Es geht nicht um Fürsorge, sondern um egalitäre Teilhabe
Quelle: HLZ - Heft 12 - Dez. 2010
Von: Siegrid Trommershäuser
Inklusive Schule ist die Schule, die gemäß § 24 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) wesentlicher Bestandteil eines inklusiven Bildungssystems ist (1). Durch Ratifizierung der Konvention durch den deutschen Bundestag haben sich Bund und Länder völkerrechtlich verpflichtet, ihre Umsetzung national zu gewährleisten. Seit März 2009 ist sie geltendes Recht.
Die Inklusive Schule bezieht sich auf das deutsche Schulsystem, besonders auf das Recht auf Bildung für alle Kinder und Jugendlichen in der Zeit der zehnjährigen Schulpflicht. Sie bedeutet eine Verpflichtung zum Systemwechsel, bezogen auf das bisherige Schulsystem. Sie tritt ein für das Recht aller Kinder und Jugendlichen, unabhängig von ihren Fähigkeiten oder Beeinträchtigungen, unabhängig von ihrer ethnischen, kulturellen oder sozialen Herkunft, miteinander und voneinander zu lernen. Sie bezieht sich nicht nur auf die Gruppe behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen. Es geht ihr nicht um eine „Sonderpädagogisierung“ der Schule.
Mit dem bisherigen gegliederten Schulsystem verträgt sie sich nicht, auch wenn die Kultusministerkonferenz (KMK) in ihrer letzten Stellungnahme vom Juni 2010 (2) dies erneut zu ignorieren scheint.
Die Inklusive Schule betrachtet Vielfalt und Unterschiedlichkeit – Heterogenität und Diversität – als Bereicherung, als Ressource. Sie geht von der Besonderheit und den Bedürfnissen eines jeden Kindes aus. Im Gegensatz zur Integration will sie nicht vorher aussortierte Kinder eingliedern oder wiedereingliedern. Kein Kind soll ausgegliedert werden, weil es den Anforderungen der Schule nicht entspricht. Sie will nicht die Kinder der Schule anpassen, sondern sich an den individuellen Stärken, Bedürfnissen und Erfordernissen aller Kinder ausrichten.
Sie kennt keine Kategorisierung nach „festgestellten Förderbedarfen“ und „angemessenen Förderorten“, ist gegen Selektion und Ausschluss und
ist dem Leitbild der Inklusion verpflichtet, wie es bereits 1994 in der Erklärung von Salamanca (UN-Weltkonferenz) formuliert wurde (3). Darin heißt es,
„dass menschliche Unterschiede normal sind, dass das Lernen daher an das Kind angepasst werden muss und sich nicht umgekehrt das Kind nach vorbestimmten Annahmen über das Tempo und die Art des Lernprozesses richten soll.“
Das Recht auf gemeinsames Lernen stellt also ein Menschenrecht dar, das an keine andere Bedingung geknüpft ist als an das Menschsein. Dies gilt uneingeschränkt für alle Kinder.
Wie gelingt individuelles Lernen?
Wenn die Inklusive Schule das Menschenrecht auf gemeinsames Lernen aller Kinder in einer Schule bis zum Ende der Pflichtschulzeit bedeutet, so hat dies erhebliche Auswirkungen auf Schulstruktur und Lernkultur.
Ihr Konzept ist der Abbau von Barrieren für individuelles Lernen und Teilhabe am Leben durch entsprechend gesicherte Rahmenbedingungen. Dafür müssen ausreichend Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, vor allem durch Umschichtung und Bündelung bereits vorhandener Ressourcen. Hierzu bedarf es des politischen Willens und Handelns und der entsprechenden demokratischen und bürgerrechtlichen Kontrolle eines jeden einzelnen Bürgers dieses Staates.
Der derzeitig offensichtlich ineffektive Umgang mit Ressourcen im bestehenden gegliederten Schulsystem kann deutliche Hinweise auf Umschichtungsmöglichkeiten geben (4).
Darüber hinaus gibt es weitere Erfordernisse für gelingendes individuelles Lernen:
- Fortbildungen für Führungs- und Leitungspersonal, pädagogisches, soziales, therapeutisches Fachpersonal, weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Eltern, die alle in ihrer Biografie nur ein separierendes Schulsystem erlebt haben, sind unbedingt erforderlich.
