähigen Bildungssystems geht. Denn das System kann gute Beziehungsarbeit fördern – oder eben verhindern. Und ohne Beziehung steht ein Bildungserfolg allerhöchstens jenen offen, die frei von familiären oder sozialen Belastungen, mit großer familiärer Unterstützung kurz: mit von Haus aus besten Startbedingungen ins Rennen gehen. Zu denken, dass ein „anspruchsvoller, fachlicher und gut strukturierter“ Unterricht allein einem traumatisierten, familiär belasteten oder unter sozialer Ungleichheit leidenden Kind zu mehr Bildung verhilft, geht völlig an der Realität vorbei. Wie soll der Schulalltag gelingen, wen man ohne Frühstück und Pausenbrot in die Schule geht?
Wir sind uns sicher, dass Ihnen als Sozialpolitikerin und Lehrerin das ebenso klar ist und dass wir hier ebenfalls ein gemeinsames Ziel verfolgen. Für die Beziehungsarbeit braucht es vor allem Zeit, Raum und Angstfreiheit.
Wir fordern daher:
Sinnvolles, vernetztes, partizipatives Lernen statt kanonischer Wissensansammlung!
Jede andere Form des Lernens ist der heutigen Zeit nicht angemessen.
Eine räumliche Ausstattung, die Rückzugsorte und alternative Lernformen unterstützt!
So entstehen Freiräume für soziales Miteinander im Lernen.
Die Erprobung und Umsetzung alternativer, lernförderlicher Leistungsrückmeldung!
Nur so kann Lernen ohne Angst gelingen
Wir kämpfen nicht gegen, sondern für das Bildungssystem in Hamburg. Wir sind Menschen aus dem Bildungssystem in Hamburg und erleben in ganz verschiedenen Rollen dieses System und gestalten es zum Teil mit. Wir möchten Sie einladen, unsere Perspektiven für Ihre Arbeit zu nutzen, um Hamburg nicht nur in Vergleichs- und Leistungstests auf der Rangliste nach oben zu bringen. Am 19. Januar 2024 hat Hamburg gezeigt, dass es mehr ist als Pfeffersäcke und Reedereien. Hamburg hat Courage, Haltung und Menschlichkeit. Damit das so bleibt, brauchen wir eine Bildung, die einen höheren Anspruch hat, als Punkte in Vergleichsarbeiten zu erlangen:
Frau Bekeris, lassen Sie uns gemeinsam an einem Bildungssystem arbeiten, das künftigen Hamburger*innen die Chance bietet, mutig und selbstbestimmt, zuversichtlich und resilient gegen antidemokratische Polemik die Zukunft zu gestalten.
Wir sind bereit und freuen uns auf Ihre Antwort!
Charlie Löbner und Heiko Wagner
für die BildungswendeJETZT! Hamburg