Bericht
Die gut besuchte diesjährige Mitgliederversammlung der GGG am 20.3.04 in der Peter-Weiss-Gesamtschule in Unna stand ganz im Zeichen der aktuellen Aktion der GGG, den Zwang zur äußeren Fachleistungsdifferenzierung in Gesamtschulen abzuschaffen. Seit 1982 dürfen Gesamtschulen bundesweit gültige Abschlüsse der Sekundarstufe I nur zuerkennen, wenn Mindestbedingungen der äußeren Fachleistungsdifferenzierung eingehalten werden.
Es geht auch ohne verordnete Differenzierung
Andere Wege des Lernens, z.B. in heterogenen Lerngruppen oder in flexibel nach Bedarf gebildeten Lerngruppen sind bisher juristisch ausgeschlossen. Beim Gesamtschulkongress 2003 in Köln beschloss die GGG, durch verschiedene Aktivitäten darauf hinzuarbeiten, dass die Kultusministerkonferenz diese Vereinbarung aufhebt und stattdessen den Gesamtschulen die Möglichkeit gibt, die für sie optimale Lernorganisation selbst zu entwickeln. Maßstab für die Vergabe von Abschlüssen sollen nicht länger die besuchten Kurse sein, sondern die an Standards orientierten Lernergebnisse.
Adressaten dieser GGG-Aktion sind folglich auf der einen Seite die Kultusministerien der Länder und die Kultusministerkonferenz (KMK), die die rechtlichen Voraussetzungen für diese Flexibilisierung schaffen müssen. Lesen Sie dazu das Interview mit der gegenwärtigen Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Staatsministerin Doris Ahnen aus Rheinland-Pfalz auf Seite … dieser Ausgabe. Adressaten sind aber auch die Gesamtschulen selbst, für die die Möglichkeiten, neue Formen individualisierenden Förderns zu entwickeln, attraktiv sein müssen, damit sie auch genutzt werden.
Rückenwind erhielt die GGG-Aktion durch neue Verordnungen für Gesamtschulen in Hessen (Entwurf s. a. GGG-Kontakte 02/2004) und Hamburg sowie durch die Aktion Neun macht klug der norddeutschen Landesverbände von Bündnis 90 / Die Grünen (s. Heft 1 / 04 der Gesamtschulkontakte). Die im Saal ausgehängten Texte trafen auf hohes Interesse der TeilnehmerInnen, machten sie doch deutlich, dass schon in zwei CDU-regierten (!) Bundesländern integrativeres Arbeiten möglich ist bzw. wird. Wenn dieser Zwischenschritt hier geht, warum nicht auch in allen anderen Bundesländern?
Mitreißender Eröffnungsbeitrag von Ulrich Thünken
Rückenwind war ebenfalls aus Nordrhein-Westfalen zu spüren, wo der Landtag im November 2003 die Abschaffung der KMK-Differenzierung gefordert hat (s. Kontakte 1 / 04). Da traf es sich gut, dass das langjährige Mitglied der GGG, Ministerialrat Ulrich Thünken aus dem Schulministerium, in Unna das einleitende Referat hielt. In seiner mitreißenden, frei vorgetragenen Rede machte er an vielen Beispielen und Überlegungen deutlich, wie vom Prinzip her unsinnig und schädlich für Lernen, für die soziale und die Leistungsentwicklung die wie auch immer begründete Trennung von Schülern und Schülerinnen im deutschen System ist. Gerade in der Gegenüberstellung von Konzepten integrierten Arbeitens wie in Skandinavien und deutschen Überzeugungen gelang es ihm, temperamentvoll und plastisch "unser" Denken in Kategorien von SchülerInnen zu demontieren. Er meinte "unser" Denken, denn Ulrich Thünken machte auch an Hand von persönlichen Beispielen deutlich, wie stark er und wir noch im selektiven Denken verhaftet sind, zum Beispiel, wenn wir von der "Schülerzusammensetzung" unserer Schulen sprechen. Insofern sind auch die Gesamtschulüberzeugten noch nicht ganz vom Geist des selektiven Denkens emanzipiert. Er berichtete, dass immer noch Gesamtschulen Anträge ans Ministerium stellen, abschlussbezogene Leistungsgruppen in Jahrgang 9 und 10 bilden zu dürfen. Doch es gibt Schulen, die schon Abweichungen von der Regel in die weniger selektive Richtung praktizieren. Sie stellten ihre Praxis während einer einstündigen Erkundungsphase vor.
