IGLU 2016: Es ist eine Schande!

Anfang Dezember 2017 wurden die Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU 2016) veröffentlicht. Hier eine Einschätzung der wichtigsten Ergebnisse.

WERNER KERSKI

Grafik 1: Anteil (%) leseschwacher Schüler*/Zeitpunkte
Die Ergebnisse sind außerordentlich deprimierend.

Die Leseleistungen haben sich seit 2001 kaum verändert. Die Schüler Deutschlands befinden sich im unteren Mittelfeld. In Europa ist nur in Frankreich, Belgien (Französische Gemeinschaft), der Slowakei und Malta der Anteil sehr schwacher Leser größer als in Deutschland. Der Anteil der SchülerInnen ohne ausreichende Lesekompetenz liegt 2016 bei 18,9%. Im Vergleich zu 2001 gab es im Jahr 2006 eine deutliche Verbesserung. Dieses „Zwischenhoch“ hat sich aufgelöst, der Anteil schwacher Leser steigt seitdem stetig.

Deutschland behält die rote Laterne
Grafik 2: Vorsprung (Punkte) sozial privilegierter Schüler* i. d. Leseleistung in best. Ländern

Es gibt kein Land, in dem die sozial bedingten Unterschiede in der Leseleistung signifkant größer sind. In der Grafik 2 ist der Leistungsvorsprung von Kindern aus Familien mit mehr als 100 Büchern gegenüber solchen mit weniger aufgelistet. 54 Punkte für Deutschland bedeuten einen Unterschied von etwas mehr als einem Lernjahr. In vier Ländern verstärkte sich seit 2001 der Zusammenhang zwischen Leseleistung und sozialer Herkunft. Deutschland gehört dazu!

Dies kommentiert der zuständige Bildungsforscher Wilfried Bos mit den Worten:

„Es ist schlicht und ergreifend eine einzige Schande, dass wir Kinder nicht zu dem Erfolg führen.“ (FR, 6.12.2017)

Soziale Ungerechtigkeit im Übergang

Dass Kinder mit schwächerer Leseleistung seltener ihre Schullaufbahn an einem Gymnasium fortsetzen, liegt auf der Hand. IGLU 2016 weist eine zusätzliche Benachteiligung von Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern beim Übergang in die Sekundarstufe nach, unabhängig von ihrer Leseleistung: Auch bei gleicher Lesekompetenz haben Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern eine deutlich höhere Chance auf eine Gymnasialpräferenz als Kinder aus bildungsfernen Familien.

Die soziale Benachteiligung dieser Kinder hat seit 2001 sogar zugenommen: Bei gleicher Leistung und gleichen kognitiven Fähigkeiten war 2001 die Chance auf eine Gymnasialempfehlung für Kinder, deren Eltern der oberen und unteren Dienstklasse zuzuordnen sind (Spitzenmanger, höhere Beamte, Ärzte, usw.), 2.6-mal so hoch wie für Kinder von Facharbeitern. 2016 ist diese Chance 3,4-mal so hoch.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die Mercator-Studie „Faire Beurteilung des Leistungspotentials von Schülerinnen und Schülern“ der TU Dortmund. In der Studie wird die soziale Ungleichheit bei den Übergängen im deutschen Schulsystem untersucht. Das Hauptergebnis findet sich in der Zusammenfassung:

„Wir konnten in unserer Studie sowohl beim Übergang von der Grund- auf die weiterführende Schule als auch beim Übergang von der nicht-gymnasialen Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II zeigen, dass diese nicht nur durch Unterschiede in der Leistung, sondern auch durch Unterschiede in der sozialen Herkunft beeinflusst werden.“ (Studie Fairbulous, 2017, Seite 3)

Die Autoren empfehlen:

„Wir empfehlen eine Änderung der momentanen Gestaltung des Übergangs von der Grund- auf die weiterführende Schule. Hier sollten bei der Übergangsempfehlung unbedingt objektive Testergebnisse mitberücksichtigt werden, da ansonsten die Gefahr besteht, dass viele Kinder auch aufgrund ihrer sozialen Herkunft eine weiterführende Schulform besuchen, die nicht ihrem Potenzial entspricht.“ (Studie Fairbulous, 2017, Seite 6)

Auch perfekter Unsinn bleibt Unsinn!

Das Problem in Deutschland ist der viel zu frühe, selektive Übergang nach dem vierten Schuljahr. Der Rat der Dortmunder Wissenschaftler blendet aus, dass die Grundschullehrer bei ihrer Empfehlung nicht nur die erzielten Leistungen, sondern auch den prognostisch zu erwartenden Erfolg auf dem Weg durch die Sekundarstufe zu berücksichtigen haben. Abgesehen davon, dass eine solche Prognose angesichts der Entwicklung im Jugendalter an Wahrsagerei grenzt, muss die Prognose auch das soziale Umfeld der Kinder und die zu erwartende Unterstützung durch das jeweilige Elternhaus berücksichtigen.

Grundschullehrer erleben zu oft, dass Kinder trotz guter Leistungsfähigkeit am Gymnasium scheitern und abgeschult werden. Das betrifft insbesondere Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern, deren Eltern sich eine Unterstützung nicht leisten können. Deshalb empfehlen Grundschullehrer den leistungsstarken Kindern aus bildungsfernen Elternhäusen oft NICHT das Gymnasium. Ohne Unterstützungsleistungen durch das Elternhaus ist das Gymnasium kaum zu schaffen.

