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Schulentwicklung des Landes NRW - Wie aus dem Würfelbecher

Aachen: Jeder Vierte wechselt auf die Gesamtschule (AZ), Gymnasien stehen weiterhin hoch im Kurs (AN); Krefeld: Die Gymnasien sind die Verlierer (WZ); Coesfeld: Realschulen im Aufwind, Bestätigung für drei-gliedriges System (AllgZ); Detmold: Detmolder Gymnasien verlieren Schüler - Realschulen legen zu (LZ); Essen: Das Gymnasium bleibt die beliebteste Schulform in unserer Stadt (radio essen), Stadt Essen plant: Viktoria-Gymnasium soll Gesamtschule werden (WAZ); Euskirchen: Ohne Hauptschule hat die Stadt Euskirchen ein Problem (KR); Hamm: Sekundarschulen bei Eltern in Hamm immer beliebter (WA); Neuss: Gesamtschulen weisen 148 Kinder ab (NGZ), Sekundarschule fällt bei Eltern durch (NGZ); Oberhausen: Eltern in Oberhausen wählen vermehrt Gymnasien (WAZ), Sekundarschule hat in Oberhausen keine Chance (WAZ); Warburg: Anmeldezahlen: Gymnasien verlieren weiter Schüler, Sekundarschule hält das hohe Anmeldeniveau (NW); Velbert: Gymnasien sind in Velbert stark gefragt (WAZ), Zweite Gesamtschule weiter nötig - 92 abgelehnte Schüler sind zu viel (lokalkompass).

Diese Auswahl von Schlagzeilen der Lokalpresse in NRW während der Anmeldephase für das Schuljahr 2016/17 verdeutlicht die unterschiedlichen Bewegungen in der Schulentwicklung des Landes NRW:

Die Ergebnisse des Anmeldeverfahrens und damit auch der landesweiten Schulentwicklung sehen aus wie Ergebnisse aus dem Würfelbecher. 1

Verkürzter Blick

Die Artikel hinter den Schlagzeilen beschäftigen sich kaum mit der landesweiten Entwicklung des nordrhein-westfälischen Schulsystems, das inzwischen aus fünf allgemeinbildenden weiterführenden Schulen besteht, die Primus-Schule als Schulversuch nicht mitgezählt und die Gemeinschaftsschule entweder bei der Gesamtschule oder bei der Sekundarschule subsumiert.

Der Blick der Lokalpresse gilt nahezu ausschließlich dem örtlichen Schulsystem, das sich mittlerweile in zahlreichen verschiedenen Varianten der Zusammensetzung, in unterschiedlichen Subsystemen, darstellt. Dabei fällt die Unterscheidung des Schulkonsenses und der NRW-Landesverfassung in ein gegliedertes System einerseits und integrierte Schulformen andererseits faktisch unter den Tisch.

Die Tatsache, dass das herkömmliche gegliederte Schulsystem in NRW mit dem zunehmenden Wegfall der Hauptschule faktisch gescheitert ist, wird ebenfalls nicht wahrgenommen.

Das jeweils vor Ort befindliche Angebot an Schulen und Schulformen wird als ein System angesehen mit dem Gymnasium als „höchster“ Schulform an der Spitze – so die Lippische Zeitung.

Kein Problembewusstsein

Folgerichtig besteht bezüglich der Abschulungsproblematik überhaupt kein Problembewusstsein. Dort, wo das gegliederte System nicht mehr vollständig ist, wird zwar konstatiert, dass die Kommune ein Problem hat, Lösungen sich aber über die integrierten Schulformen, vor allem die Sekundarschulen, finden lassen.

Diese bieten z.T. aus blanker Not von sich aus ihre Dienste an, z.T. werden grundständig gut laufende Sekundarschulen durch die Schulträger in Jahrgang 7 eben um einen Zuge erweitert, teilweise mit ausdrücklicher Billigung der Schulaufsicht. All das kommt einem bekannt vor aus der Entwicklungsgeschichte der Hauptschule.