Beispiele erster Schritte: 7 Gesamtschulen aus 5 Bundesländern stellen ihre Praxis vor
In mehreren Bundesländern haben sich Gesamtschulen schon auf den Weg gemacht, Konzepte zu erproben bzw. zu praktizieren, die die äußere Differenzierung reduzieren und mehr mit heterogen zusammen gesetzten Lerngruppen arbeiten. Sie ermöglichen, dass die Klassen in einzelnen Fächern und Jahrgängen nicht aufgeteilt werden müssen. Das Lernen auf Leistungsniveaus findet klassenintern bei einem Lehrer bzw. einer Lehrerin statt. Das bringt organisatorische Vereinfachungen mit sich. Vor allem hat es pädagogische Vorteile und wirkt sich positiv auf die Motivation und den Lernzuwachs aus. Wegen der Abschlussanerkennung müssen die Schüler und Schülerinnen noch Fachleistungskursen zugewiesen werden. Sie werden E-Kurs- oder G-Kurs-SchülerInnen, bleiben aber in "ihrer" Klasse und lernen dort mit den Kindern des anderen Kursniveaus gemeinsam. Die Klassenarbeiten werden differenziert gestellt und, bezogen auf die Kursniveaus, bewertet. Schüler und Schülerinnen aus dem "G-Kurs" haben die Möglichkeit, E-Kurs-Aufgaben zu lösen und nutzen sie. Sie orientieren sich nach "oben".
6 Gesamtschulen mit unterschiedlich langer Erfahrung und unterschiedlich umfangreichen Konzepten solchen klasseninternen Arbeitens stellten ihre Praxis vor: [von Nord nach Süd]
- IGS Bergstedt, Hamburg
- Max-Brauer-Schule,Hamburg
- Gesamtschule Friedenstal aus Herford, NRW
- Gesamtschule Wuppertal-Barmen, NRW
- IGS Koblenz-Pollenfeld, Rheinland-Pfalz
- IGS Kastellstraße, Wiesbaden, Hessen
Die IGS Göttingen-Geismar stellte ihre Praxis ebenfalls vor. Aber sie arbeitet unter besonderen Bedingungen. Sie wurde 1982 zusammen mit 5 weiteren Gesamtschulen auf die "Sonderliste" gesetzt: die durfte - ohne Schaden für die Abschlüsse - integriert arbeiten. Das hat sie seitdem konsequent genutzt, um ganz auf äußere Fachleistungsdifferenzierung zu verzichten und bis Klasse 10 in allen Fächern mit wirklich heterogen zusammen gesetzten Lerngruppen zu arbeiten. Ihre langjährigen Erfahrungen sind durchweg positiv.
Alle sieben Schulen haben zugesagt, ihre Konzepte und Erfahrungen zur Veröffentlichung in der nächsten Ausgabe der Gesamtschulkontakte (Heft 3 / 04) zur Verfügung zu stellen, das im September 2004 erscheint. Deshalb werden sie hier nicht näher vorgestellt. Im Rahmen der Mitgliederversammlung wurden weitere Gesamtschulen mit ähnlicher Arbeitsweise genannt. Sie sind herzlich eingeladen, ihre Konzepte und Erfahrungen zur Verfügung zu stellen.
Austausch der Erkenntnisse in Zufallsgruppen
Leider stand für diese Phase viel zu wenig Zeit zur Verfügung. Das Bedürfnis, mit Anderen die ausgesprochen anregenden Beispiele zu besprechen, daraus erste Erkenntnisse und Schlussfolgerungen für die Weiterentwicklung der eigenen Schule zu ziehen, war groß, musste aber aus Zeitgründen knapp gehalten werden. Immerhin macht diese Beobachtung Hoffnung, mit dieser Mitgliederversammlung einen Auftakt für die Neuorientierung in einer nennenswerten Zahl von Gesamtschulen gesetzt zu haben und so das Ziel der Mitgliederversammlung erreicht zu haben. Dies drückte sich auch in der deutlichen Zustimmung zum vorgelegten Resolutionsentwurf: "Dem Signal von Unna" aus.
Die Mitgliederversammlung drückte einhellig ihre Zustimmung zum Entwurf aus. Mit einigen Anregungen im Detail beschloss der anschließend tagende Hauptausschuss der GGG einstimmig das Papier als Grundlage der weiteren Durchführung der Aktion.