- Darüber hinaus müssen Schulen ganztagsmäßig mit rhythmisiertem Tagesablauf als Lebens- und Lernräume sowohl innerlich als auch äußerlich umgestaltet werden.
- Lerngruppen müssen überschaubar und heterogen zusammengesetzt sein.
- Sie müssen von multiprofessionellen Teams begleitet werden, in denen die jeweiligen Schülerbiografien mit ihren entsprechenden Angeboten, Anforderungen und Hilfebedarfen im Fokus sind.
- Lehr- und Lernpläne müssen im Team angepasst und individuelle Erziehungspläne entwickelt, dokumentiert, überprüft und fortgeschrieben werden.
- Prozesse des selbstorganisierten und eigenverantwortlichen Lernens in sozialen Zusammenhängen müssen methodisch verankert sein und den Alltag bestimmen.
- Koordination, Kooperation und Dialogfähigkeit aller Beteiligten sind selbstverständlich.
- Enge Partnerschaften zu außerschulischen Kooperationspartnern, die für die Lern-, Erziehungs- und Hilfeplanung erforderlich sind, müssen durch verlässliche Kooperationsvereinbarungen sichergestellt und innerschulisch verankert werden. Dabei ist auch zu prüfen, ob Änderungen entsprechender sozial- und schulrechtlicher Bestimmungen zugunsten einer größeren Verantwortlichkeit auf Seiten des kommunalen Schulträgers notwendig sind.
Welche Schritte müssen wir auf dem Weg zu einem inklusiven Schulsystem in einem Zeitraum von zehn Jahren gehen?
Notwendig ist eine systematische Rahmenplanung, mit der sich Bund und Länder rechtsverbindlich festlegen, die personellen, sächlichen und räumlichen Voraussetzungen zu schaffen. Hierher gehört auch die Überlegung zur Schaffung eines Bundesschulgesetzes, allen Schülerinnen und Schülern den Besuch einer Regelschule zu ermöglichen und damit eine Schule für alle ohne Aussonderung zu schaffen.
Da sich alle Schulen auf Grund der Rechtslage zu inklusiven Schule entwickeln müssen, kann der Umgestaltungsprozess des Schulsystems bestimmte zurzeit existierende Schulformen, wie zum Beispiel Gymnasien oder auch Förderschulen, nicht ausnehmen.
Das Recht auf Bildung für alle muss sich im Erziehungs- und Bildungsauftrag und den Grundsätzen der Verwirklichung des Rechts auf Bildung in den Ländergesetzgebungen niederschlagen.
Alle Schulen der Bundesländer haben den Auftrag, sich zu inklusiven Schulen zu entwickeln.
Das bezieht sich nicht nur auf die sonderpädagogische Förderung, sondern grundsätzlich auf Individualisierung und Förderung aller Schülerinnen und Schüler in der Regelschule im gemeinsamen Lernen. Die Schulgesetzgebung der Bundesländer muss sich in allen daraus folgenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften daran anpassen. Das bedeutet auch, dass Erfordernisse und Hilfen – sonderpädagogische und unterstützende pädagogische Hilfen, auch Eingliederungshilfen und therapeutische Hilfen – in einem vor Ort in der Regelschule zu schaffenden Unterstützungszentrum zusammengeführt und schulleitungsmäßig angebunden werden müssen.
Bestehende Beratungs- und Förderzentren an Förderschulen gehen in diese Unterstützungszentren ein, entsprechendes Fachpersonal wird auf diese Weise gewonnen und umgeschichtet. In diesen Unterstützungszentren arbeitet zum Beispiel auch Fachpersonal der Kinder- und Jugendhilfe und aus der Berufs- und Arbeitswelt.
Auch wenn die Bildungspolitik jetzt am Zuge ist, kann jede Einzelschule ihrerseits bereits jetzt etwas tun, im Zuge einer Selbstevaluierung ihrer pädagogischen Schulentwicklung kann sie die Entwicklung zur Selbständigen Schule nutzen und den Weg zur Inklusiven Schule in Angriff nehmen. Hilfe zur Erfassung des Standes und Prozesses der Weiterentwicklung bietet hier der „Index für Inklusion“ der Universität Halle (5).
