Länderbericht 2004/4
Chance vertan? – Neues Schulgesetz und neue Sekundarstufen I-Verordnung in Berlin
Anfang 2004 wurde das neue Schulgesetz in Berlin in Kraft gesetzt. Es enthielt eine ganze Reihe interessanter Neuerungen, von denen hier nur einige genannt werden. Sie beziehen sich auf die Autonomie der Schule (Orientierung der Arbeit an einem Schulprogramm, Stärkung der Schule bei der Personalauswahl, Selbstbewirtschaftung der
Haushaltsmittel für Unterrichtsmaterial, ...), auf die Grundschule (sie bleibt 6-jährig, keine Zurückstellungen bei der Einschulung, Vorverlegung des Einschulungsalters um ein halbes Jahr, mindestens verlässliche Halbtagsschule für alle Schulen, flexible Schulanfangsphase und einiges mehr), auf die gymnasiale Oberstufe (eine interessante Regelung für die Verkürzung des Durchlaufs zur Abitur auf 12 Jahre als Normalform der Gymnasien, daneben ein 13-jähriger Durchlauf für Schüler, die mit entsprechender Qualifikation von der Realschule oder der Hauptschule kommen; die Gesamtschulen können beide Varianten anbieten).
Sucht man nach neue Ideen für die Sekundarstufe I – insbesondere solchen, die „eine Schule für Alle“ anstreben – so wird es mager. Etwas enttäuschend, immerhin leben wir im Jahr 3 nach PISA. Neben die vorhandenen vier Schularten tritt eine neue, die verbundene Haupt- und Realschule, nun also fünfgliedrig. Immerhin wird der Versuch einer Beschreibung der Unterschiede der Schularten in ihrer Zielsetzung gemacht: eine grundlegende allgemeine Bildung, eine erweiterte allgemeine Bildung, eine vertiefte allgemeine Bildung. Können Sie das den drei klassischen Schularten zuordnen? Für die Gesamtschule heißt es dann folgerichtig sie „vermittelt allen Schülerinnen und Schülern eine grundlegende, erweiterte oder eine vertiefte allgemeine Bildung“. Jetzt wissen wir es ganz genau! Immerhin, es wird großer Wert darauf gelegt, die verschiedenen Bildungsgänge durchlässig zu gestalten. Allen Schülern der Sekundarstufe I wird die Möglichkeit eröffnet, den mittleren Bildungsabschluss zu erreichen. Alle Schüler der Sek I, wie schon oben angedeutet, können bei guten Leistungen auf die gymasiale Oberstufe, wenn auch mit Auflagen.
Insgesamt lesen sich die ersten Teile des Schulgesetzes recht hoffnungsfroh, je weiter man nach hinten kommt, desto mehr fühlt man wieder in der bildungspolitischen und pädagogischen Vergangenheit. Das geht nicht immer ohne Widersprüche ab.
Nun war es also spannend, zu sehen, was denn die Sekundarstufen I-Verordnung so bringt. Sie ist, entgegen allen bisherigen Usancen im Entwurf bereits veröffentlicht worden. Sie bleibt der Gesetzesvorlage treu. Von allem ein bisschen:
Das Positive: Durchlässigkeit, Betonung der individuellen Förderung, Einbeziehung der Eltern, Treffen von Bildungsund Erziehungsvereinbarungen, Informations- und Beratungspflicht gegenüber Eltern und Schülern, Umgang mit LRS, zusätzliche Förderung von Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache und, man höre und staune, der jahrgangsgemischte Unterricht wird zugelassen.
Aber: Die Altersmischung darf nur höchstens zwei Jahrgänge umfassen und Deutsch, Fremdsprache und Mathematik werden ausgenommen. Viele sinnvolle Regelungen, so ist zu befürchten, stehen nur auf dem Papier, da sie zusätzliche Ressourcen verlangen. Die Regelungen, die den Versuch machen, bei zerklüfteter Schullandschaft dennoch zu einem „gemeinsamen“ mittleren Schulabschluss zu kommen, wirken krampfig. Die Chance, zu einer einheitlichen Bewertungsskala zu kommen wird vertan. Die Fachleistungsdifferenzierungsvorschriften sind etwa so schlimm wie das Wort selbst und gehen über die Forderungen der überholten KMK-Vereinbarung noch hinaus. Öffnungsklauseln fehlen, die eine schulische Weiterentwicklung im Rahmen des jeweiligen Schulprogramms ermöglichen könnten. Fazit: Der Entwurf zur Sekundarstufen I-Verordnung enthält eine hohe Regelungsdichte, man spürt wenig vom Geist der Anfangsparagraphen des Schulgesetzes, Öffnungen geschehen halbherzig.
Bleibt dennoch zu hoffen, dass die jetzt vorliegende Fassung der Verordnung nur verstanden wird als die Formulierung des jetzigen Zustandes als Ausgangspunkt für notwendige Entwicklungen jeder Schule.
Lothar Sack