Jubiläen werfen ihre Schatten voraus!
1919 - 1969 - 2009 - 2019
Gerd-Ulrich Franz
1964 konstatierte die KMK bei der 100. Sitzung: „Die europäische Schulentwicklung ist gekennzeichnet durch Verstärkung der Durchlässigkeit zwischen allen Schulformen (z.B. horizontal, nicht vertikal gegliederte Schulorganisation)“.
Ein daran anknüpfendes Umsetzungsprogramm des Berliner Schulsenators (des späteren Vorsitzenden der GGG, Carl-Heinz Evers) wird ‚abgewendet‘ durch die Einrichtung eines Bildungsrates mit Regierungs- und Bildungskommission(1). Erst mit der ‚Empfehlung der Bildungskommission des Bildungsrates‘ vom 30.1.1969, Gesamtschulversuche einzurichten, nahm die Entwicklung Fahrt auf – zum Schuljahresbeginn 69/70 wurden bundesweit 16 Gesamtschulen neu eingerichtet, obwohl die KMK erst im November den entsprechenden Beschluss fasste(2) .
Berichte zu den ersten Schulen dieser Zeit zeigen, wie Lernen in der gemeinsamen Schule vor allem organisatorisch über verschiedene Formen der äußeren Fachleistungsdifferenzierung (z.B. „A/B/C“- oder „FEGA“-Kurse neben einigen „Kernfächern“) bewältigt werden sollte - auch wenn die „volle Integration“(3) von Anfang an als Ziel benannt wurde. Die GGG fordert in ihrem „Leverkusener Beschluss“(1975) u.a. als äußeren Rahmen und Entwicklungsaufgabe:
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ein einheitlicher, nach Profilen differenzierter, gleiche Berechtigungen vermittelnder Abschluss am Ende der 10. Jahrgangsstufe für alle (Abitur I);
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konsequente Fortentwicklung des Unterrichts zur Überwindung einer durchgängigen, fachspezifischen äußeren Fachleistungsdifferenzierung;
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eine Förderung von Schülern mit partiellen Leistungsschwächen innerhalb des Unterrichts oder durch besondere Betreuung in kleinen Gruppen (nach Schwed. Beispiel);
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zensurlose, differenzierte Qualifikationsbeschreibung;
Bis heute sind diese formalen Bedingungen nicht realisiert. Stattdessen verfestigten Vorgaben zu Fächern und Zeitpunkten der äußeren Differenzierung, aber auch Noten- und Kursbedingungen für die fortbestehenden 3 Abschlüsse, ein ‚Schulformskelett‘ auch in der IGS. Mit der KMK-Vereinbarung von 1982 wurde diese hessische Praxis leider bundesweit als Voraussetzung für die wechselseitige Anerkennung der Abschlüsse fixiert und brachte für viele Gesamtschulen (z.B. in NRW) deutliche Rückschritte. Nur die auf einer Sonderliste benannten Schulen konnten weiterhin mit abweichenden Strukturen (z.B. „Team-Kleingruppen-Modell“) arbeiten.
Die „II. Generation“ und Gemeinschaftsschulen
Nun kamen förderliche Lernsituationen für das gemeinsame Lernen aller Kinder stärker in den Blick, wie dies bereits die TKM-Schulen vorgelebt hatten. Die Frage lautete nun „wie leistet ein Fach seinen Beitrag zum erfolgreichen Lernen aller Kinder?“ Die „G/E“- Differenzierung, Lehrerteams und Jahrgangsbereichen waren Standard der neuen Schulen. Mit der „klasseninternen Differenzierung“ (ohne Trennen in Kurse bei verschiedenen Lehrkräften) wurde die vorgegebene Niveau-Einstufung in der Klasse
umgesetzt. Begünstigt wurde dieser innere Entwicklungsschub durch reduzierte Vorgaben der KMK, die 1993 den kleineren Organisationsgrößen in den neuen Bundesländern Rechnung tragen musste. Die Gemeinschaftsschulen als „neue“(Schul- )Form gemeinsamen Lernens verzichteten weitgehend auf jegliche äußere FLD, um die Vielfalt der Schüler*innen auch im fachlichen Lernen förderlich zu nutzen.
Wo stehen wir – wo wollen wir hin?
