Ein Nachruf von Hartmut Holzapfel
Die Aufgabe, die Ludwig von Friedeburg als die zentrale Aufgabe einer demokratischen Bildungspolitik verstand, ist immer noch eine Aufgabe für die Zukunft.
Der Ausgang des Volksentscheids in Hamburg hätte Ludwig von Friedeburg nicht überrascht. Das war seine eigene Erfahrung: dass das deutsche Bürgertum nichts so sehr fürchtet wie die Einlösung der Versprechung der bürgerlichen Revolution, dass nicht mehr der Stand, sondern nur noch die Leistung über den Lebensweg entscheiden solle.
In Deutschland ist der Dreiklang von égalité, fraternité, liberté nicht zu Hause, ist Brüderlichkeit (oder Schwesterlichkeit) nicht das Bindeglied zwischen Gleichheit und Freiheit, sondern sind Freiheit und Gleichheit Gegensatzpaare, die nichts verbindet und zusammen hält. In Deutschland ist auch die Emphase nicht zu Hause, die in Amerika die gemeinsame Schule zum Schmelztiegel einer multikulturellen Nation machen will.
In Deutschland wollte das Bürgertum die Herrschaft der feudalen Kaste nur beerben. In seinem großen Band über "Bildungsreform in Deutschland" hat Ludwig von Friedeburg diese besondere und immer noch nicht beendete deutsche Geschichte beschrieben. Die Abhängigkeit der Bildung von der Herkunft der Eltern wenn nicht aufzuheben, so doch zumindest bedeutsam zu mildern, verstand er als die Aufgabe, die in Deutschland immer noch auf ihre Lösung wartet. Dass frühe Selektion die bevorzugt, die bildungsnahe Elternhäuser haben (wie der etwas euphemistische Ausdruck dafür lautet), war damals schon vielfach durch Forschungsergebnisse belegt: es gilt für deutschsprachige Kinder ebenso wie für Kinder mit Migrationshintergrund.
Dass dem so sei, wurde in den siebziger Jahren dennoch sogar noch bestritten. Das zumindest ist heute nicht mehr möglich. Geblieben aber ist das Tabu: alles darf geändert werden, nur nicht der Zugang zum Gymnasium schon ab der Klasse fünf. Nur darum ging es auch wieder in Hamburg, nicht um die Stadtteilschule, oder wie immer die Schule heißt, auf die "die Anderen" gehen. Die Aufgabe, die Ludwig von Friedeburg als die zentrale Aufgabe einer demokratischen Bildungspolitik verstand, ist immer noch eine Aufgabe für die Zukunft. Dass seit seiner Regierungszeit inzwischen dreißig Jahre vergangen sind (eine Generation), zeigt nur, wie sehr er seiner Zeit voraus war.
Zu leicht durchschaubar ist es, wenn strukturelle und inhaltliche Reform immer noch gegeneinander ausgespielt werden. Auch Friedeburg hat gewusst, dass die Strukturreform keine hinreichende (aber doch eine notwendige) Voraussetzung für eine Schule ist, die die Versprechungen der bürgerlichen Revolution ernst nimmt. Was heute als Kompetenzen daherkommt, hat er in der Lernzieldiskussion vorweggenommen: freilich mit dem entscheidenden Unterschied, dass es ihm nicht nur um formale, sondern vor allem auch um inhaltlich bestimmte Qualifikationen ging, die nicht getrennt werden können von dem, was und wie man in der Schule lernt. Dass davon dereinst nur ein inhaltsleeres Substrat übrig bliebe, hat er sich wohl nicht vorstellen können oder mögen … und noch weniger, dass auf diesem Wege Lernwege eingeengt und nicht geöffnet würden.
Was ihn auszeichnete, war sein unerschütterlicher Optimismus, trotz aller gegenläufigen Erfahrung. Nicht nur das werden wir vermissen.