In Heft 2023/4 unserer Zeitschrift Die Schule für alle hatte sich Dieter Zielinski mit dem Buch "Die gelähmte Bildungsrepublik – Plädoyer für eine veränderte Reformpolitik" von Heinz Klippert beschäftigt. Heinz Klippert hat nun darauf geantwortet und erläutert ausführlich seine Position zum gemeinsamen Lernen aller Kinder: Es ist für ihn Bedingung für ein erfolgreiches Schulsystem. Lesen sie selbst, was er unter dem "Scheitern des Gesamtschule-Projektes" versteht: Es ist für ihn ein Versagen der Schulpolitik, nicht der sich als "Schule für alle" verstehenden real existierenden Schulen.

DOWNLOAD  Der Beitrag erscheint in der Druckversion von Die Schule für alle Heft 2024/2.


Anmerkungen zu Dieter Zielinskis Rezension meines Buches „Die gelähmte Bildungsrepublik“ in Heft 4/2023

Lieber Dieter Zielinski,
zunächst einmal herzlichen Dank für die ausführliche Würdigung und Kommentierung meines Buches „Die gelähmte Bildungsrepublik – Plädoyer für eine veränderte Reformpolitik“. Leicht irritiert hat mich allerdings Ihre Kritik, dass für mich die Gesamtschule ein „tendenziell gescheitertes Projekt“ sei, obwohl sie nach Ihrer Ansicht viele Verdienste in punkto Bildungsaufstieg und Chancenerweiterung habe und deshalb aus der deutschen Schullandschaft nicht mehr wegzudenken sei. Habe ich wirklich etwas anderes geschrieben? Ich denke, hier werden zwei Ebenen vermischt, die dringend getrennt werden müssen: Nämlich einerseits die Ebene der Schulpolitik und andererseits die praktische Arbeit in den Gesamtschulen selbst. In vielen Gesamtschulen wird in der Tat mit hohem Engagement gefördert und gefordert und so manche/r Schüler/in zu deutlich besseren Bildungsabschlüssen als im selektiven dreigliedrigen Schulsystem geführt. Da kann ich Ihnen nur zustimmen.

Die Frage ist jedoch, ob diese kompensatorische Arbeit tatsächlich so tröstlich ist oder ob die Förder- und Integrationspotenziale der Gesamtschulen nicht sehr viel wirksamer zur Geltung kommen könnten, wenn das intendierte „gemeinsame Lernen“ nur politisch ernsthaft gewollt wäre. Diese Ebene der Schulpolitik habe ich gemeint, als ich vom tendenziellen Scheitern des Gesamtschulprojekts sprach. Blickt man nämlich auf die letzten fünf Jahrzehnte zurück, so stellt man fest, dass weder die flächendeckende Etablierung der Gesamtschulen noch die konsequente Kultivierung des gemeinsamen Lernens der Kinder ernsthaft im Fokus der Bildungspolitiker/innen stand. Im Gegenteil. Sieht man einmal von den anfänglichen Gesamtschulpräferenzen in SPD-regierten Ländern wie Nordrhein-Westfalen und Hessen ab, so gab es nie den ernsthaften Willen, die Gesamtschule als „Schule für alle“ zu profilieren.

Insofern gebe ich Ihnen Recht, dass es von Beginn an einflussreiche politische Kräfte gab, „die dafür gesorgt haben, dass sich Gesamtschulen nicht als pädagogische Alternative entwickeln konnten“. Genau das aber ist meine Kritik an der zurückliegenden Reformpolitik. Wurden doch die errichteten Gesamtschulen seit Mitte der 1980er-Jahre zunehmend in ein Korsett gezwängt, das sie zu immer größeren Zugeständnissen und Abweichungen von der Idee des „gemeinsamen Lernens aller Kinder“ zwang. Dadurch nämlich, dass die Gymnasien und Realschulen parallel ausgebaut und die Leistungen der Gesamtschulen bei den gelegentlichen Vergleichstests an gymnasialen Standards gemessen wurden, entstanden gleich vier Dilemmata: Zum ersten fielen die Testergebnisse relativ schlecht aus. Zweitens fehlten in den Gesamtschulklassen die von den Gymnasien und Realschulen absorbierten Leistungsträger und Verhaltensstabilisatoren, wodurch das gemeinsame Lernen zwangsläufig erschwert wurde. Drittens brachte es die „ausgedünnte Schülerschaft“ mit sich, dass viele Eltern die Gesamtschule mieden. Und viertens schließlich führten die gymnasial gepolten Stoffpläne dazu, dass die zeitlichen Spielräume für konsequentes soziales, kommunikatives, emotionales und methodisch-strategisches Lernen rapide schrumpften.