Trotz der erfolgreichen Arbeit der Integrierten Sekundar- und Gemeinschaftsschulen in Berlin, der Oberschulen in Bremen, der Stadtteilschulen in Hamburg und derGerd-Ulrich Franz Gemeinschaftsschulen in Schleswig-Holstein und im Saarland bleiben sie in der Rolle als Schulform ‚neben dem Gymnasium‘ gefangen. Die Bevorzugung des Gymnasium als individuelle Vorteile verschaffender Bildungsweg erschwert die Arbeit ‚unserer‘ Schulen massiv. Der Konkurrenzdruck vor Ort, das Buhlen um die ansehensträchtige gymnasiale Oberstufe, um ‚gymnasiale‘ Schüler*innen, korrumpiert unser Denken, beeinträchtigt im Bemühen um ein erfolgreiches gemeinsames Lernen aller Kinder. Die schulförmig wertenden 3 Abschlüsse wirken in den Köpfen der Eltern, Schüler*innen und Lehrkräfte, prägen Erwartungen, gefährden inklusives Arbeiten und begünstigen ausgrenzende Strukturen.
Einmal mehr müssen wir uns und der gesellschaftlichen Öffentlichkeit bewusst machen, dass gemeinsames Lernen aller Kinder in einer Schule die verfassungsgemäße – weil Benachteiligungen vermeidende- Form ist. Wenn ‚unseren‘ Schulen die Bewältigung von Migration und Inklusion zugemutet wird, bestätigt das diese Qualität, gefährdet sie aber zugleich aufgrund fehlender Unterstützung – materieller wie öffentlicher. Das Gymnasium bleibt in der Regel ‚außen vor‘ - es diskreditiert sich so als einer demokratischen Gesellschaft nicht förderliche Schulform.
Dies müssen wir selbstbewusst betonen und das Ende des Gymnasiums fordern – statt seine Beteiligung an der Bewältigung der Aufgaben einzuklagen. Nur so halten wir der Gesellschaft den Spiegel vor und entlarven eine Haltung, die den Erhalt individueller Privilegien auf Kosten der Benachteiligung anderer vorzieht und den Zusammenhalt der Gesellschaft beschädigt.
Der Diskurs muss Fragen zu den Aufgaben der öffentlichen Schule aufwerfen: Welche Funktionen hat das Schulwesen für eine inklusive, demokratische Gesellschaft? Wie muss es strukturiert und ausgestattet werden, um die bestmögliche Potenzialentfaltung für alle Kinder sicherzustellen? Wie muss z.B. eine Lehrkräftebildung aussehen, die Anerkennung der Unterschiedlichkeit, Förderung und Nutzen der Vielfalt für erfolgreiches Lernen ins Zentrum rückt – statt immer weiter „für Fächer und Schulformen“ auszubilden?
Für die Arbeit in den Schulen folgt daraus, dass wir die tägliche Praxis, die Abläufe und Strukturen daraufhin überprüfen, wo wir selbst ‚klassische‘ Schulformelemente wie vergleichende Bewertung durch Noten, wertende Einstufungen und Zuordnungen praktizieren, statt lernförderliche Arbeitsformen und Rückmeldungen einzusetzen. Ganz persönlich lautet die Frage: Wann bestehen wir als Lehrkräfte endlich darauf, Kinder bei ihrem Lernprozess anhand gestufter Anforderungen zu begleiten und zu unterstützen, statt mit Noten formal erreichte Stände zu testieren und damit die eigene inhaltliche Arbeit abzuwerten?
Für die GGG gilt es für die Aufhebung widriger und kontraproduktiver Regularien (z.B. gängelnder Vorgaben für die äußere Fachleistungsdifferenzierung) einzutreten, damit die Schulen die Verantwortung für deren Ausgestaltung selbst übernehmen können.
Der folgerichtig nächste Schritt wäre – ebenfalls schon 1975 gefordert:
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ein einheitlicher, nach Profilen differenzierter, gleiche Berechtigungen vermittelnder Abschluss am Ende der 10. Jahrgangsstufe für alle (Abitur I); (s.o. 1975)
Eine annähernd inklusive Beschulung erfordert, dass am Ende eines erfolgreichen inklusiven Lernweges für alle Kinder ein den individuellen Lernerfolg beschreibender Abschluss möglich sein muss.
‚Dieser Weg wird kein leichter sein‘, aber es ist an der Zeit, in einer gemeinsamen Anstrengung die Schule radikal in Frage zu stellen und darauf zu dringen , dass 100 Jahre nach den ersten Anfängen in Deutschland endlich eine verfassungsgemäße gemeinsame Schule bis zum Ende der Schulpflicht eingerichtet wird. Das erreichen wir nur mit der Unterstützung von Bündnispartnern, Verbänden und Initiativen mit je eigenen Zugängen und Schwerpunkten – und mit selbstbewussten Schulen des gemeinsamen Lernens.
(1) Herrlitz/Weiland/Winkel(Hrsg.)“Die Gesamtschule“, Weinheim 2003, S.283
(2) U.Dörger,“Projekt Lehrerkooperation“, Weinheim 1992, S.24 und S.30
(3) Frommberger/Rolff, „Planspiel Gesamtschule“, Braunschweig 1968, S.62