Versäumnisse der Landespolitik

Das Zögern der Politik und des Schul-Ministeriums in der Abschulungsfrage hat dazu geführt, dass an zahlreichen Orten aufgrund der Unvollständigkeit des gegliederten Systems, Schulen des gemeinsamen Lernens die entstandenen Lücken nolens volens füllen. Damit wird ein für das gegliederte Schulsystem konstitutiver Selektionsmechanismus den integrierten Schulformen aufgezwungen.

Aus dem Blickwinkel der Inklusion betrachtet und noch zugespitzter formuliert:

Inklusion gibt es in NRW nur inklusive Abschulung.

Der zur Sicherung von Schullaufbahnen durch das 12. SchRÄG neu aufgenommene § 132c, der an Realschulen einen Bildungsgang ermöglicht, der zu den Abschlüssen der Hauptschule führt, ist jedenfalls keine Lösung des sich flächendeckend ausbreitenden Problems, zumal sie vonseiten der Schullaufsicht nicht offensiv vertreten wird.

Fazit:

Es findet keine flächendeckende Transformation des Schulsystem statt, allenfalls eine punktuelle, die aber ohne klares und landesweit gültiges Ziel. Erschreckend ist mancherorts die kurze Halbwertzeit der beschlossenen Veränderungen und Schulneugründungen.

Klar festzustellen ist die Tendenz zur Bewahrung, beziehungsweise Wiederherstellung eines hierarchisch gegliederten und selektierenden Schulsystems mit „höheren“ und „niedrigeren Schulformen“, wie es eine Bezirksregierung laut Presse formuliert, allerdings jetzt unter Einbeziehung der integrierten Schulformen. Dies widerspricht dem Geist des Schulkonsenses von 2011 (Kultur des Behaltens) und dem Inhalt der geänderten Landesverfassung (s.o.).

Diese Tendenz wird nicht unwesentlich gefördert durch die hohe Anzahl verschiedener Schulformen im Bereich der Sekundarstufe I in NRW, die höchste Anzahl im Bundesvergleich.2

Hierzu hat Joachim Lohmann die segregierenden Wirkungen eines zersplitterten Schulsystems analysiert und dargelegt.3 Diese Wirkungen werden in NRW durch die ungleiche Verteilung der Schülerschaft auf die verschiedenen Schulformen verschärft: Auf der einen Seite steht eine Schulform, das Gymnasium, das eine Übergangsquote von der Grundschule hat, die im Landesdurchschnitt inzwischen über 40% liegt, nahezu nirgends mehr unter 30%, vielfach über 60%. Gleichzeitig kann diese Schulform Schülerinnen und Schüler auf dem Weg der Abschulung wieder abgeben.

Auf der anderen Seite stehen bis zu vier weitere Schulformen, die sich die jeweils verbleibende Schülerquote teilen.

All dies ist Folge einer zunehmend marktorientierten, neoliberalen Bildungspolitik, in der das Land seine Gestaltungsverantwortung durch die propagierte Ermöglichungspolitik weitgehend abgegeben hat, in der Bildung letztlich eher als Ware gehandelt und weniger als Grundrecht behandelt wird.

Dietrich Scholle

1 Siehe hierzu auch den von Jürgen Theis gepflegten Pressespiegel zur Schulentwicklung und Bildungspolitik auf der Homepage der GGG-NRW und meinen Artikel „Wer und wohin steuert die Schulentwicklung in NRW?“ in der ISA IV/2015: http://ggg-nrw.de/webpage/ 2 Siehe hierzu aktuell die Studie von Klaus-Jürgen Tillmann für die Bundeszentrale für politische Bildung: Das Sekundarschulsystem auf dem Weg in die Zweigliedrigkeit. Historische Linien und aktuelle Verwirrungen. 16.11.2015. 3 Joachim Lohmann: Unterprivilegierte Schulen sind aus sozialen wie aus Leistungsgründen aufzuheben. 2015.

Die Beiträge von Tillmann und Lohmann befinden sich auf der Homepage der GGG-NRW:

Homepage der GGG-NRW