Unbeachtet bleiben auch die Wirkungen des gegliederten Schulsystems auf die Kultur der Grundschulen. Der Blick auf das einzelne Kind und dessen individuelle Lernentwicklung verliert sich schon in der Grundschule zunehmend angesichts des Zwangs, Kinder entsprechend ihrer Begabung zu klassifizieren und auf die Logik des gegliederten Schulsystems vorzubereiten. Die große Risiokogruppe im IGLU-Test von 19% macht deutlich, dass schon in der Grundschule Potenziale bei den Kindern nicht erschlossen werden. Wie groß die Aufgabe ist und wie erfolgreich Gesamtschulen in NRW arbeiten, hat die Abiturerhebung von SLV-GE NRW und der GGG NRW gezeigt. 70,5% der Abiturientinnen und Abiturienten des Jahrgangs 2009 an den NRW-Gesamtschulen wurde am Ende der Grundschulzeit ein anderer Abschluss als das Abitur vorhergesagt. Diese Jugendlichen machten also entgegen der Prognose das Abitur. Eine Schule für alle bis zum ersten Abschluss wäre sicher eine sinnvollere Antwort auf die sozialen Verwerfungen am Ende der Grundschulzeit als die Perfektionierung des Übergangs.

Alter Wein in neuen Schläuchen

Die in IGLU 2016 und von der Mercatorstiftung dargestellte soziale Schieflage im deutschen Bildungssystem ist keineswegs eine neue Nachricht. Spätestens seit PISA 2000 wurde dieser Tatbestand ausführlich dargestellt. Wichtig an den neuen Studien bleibt, dass sie die deutsche Gesellschaft an diesen ungelösten Skandal des deutschen Schulsystems erinnern. Offensichtlich ist es in Deutschland in immerhin 17 Jahren seit PISA 2000 leichter, den Weg vom 9-jährigen Gymnasium hin zum 8-jährigen zu gehen und auch noch die Kehrtwende zu organisieren. Oder anders formuliert: Die Lobby der gymnasialen Eltern ist deutlich stärker als die Lobby der Eltern armer oder bildungsferner Kinder und genau deswegen ändert sich nichts!

Alle Untersuchungen weisen nach, dass der Übergang nach der Grundschulzeit sozial hoch selektiv ist. Naheliegend ist es, den ersten Übergang mit einer selektiven Funktion deutlich später stattfinden zu lassen. Das bedeutet bis zum ersten Abschluss am Ende der Sekundarstufe I die „Eine Schule für Alle“. Dies ist internationaler Standard und dafür wird sich die GGG weiterhin einsetzen.

Angesichts der zu erwartenden Widerstände und der beschriebenen Lobby des Gymnasiums ist es eine richtige, aber leider schwer durchzusetzende Forderung. Es gibt dennoch eine Reihe von Maßnahmen, um der sozialen Ungerechtigkeit entgegen zu wirken, ohne Grundsatzentscheidung.

Deutschland gibt im internationalen Vergleich zu wenig für den Bildungsbereich aus, NRW hat zudem die rote Laterne im Vergleich der Bundesländer. Die logische Konsequenz: Der Bildungsetat ist deutlich zu erhöhen.

Ungleiches ungleich behandeln

Diese Aussage ist auch für den Schulbereich weitgehend unbestritten, nur gibt es keine Konsequenzen. Auf einen schulscharfen Sozialindex warten die Schulen seit langem. Seit PISA 2000 fordert die GGG NRW eine bedarfsgerechtere Verteilung. 2006 gab es einen ersten Ansatz im Landeshaushalt. Seitdem hat sich nichts bewegt. Ein Sozialindex würde die Ausbildung der Kinder aus SGB II-Haushalten fördern und damit den „armen“ Kindern zugutekommen. Schulen würden in die Lage versetzt, kompensatorisch und gezielt die Kinder aus bildungsfernen Familien zu fördern.

Auf den Anfang kommt es an!

Die Bildungsfinanzierung vom Kopf auf die Füße stellen!

Für Jugendliche in der gymnasialen Oberstufe werden deutlich mehr Mittel zur Verfügung gestellt als für Kinder in den KITAs oder in den Grundschulen. Auch die durchschnittliche Frequenz von Oberstufenkursen ist deutlich niedriger als die Klassenfrequenz in der Sekundarstufe I. Ein Umsteuern wird seit vielen Jahren nicht nur von der GGG gefordert.

Grundschule

Ein gebundener Ganztag, um Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern besser zu fördern, wäre ein Weg. Die Grundschulen könnten damit die additive Grundstruktur der OGS durch einen rhythmisierten Ganztag ersetzen, in dem Lernen, Üben und Freizeit zusammenhängend und in eigener Verantwortung stattfindet. Dazu müsste den Grundschulen ein entsprechendes Ganztagsdeputat zugewiesen werden.

Sekundarschule

Es darf nicht zugelassen werden, dass die gesellschaftlich vereinbarten Aufgaben der Integration der Flüchtlinge und der Inklusion der Behinderten von einzelnen Schulen nicht wahrgenommen werden. Alle Schulen und Schulformen tragen hier eine gemeinsame Verantwortung und müssen sich angemessen beteiligen.

Abschulverbot

Jede Schule ist bis zu einem ersten Abschluss für die aufgenommenen Kinder verantwortlich und muss sie bis zu diesem Abschluss fördern. Das Abschulen beschädigt die Kinder oder Jugendlichen. Die abgebende Schule entledigt sich der Aufgabe der Förderung von Kindern und Jugendlichen und verlagert diese Aufgabe an andere Schulen.

Quellen:

stiftung-mercator.de/
FA(IR)BULOUS Faire Beurteilung des Leistungspotenzials von Schülerinnen und Schülern

www.ifs.tu-dortmund.de
Original-iglu-Berichte

nw.ggg-web.de/
FA(IR)BULOUS und IGLU Publikationen, ISA1/2018

Wilfried Bos, Es ist eine Schande, Frankfurter Rundschau, 06.12.2017

Sekundarschule: Reduzierung der Zügigkeit