Der Schulgründungsprozess der Sekundarschule Rheinhausen

„Aus der Not eine Tugend machen!“

Diese Haltung vertritt die Schulleiterin der Sekundarschule Rheinhausen, Autorin des folgenden Beitrags. Sie beschreibt, wie sich ihre Schule unter verschärften gesellschaftlichen Bedingungen weiterentwickelt.

MARTINA ZILLA SEIFERT

Diese neuen, herausfordernden Bedingungen sind:

  • große Armut in bestimmten Stadtvierteln und somit auch in den dort ansässigen Schulen
  • Inklusion, die allerdings von einem selektiven Schulsystem strukturell nicht erfüllt werden kann und somit zum größten Teil von den integrierten Systemen gestaltet werden muss und auch kann
  • Begleitung von Kindern, die aufgrund von Armut, Krieg und Vertreibung zu uns kommen
  • finanziell marode Voraussetzungen und die vollständige Agonie im Bereich der Handlungsoptionen, mit denen Kommunen als Schulträger kaum noch steuern bzw. steuern können
  • vollständig gescheiterte Bildungsplanung in Blick auf die personale Versorgung der Schulen – Schulen, die unter den o.g. Bedingungen arbeiten müssen, finden kaum ausgebildete LehrerInnenl

Programme wie z.B. „Gute Schule 2020“ laufen vollständig ins Leere – Kommunen rufen die Gelder nicht ab, weil es keine Menschen gibt, die z.B. dringend nötige Bauprojekte, die mit den Geldern realisiert werden sollten, umsetzen könnten.

Sekundarschule Rheinhausen

Die Schule liegt in einem prosperierenden Stadtteil mit zwei Gymnasien und zwei Gesamtschulen. Drei Schulen liegen in unmittelbarer Nähe der Sekundarschule. Die Schule wurde 2015-2016 als inklusive Schule ohne äußere Differenzierung gegründet und ging aus einer Hauptschule und einer Realschule hervor. Geplant wurde die Schule für vier Züge – derzeit ist die Schule auf dem Papier sechs bis siebenzügig.

Aufgrund der Tatsache, dass wir kaum LehrerInnen finden, haben wir uns entschieden, die Klassen so aufzufüllen, dass wir an die Klassenstärken der Gesamtschulen heranreichen und die Zügigkeit verringern. Außerdem „üben“ wir schon einmal, weil wir die Umwandlung in eine Gesamtschule anstreben. Unsere Schülerpopulation (SuS) zeichnet sich durch große Begabung und Kreativität aus, aber:

  • 20 % der Kinder sind in der Erst- bzw. Anschlussförderung,
  • 63 % der SuS haben einen Migrationshintergrund (Durchschnitt Metropole Ruhr 2012 30 % - an den Hauptschulen 37%),
  • 42 % SuS sind arm – allein im Schuljahr 2017-2018 haben wir ca. 100 BUT-Anträge gestellt, eine Kollegin befasst sich nur mit diesem Thema.

Ab 1.02.2018 können wir diese Aufgabe nun ganz offiziell umsetzen, weil wir die Genehmigung erhalten haben, eine Sonderpädagogenstelle aus dem Projekt „Geld aus Stellen“ für drei Jahre zu finanzieren. Die Kollegin macht eine wunderbare Arbeit, denn über die Beantragung der BUT-Mittel ergeben sich Bildungs-und Erziehungspartnerschaften z.B. mit Sinti- und Roma Eltern. Wie wertvoll diese Arbeit ist, zeigt die Tatsache, dass uns in diesem Schuljahr alle diese Eltern ihre Kinder zu einer Klassenfahrt anvertrauten. 19 SuS lernen bei uns mit festgestelltem Sonderpädagogischem Förderbedarf und wir haben in diesem Zusammenhang nur eine sehr eingeschränkte Unterstützung durch Fachkräfte. Derzeit ist eine Sonderpädagogin mit 13 Stunden an die Schule abgeordnet, die zwei Kolleginnen in der VOBASOF-Ausbildung begleitet.

Die Personalsituation und die sächliche Ausstattung müssen als unzureichend bezeichnet werden. Derzeit arbeiten bei uns 2 KollegInnen, die Erfahrungen in integrierten Systemen vorweisen, ein Drittel der KollegInnen ist aus der Hauptschule zu uns versetzt worden, ein Drittel sind Berufsanfänger, ein weiteres Drittel wird derzeit in OBAS und PE als LehrerInnen an der Schule qualifiziert.

Der Kommune ist erst im Laufe des Prozesses klargeworden, dass eine Ganztagsschule, die in ein Gebäude einer Halbtagsschule hineinwächst, Investitionen z.B. mit Blick auf die Gestaltung der Schule als Lebensraum (Ganztagsbereich, Mensa z.B.) erfordert. Einen gestalteten Schulhof, eine Mensa, die den überaus wichtigen Bildungsbereich der Ernährung sinnvoll flankiert, haben wir nicht. Was wir haben sind Klassenräume, die allerdings nie so ausgestattet werden, wie wir es mit dem Schulträger vereinbarten, obwohl wir eigentlich kaum etwas fordern, denn wir kennen auch die strukturellen Verwerfungen z.B. bei Haushaltssicherung.

All das wussten wir, als die Sekundarschule Rheinhausen vor 2,5 Jahren in Betrieb ging. Unsere Bedingungen waren schlecht und trotzdem gab es von Beginn eine Idee dazu, wie wir diesen Prozess für alle Menschen an der Schule stolz und optimistisch gestalten wollten. Alle sollten Selbstwirksamkeit spüren, jeder sollte in seiner Individualität einen Platz finden, alle sollten mit allen zusammenarbeiten.

