Der 09.05.2010 war nicht nur Muttertag. An diesem Tag fand in NRW auch die Landtagswahl statt. Die nordrhein-westfälische CDU/FDP-Koalition erlitt eine heftige Wahlschlappe und der Landesvater Jürgen Rüttgers wurde abgewählt.
Für diese Niederlage gab es viele Gründe. Versäumnisse in der Schulpolitik des Landes trugen wesentlich zur Wahlniederlage der alten Landesregierung bei. In der öffentlichen Diskussion verstärkte sich zunehmend der Eindruck, dass die CDU/FDP Landesregierung im bildungspolitischen Bereich zu einem Bremsklotz geworden war. Auf drängende Fragen der Schulentwicklung (Abwahl der Hauptschule, Erhalt des Schulangebots angesichts der Demografie) wurden nicht einmal Antworten gesucht, geschweige denn Lösungen entwickelt. Schulpolitik war deshalb eines der zentralen Wahlkampfthemen. Das alternativlose Festhalten am dreigliedrigen Schulsystem, die teure aber erfolglose Unterstützung der Hauptschulen und das Errichten immer neuer Hürden, mit dem Ziel, Gesamtschulneugründungen trotz übergroßer Anmeldeüberhängen zu verhindern, hatte viel Unmut und Unverständnis in NRW ausgelöst. Auch dafür gab es am Muttertag die Quittung.
Jetzt gibt es in NRW eine rot-grüne Minderheitenregierung, die auf Kompromisse im Landtag angewiesen ist und von der niemand weiß, ob sie fünf Monate oder fünf Jahre hält. Dass die stellvertretende Ministerpräsidentin Sylvia Löhrmann (Bündnis 90/Die Grünen) gleichzeitig Schulministerin ist, zeigt die Bedeutung, welche die Koalition diesem Bereich gibt. Dahinter steht der erklärte Wille, die Bildungspolitik in NRW in Richtung von längerem gemeinsamem Lernen zu öffnen. Der Weg ist angesichts der tradierten Schulstrukturen in Deutschland sicher nicht einfach. Er erfordert ein klares Ziel, einen langen Atem und ein kluges Vorgehen, bei dem Erreichtes nicht ungewollt und leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden darf. Die GGG NRW hat sich schon im Wahlkampf dafür eingesetzt, dass die Gesamtschule weiter im Schulgesetz verankert bleibt und eben nicht in die Gemeinschaftsschule, die demnächst in das Schulgesetz aufgenommen wird, aufgeht. Erfahrungen aus Schleswig-Holstein haben die GGG NRW zusätzlich veranlasst, an der Schulform Gesamtschule festzuhalten und das bisher Erreichte zu sichern. Denn jede Reform ist reformierbar, jeder Fortschritt kann von einer Nachfolgeregierung wieder kassiert werden, wenn die Veränderungen nicht von vielen akzeptiert sindund getragen werden.
Im Koalitionsvertrag wird die Arbeit der Grundschulen und Gesamtschulen positiv hervorgehoben und die Gründung neuer Gesamtschulen unterstützt. Zusätzlich wird die gesetzliche Verankerung der Gemeinschaftsschule vereinbart:
„Die Grundschulen und die integrierten Gesamtschulen in NRW praktizieren seit Jahrzehnten erfolgreich gemeinsames Lernen. Wir werden die zahlreichen Initiativen zur Gründung von Gesamtschulen unterstützen und den in den letzten fünf Jahren neugegründeten Gesamtschulen den Ganztag und den Gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen schnellstmöglich genehmigen.
Längeres gemeinsames Lernen in Gemeinschaftsschulen wollen wir schulgesetzlich verankern. Eine Gemeinschaftsschule wird in der Regel dort gegründet, wo bestehende Schulen in ihr zusammengeführt werden. Alle Schulformen sind hierzu ausdrücklich eingeladen.
Die Gemeinschaftsschule ist eine Ganztagsschule, die gymnasiale Standards mit einschließt. In den Klassen 5 und 6 findet für alle Schülerinnen und Schüler gemeinsamer Unterricht statt. Schule, Schulträger und Eltern entscheiden darüber, wie es ab Klasse 7 oder später weitergeht: Entweder werden integrierte Lernkonzepte weitergeführt oder es wird nach Bildungsgängen differenziert. Am Ende der Klasse 10 können alle Schulabschlüsse der Sekundarstufe I erreicht werden. Jede Gemeinschaftsschule ist mit einer SEK II verbunden. Das kann eine gymnasiale Oberstufe am Standort sein, ein Oberstufenzentrum oder eine Kooperation mit Gesamtschule, Gymnasium oder Berufskolleg.
Wir werden die Gemeinschaftsschulen dabei unterstützen, dass das Zusammenwachsen der unterschiedlichen Schulen und das gemeinsame Lernen gelingt.“ (Koalitionsvertrag, Seite 9)
Die rot-grüne Koalition geht einen vorsichtigen Weg, sie will die Kommunen bei der schulpolitischen Neuorientierung mitnehmen. Die Erfahrung in NRW um die Einrichtung der Kooperativen Schule im Jahr 1978 und die Schlappe, die die SPD damals erlitt, ist noch in Erinnerung. Der Volksentscheid in Hamburg, die befürchtete (und inzwischen eingetretene) Abstimmungsniederlage des schwarz-grünen Senats, hatte ebenfalls Wirkung.