Unabdingbar für die nächsten Jahre ist eine umfassende aufklärende Öffentlichkeitskampagne, in der die Bedeutung von Inklusion und Selektion für das demokratische Selbstverständnis einer Gesellschaft mehr ins Bewusstsein der Allgemeinheit gehoben wird.
Wie können wir unsere Menschen- und Bürgerrechte als Staatsbürger unseres Gemeinwesens in Bezug auf ein inklusives Schulsystem zur Stärkung unserer Demokratie nutzen?
Die gegenwärtige Diskussion bringt die Politik unter Druck zu handeln. Je öffentlicher die Diskussion, umso größer der Druck, vor allem wenn internationale Vergleiche herangezogen werden. Für viele Menschen in Deutschland ist der bevorstehende Strukturwandel noch unvorstellbar, obwohl er in anderen Staaten bereits selbstverständlich ist, zumindest aber begonnen hat.
Gerade die Herausforderung, Schule inklusiv zu gestalten, bietet Deutschland eine historische Chance, sein Bildungssystem für alle zu verbessern, neu zu gestalten. Dazu ist ein Abschied von tradierten Vorstellungen nötig. Wir müssen in einen öffentlichen Dialog darüber eintreten, wie veraltete Strukturen aus Fremdbestimmung und Normierung überwunden und zu demokratischen weiterentwickelt werden können.
Selektion, Elitebildung und Aussonderung liegen nicht im gesamtgesellschaftlichen Interesse, wie auch die Wirtschaftskrise zuletzt gezeigt hat. „Wenn eine Demokratie innerlich starke Menschen braucht, dann muss die Breite der Gesellschaft auch in der Schulklasse zu finden sein“, sagt Prof. Dr. Matthias von Saldern von der Universität Lüneburg (6).
Außerdem ist die Überwindung einer separierenden Gesellschaft durch die Schaffung und Wahrung egalitärer Teilhabe aller am Leben und die Achtung der Menschenrechte endlich auch die Überwindung vieler noch immer unbewusster extremer Einstellungen aus der deutschen Geschichte. Schaffen wir also Öffentlichkeit, zeigen wir Zivilcourage und nutzen wir unsere Widerstands- und Beteiligungsrechte, um gegen Menschenrechtsverletzungen – und jede Diskriminierung und Ungleichbehandlung ist eine solche – vorzugehen.
Dies kann zum Beispiel über die Zusammenarbeit mit der unabhängigen nationalen Monitoringstelle geschehen, die beim Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin gemäß Vorgaben der UN-BRK eingerichtet wurde. Ihre Aufgabe ist es, die Umsetzung der Konvention in Deutschland konstruktiv und kritisch zu begleiten. Sie betreibt Monitoring sowohl auf struktureller Ebene wie auch in Einzelfällen.
Verändern wir unsere Sichtweise von einer Politik der Fürsorge hin zu einer Politik der Rechte.
Siegrid Trommershäuser
Der Beitrag beruht auf einem Thesenpapier der Autorin für den Workshop „Inklusive Schule“ bei der Summer Factory des Instituts Solidarische Moderne vom 24. bis 26. September 2010 in Frankfurt
(1) Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Bundesgesetzblatt Jahrgang 2008 Teil II Nr. 35. Bonn 2008, S.1419 ff.
(2) Pädagogische und rechtliche Aspekte der Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in der schulischen Bildung. Diskussionspapier der Kultusministerkonferenz am 21. und 22. 6. 2010
(3) Deutsche UNESCO-Kommission e.V. (Hg.): Inklusion – Leitlinien für die Bildungspolitik. Bonn 2009
(4) Ulf Preuss-Lausitz (Hg.): Gemeinschaftsschule – Ausweg aus der Schulkrise? Konzepte, Erfahrungen, Problemlösungen. Weinheim und Basel 2008
(5) Ines Boban, Andreas Hinz: Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwickeln. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2003
(6) Andreas Hinz, Ingrid Körner, Ulrich Niehoff (Hg.): Auf dem Weg zur Schule für alle. Barrieren überwinden – inklusive Pädagogik entwickeln. Marburg 2010