Unterrichtsentwicklung

Für den Unterricht, der sich auch an dieser Schule immer noch in Fächern flankiert mit Noten organisiert, stellten wir einen Schwerpunkt in den Mittelpunkt der Unterrichtsentwicklung: Das Kooperative Lernen. Alle KollegInnen werden in diesem Schwerpunkt ausgebildet. Acht ausgebildete oder sich in Ausbildung befindende ModeratorInnen für Kooperatives Lernen begleiten den Prozess in der Schule, in den alle Klassen und alle KollegInnen einbezogen sind. Drei weitere KollegInnen gehen demnächst in die Ausbildung. Die Schule kooperiert dazu mit 3 andern Gesamtschulen. Vierteljährlich treffen sich die Kollegien zu gemeinsamen Fortbildungen im Bereich des Kooperativen Lernens zu unterschiedlichen Fragestellungen. Die Moderation erfolgt durch die KollegInnen der einzelnen Schulen, die dadurch ihr Repertoire immer stärker erweitern.

Förderunterricht „Glück“

Außerdem haben wir Glück – und das im umfänglichen Sinn der Wortbedeutung, denn wir haben das „Unterrichtsfach Glück“ im Rahmen des Förderunterrichts implementiert. Dabei ist für uns spannend, unter welchen Umständen Kinder, die sich seit vielen Jahren in dauerhaften Krisen, verursacht z.B. durch Armut, befinden, Resilienz entwickeln, ohne dabei aus dem Auge zu verlieren, dass Glück auch bedeutet, sich solidarisch und konsequent in unser Gemeinwesen einzumischen.

Regelmäßiger Projekttag

Schnell war uns zudem deutlich, dass wir vor allem Zeit mit den Kindern brauchten, um mit ihnen bedeutsame Dinge und Themen zu bearbeiten. Nach einem Besuch der Max Brauer Schule in Hamburg entwickelten wir einen regelmäßigen Projekttag in der Woche. An diesem Tag sind die Fächer Deutsch, Kunst, Naturwissenschaften, Gesellschaftslehre und Praktische Philosophie aneinandergebunden und mit den curricular abgestimmten Kompetenzen ausgewiesen. Dieser Tag wird von allen genossen und es entstehen bedeutsame Projekte wie z.B. die Herstellung von Gebrauchsgegenständen wie Geldbörsen aus Tetrapack, die im Umfeld der Schule vertrieben werden. Die curriculare Anbindung an die Lehrpläne fällt in diesen Projekten nicht schwer und dem Problem der Benotung wird durch Verabredungen zwischen Projekt- und FachlehrerInnen zu bestimmten Unterrichtsinhalten, wie z.B. das Präsentieren Lernen, begegnet.

All diese beschriebenen Wege, die die Schule beschreitet, sind ziemlich kostenneutral. Wir schultern die Arbeit mit unseren wunderbaren, bunten Kindern mit einer großen Gelassenheit.

Der Wunsch nach mehr pädagogischer Freiheit

Als KollegInnen haben wir uns oft gefragt, was wir für unsere Arbeit benötigen. Wir würden uns über Geld, personelle Ressourcen, ein Schulhaus, das nicht baugleich wie ein Gefängnis oder eine psychiatrische Einrichtung ist – Flure und quadratische Zellen – freuen. Was wir aber eher benötigten, wäre das, was man gemeinhin unter pädagogischer Freiheit versteht: Zeit, die Dinge zu entwickeln, die das Lernen befeuern, weg von einem vorrangig auf Kognition ausgerichteten Unterricht, weg von dem Vergleichen und Messen von SchülerInnen, die wir nicht vergleichen wollen.

Wir würden uns gerne noch mehr auf eine Reise begeben und die Erfahrungen, die wir machen, geben uns Recht: „In der Tat solltest du mit der Kritik deines Lehrers konstruktiver umgehen.“ Diese Äußerung machte Laurentiu, gebürtig aus Rumänien, dessen Erstförderung im April 2018 endet, gegenüber einem Mitschüler. Sein Lehrer wusste zu berichten, dass Laurentiu an seinen Lippen hänge und alles aufschnappe, was ihm angeboten würde. Von diesen Erlebnissen, deren Aufzählung ich beliebig fortsetzen könnte, zehren wir.

Dass wir auf einem guten Weg sind, erfahren wir durch den Kontakt zu den SchülerInnen, den Eltern und über die Hospitationen, die an der Schule regelmäßig durch LehrerInnengruppen, Schulleitungen und Studierende durchgeführt werden.

Diese Rückmeldungen freuen uns sehr.

Wir machen also aus der Not eine Tugend - aber viel besser beschreibt diesen Prozess mein Lieblingszitat:

„Man ist nicht realistisch, indem man keine Idee hat!“ (Max Frisch, s.u.)

 Der Schulgründungsprozess der Sekundarschule Rheinhausen

Info

 Projekttag "EidA"

Max Frisch: Stiller, Frankfurt am Main 1996, s. 243f. Das ganze Zitat lautet:

„Was ist eure Idee hier?
Die Geschichte wird nicht stehenbleiben, auch wenn die Schweizer es noch so wünschen. Wie wollt ihr, ohne einen neuen Weg zu gehen, ihr selber bleiben? Die Zukunft ist unvermeidlich. Wie also wollt ihr sie gestalten? Man ist nicht realistisch, indem man keine Idee hat.“