Die GGG NRW ist als kompetenter Ansprechpartner von Gesamtschulinitiativen landesweit bekannt. Gemeinsam mit den Eltern und örtlichen Ratsvertretern werden wir die Neugründung von Gesamtschulen weiterhin tatkräftig unterstützen. Dabei hilft, dass das Markenzeichen Gesamtschule in NRW eindeutig definiert ist: Es gibt nur integrierte Gesamtschulen in NRW, stets mit gymnasialer Oberstufe und im Ganztag geführt. Die alte CDU/FDP-Landesregierung ließ nur Neugründungen als Halbtagsschule zu, sehr zum Unverständnis der Öffentlichkeit. Die neue Koalition hat erklärt, dass sie diese Regelung aufheben will und den vier neugegründeten Halbtagsgesamtschulen den Ganztag ermöglichen will.
Die rot-grüne Koalition hat das Ziel, 30% der Schulen bis 2015 in Gemeinschaftsschulen zu überführen. Erste Anträge z. B. aus Ascheberg (CDU-Gemeinde) liegen bereits vor. Attraktiv ist dieser Weg für ländliche Gemeinden mit einer konservativ geprägten Bevölkerung und entsprechenden kommunalen Räten, die sich den größeren Schritt in Richtung zu einer Schule für Alle nicht zutrauen, die aber ihre Schule vor Ort für die Kinder vor Ort behalten wollen. Auch bei der Gründung von Gemeinschaftsschulen wird es wichtig sein, dass die Gymnasien in den Prozess einbezogen werden und die Gemeinschaftsschulen nicht der Ersatz der alten Verbundschule (Fusion von Haupt- und Realschule) oder sogar der Hauptschule werden.
Wenn die Koalition mit ihrer Politik das 30 %-Ziel erreicht und wenn es gelingt, den Anteil der Gesamtschulen von jetzt 17 % deutlich zu erhöhen, hätte NRW einen großen Schritt hin zu einem sozial gerechteren und leistungsfähigeren Schulsystem gemacht.
Die GGG NRW begrüßt, dass endlich ein neuer Wind in die schulpolitische Debatte kommt. Wir werden die Landesregierung auch daran messen, ob es gelingt, Maßnahmen umzusetzen, die eine andere Schulkultur auf dem Weg zur einen Schule für Alle fördert.
Abschulen verbieten
Der Koalitionsvertrag sagt dazu aus:
„Längeres gemeinsames Lernen macht unser Bildungssystem gerechter und leistungsstärker. Es ist ein Baustein auf dem Weg zu einem inklusiven Schulsystem. Die Aufgabe des gemeinsamen Lernens stellt sich allen Schulen. Jede Schule muss alle einmal aufgenommenen Schülerinnen und Schüler zu einem Abschluss führen. Ein Wechsel der Schulform ist nur noch auf Antrag der Eltern möglich.“ (Koalitionsvertrag, Seite 8/9)
Integrative und inklusive Pädagogik durch Personal stützen
Die Vereinbarungen des Koalitionsvertrags werden von der GGG NRW nachdrücklich unterstützt:
„UN-Konvention räumt Kindern mit Behinderungen das Recht auf inklusive Bildung ein. Diesem Recht wollen wir landesgesetzlich Rechnung tragen. In einem ersten Schritt wollen wir einen Inklusionsplan entwickeln, der den Eltern das Wahlrecht über den Förderort ihres Kindes ermöglicht und weitere Schritte und Maßnahmen beschreibt, die in den nächsten Jahren notwendig sind, um ein inklusives Bildungssystem zu schaffen.“ (Koalitionsvertrag, Seite 8)
Eine inklusive Pädagogik gibt es allerdings nicht zum Nulltarif. Sie braucht zusätzliche Stellen von Lehrer/innen und die Unterstützung durch nichtpädagogisches Personal. Die Landesregierung hat die Chance, eine pädagogische Kultur, die alle Kinder mitnimmt und fördert, gezielt zu stützen.
Schulen, die sich der Aufgabe stellen, jedes Kind und jeden Jugendlichen zu fördern und zum bestmöglichen Abschluss zu führen, bedürfen der Unterstützung. Eine Stellenzuweisung, die Schulen durch einen Sozialindex unterstützt, die Förderbedarfe anerkennt, ist erforderlich.
Verantwortung der Schulen stärken
Die Schulen sind verantwortlich für das erfolgreiche Lernen von Kindern und Jugendlichen. Dazu benötigen sie Gestaltungsfreiraum. Im Koalitionsvertrag wird festgestellt:
„Schulen sollen selbst und verantwortlich über ihre Arbeit entscheiden können. Deshalb halten wir an der selbstständigen Schule fest, die in ein System von Beratung und Service eingebettet wird. Das Land bleibt verantwortlich dafür, Bildungsstandards vorzugeben und zu überprüfen “ (Koalitionsvertrag, Seite 9)
Das Lockern der Regelungen zur Fachleistungsdifferenzierung an Gesamtschulen wäre eine erste Möglichkeit, diesen Teil der Vereinbarung zu konkretisieren. Die GGG NRW fordert seit langem, den Schulen zu ermöglichen, sich von den starren Regelungen zu lösen, und Schulen die Chance zu geben, Konzepte im Umgang mit Heterogenität zu entwickeln.
Insgesamt wäre eine Ermöglichungsstrategie sehr hilfreich,
- die den Schulen Gestaltungsfreiraum zugesteht und die in die Professionalität der Lehrerschaft vertraut,
- die Schritte in Richtung des gemeinsamen längeren Lernens unterstützt und
- die den Schulen die Zeit lässt, neue Wege zu beschreiten.
Werner Kerski