Stattdessen erhielten die Gesamtschulen die Auflage, zwecks Steigerung der kognitiven Leistungen ihrer (ausgedünnten) Schülerschaft massiv zu differenzieren und sowohl jahrgangsbezogene Niveaugruppen zu bilden (A-, B-, C-Kurse) als auch klassenintern Binnendifferenzierung mittels unterschiedlichster Materialien, Aufgaben etc. zu betreiben. Das gemeinsame Lernen aller Schüler/innen geriet dadurch zusätzlich in den Hintergrund. Da die neuen Medien (Laptops, Software, Arbeitsblätter etc.) diesen Individualisierungs-Trend noch weiter verstärken, stehen dem „Gesamtunterricht“ immer höhere Hürden entgegen. Besonders deutlich zeigt sich das in vielen „Gemeinschaftsschulen“, in denen die Gemeinschaftsidee inzwischen exzessiven Individualisierungsmaßnahmen Platz gemacht hat.
Wenn ich also davon spreche, dass das Gesamtschul-Projekt tendenziell gescheitert sei, dann richtet sich diese Kritik genau gegen dieses halbherzige Lavieren der Bildungspolitik und nicht gegen die praktische Arbeit in den bestehenden Gesamtschulen, in denen zahlreiche Lehrkräfte trotz mangelhafter Rahmenbedingungen und politisch gewollter „ausgedünnter Schülerschaft“ bewundernswerte Integrations- und Fördererfolge erzielen. Das beeindruckende Abschneiden einiger Gesamtschulen beim Deutschen Schulpreis belegt das. Trotzdem wäre es falsch, die Augen davor zu verschließen, dass diese „Leuchtturmschulen“ im Regelfall nur deshalb so erfolgreich sind, weil sich dort eine besonders engagierte, mutige, belastbare, ideenreiche, kooperationswillige und für Chancengerechtigkeit brennende Lehrerschaft ballt. Das aber kann und sollte man nicht voreilig verallgemeinern.

Meine Kritik entzündet sich also an dem Umstand, dass die hiesige Schulpolitik seit den 1960er-Jahren nie ernsthaft versucht hat, den Primat des „gemeinsamen Lernens aller Kinder“ nach finnischem, kanadischem, japanischem oder australischem Vorbild umzusetzen und das dreigliedrige Schulwesen zugunsten der integrierten Gesamtschulen aufzugeben bzw. auslaufen zu lassen. Finnland z.B. hat das Anfang der 1960er-Jahre aufgrund der demografischen Entwicklung in den ländlichen Regionen ganz bewusst getan und eine Art „Einheitsschule“ eingeführt und dann auch gleich die Lehrerbildung, Lehrerbesoldung, Stundentafeln, Curricula, Schulautonomie, Schulbaukonzepte, Halbtagsstruktur und vieles andere mehr verändert. Finnlands Erfolge bei PISA und anderen Schulbegutachtungen zeigen, dass sich diese Priorisierung der Integrierten Gesamtschule für alle gelohnt hat: für die Schüler/innen und Lehrkräfte; aber auch für die um Reputation bemühte Bildungspolitik.

So gesehen richtet sich meine Kritik gegen die föderale Kurzsichtigkeit hierzulande, die der Gesamtschulentwicklung von Anfang an einschneidende Fesseln angelegt und Bedingungen oktroyiert hat, die es bis heute schwer machen, die Potenziale der Integrierten Gesamtschulen überzeugend auszuschöpfen. Daran ändern auch die zum Teil sehr respektablen Fördererfolge in bestehenden Gesamtschulen nur wenig. Die Initiative „Schule für alle“ hat völlig Recht, wenn sie anmahnt, dass das gemeinsame Lernen viel radikaler gedacht und implementiert werden muss, als das bei uns der Fall ist. Wir brauchen unbedingt ein Mehr an „produktive Heterogenität“, damit das selbstregulierte Lernen in heterogenen Gruppen effektiver und chancenerweiternd werden kann. Wo aber bleibt dieser entschiedene Kampf gegen Bildungsungerechtigkeit, soziale Auslese und fortdauernde Diskriminierung im gegliederten Schulwesen? Warum wird nach wie vor so exzessiv äußere und innere Differenzierung betrieben und unter dem fragwürdigen Deckmantel des „individualisierten Lernens“ ausgeprägte Des-Integration betrieben – auch in Gesamtschulen?

Ich würde mich freuen, wenn die GGG diese bildungspolitische Debatte neu anstoßen und beleben würde. Die erwähnten PISA-Erfolge der mit „Einheitsschulen“ aufwartenden Länder Finnland, Kanada, Japan etc. könnten ein Anstoß dazu sein.

Mit kollegialem Gruß
Dr. Heinz Klippert

(Heinz Klippert ist ehemaliger Gesamtschullehrer, Lehrerfortbildner, Lernforscher, Unterrichtsreformer und Schulentwickler).