Ein Kommentar zum Spiegel-Interview (Der Spiegel 2025/1)

Lothar Sack

John Hattie – wer als bildungsaffiner Mensch kennt ihn und seine Forschungsergebnisse nicht? – hat sich (wieder einmal) kritisch zur Schule in Deutschland geäußert; diesmal in einem Spiegel-Interview und noch nie so deutlich, noch nie so drastisch.

Warum ist das eine Nachricht? Seine früheren Veröffentlichungen haben konservative Bildungs-Politiker genüsslich so interpretiert: Der Lehrer ist der wesentlichste Faktor für den Lernerfolg, strukturelle Merkmale könnten dagegen vernachlässigt werden. Also sei jede Diskussion um die Schulstruktur überflüssig, es käme vielmehr ausschließlich darauf an, gute Lehrer zu haben. Hattie wurde geradezu hochstilisiert zum Kronzeugen für die Rechtfertigung des gegliederten Deutschen Schulsystems. Nach diesem Interview lässt sich Hattie dafür nicht mehr missbrauchen. Hattie geht mit Deutschen Schulgewohnheiten hart ins Gericht.

Da ist zunächst der frühe Zeitpunkt der Aufteilung auf unterschiedlich wertige Schulen: „Ich staune, dass man in Deutschland meint, schon bei etwa neun bis zehn Jahre alten Kindern einschätzen zu können, was sie später leisten können.“ Die frühe Trennung „… nimmt ihnen die Chance, sich im Laufe ihrer Schulzeit zu entwickeln und zu verbessern. Ich kann nicht verstehen, wie man so viel Talent vergeuden kann.“ Und weiter gibt er zu erkennen, dass wir keine „Lehrerschule“, sondern eine „Schülerschule“ brauchen: Viele Lehrkräfte „… erklären mir immer wieder, es sei viel einfacher, homogene Klassen zu unterrichten. Aber diese frühzeitige Trennung ist nicht im Interesse der Schülerinnen und Schüler. Einige benötigen eine zweite, dritte oder vierte Chance, um Dinge besser zu verstehen, und zwar über die Grundschulzeit hinaus.“ Mit seinem Schulsystem steht Deutschland „… weltweit ziemlich allein da. Es ist das ungerechteste Schulsystem, das ich kenne. Es ist das ungerechteste Schulsystem, das ich kenne. Entscheidend ist, dass Schüler und Eltern es so wahrnehmen, dass es in diesem Schulsystem eine Hierarchie der Schulformen gibt, mit dem Gymnasium an der Spitze. Das ist traurig. Ich möchte doch, dass mein Handwerker eine ebenso exzellente Schulbildung genossen hat wie mein Arzt.“

Und deutlich spricht er sich für die eine gemeinsame Schule für alle Kinder und Jugendlichen aus: „Die einzig bestimmende Schulform sollte dem Konzept der Grundschule folgen: Kinder sollten sehr viel länger als bisher gemeinsam lernen – so, wie es in fast allen anderen Ländern der Welt längst Praxis ist.“ Das erinnert stark an die mittlerweile über 100 Jahre alten Forderungen der „Entschiedenen Schulreformer“ auf der Reichsschulkonferenz 1920. Und zur dann naheliegenden Abschaffung des Gymnasiums sagt er: „Viele Eltern wollen das nicht, aber die Schule ist nicht für die Eltern da, sondern für die Kinder.“ Also auch keine „Elternschule“! Eine Änderung des deutschen Schulsystems erfordert sicher Mut. „Es muss allen Schülerinnen und Schülern die Chance geben, ihre Leistungen zu verbessern, nicht nur einem Bruchteil. Ich schaue von außen drauf und sage: Deutschland wird es sonst niemals an die Spitze der Pisa-Charts schaffen“.

Die frühzeitige Trennung ist für Hattie auch ein Hinderungsgrund für eine positive gesellschaftliche Entwicklung. “Wenn Kinder im Alter von neun oder zehn Jahren aufgeteilt werden, und zwar nicht nur nach Leistung, sondern de facto oft auch nach sozialer Herkunft, bleiben sie unter sich. Sie sprechen nicht mit »den anderen«. So werden sie auf die zentrale Aufgabe, mit verschiedenen Menschen zusammenzuarbeiten, zu kommunizieren und zu verstehen, wie andere denken und handeln, nicht gut vorbereitet.“

Und zur Heterogenität der Schülerschaft führt er aus: „Betrachten Lehrkräfte bestimmte Kinder als Herausforderung oder als Problem? Sehen sie den Fehler beim Kind? Ich höre von Lehrkräften häufig, wie furchtbar es sei, so viele Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, so viele migrantische Kinder mit Sprachdefiziten oder so viele aggressive Kinder in der Klasse zu haben. Warum lässt man diese Kritik überhaupt zu? In den allermeisten Schulen der Welt ist eine starke Heterogenität völlig normal, ebenso wie in der Gesellschaft.“ Und weiter: „Ich verstehe nicht, warum Deutschland seit Jahrzehnten Kinder mit Behinderung separiert und sich bis heute nicht grundsätzlich davon verabschiedet hat“. Und zum Umgang mit migrantischen Kindern führt er aus: „Deutschland hat vergleichsweise viele zugewanderte Kinder in kurzer Zeit aufgenommen. Ich verstehe, dass es eine große Aufgabe ist, all diese Kinder sprachlich zu fördern. Schulen benötigen hier Unterstützung. Aber wenn die Kinder möglichst schnell Deutsch lernen, können sie im Schnitt genauso gut lernen wie alle anderen. Das sind eure Fachkräfte von morgen. Einigen Schulen gelingt die Integration weniger, anderen hingegen sehr gut. Diese Schulen müssen wir wertschätzen und von ihnen lernen.“ Mit diesem Schlenker zu den Schulen, denen Pädagogik gelingt, berührt es ein weiteres Defizit deutscher Bildungspolitik: Es gibt keine systematische und systemische Orientierung der Schulentwicklung an „guten Schulen“. Oder kennen Sie ein Bundesland, das in seine Schulpolitik etwa die Befunde des Deutschen Schulpreises angemessen einbezieht?

In jedem Hattie-Interview wird die Frage nach dem Effekt der Klassengröße auf den Lernerfolg angesprochen. Warum ist er entgegen der Erwartung so gering? „Meine Studie ist in diesem Punkt oft falsch interpretiert worden.“ Und „Wenn ein Lehrer seinen Unterricht an eine kleinere Klasse anpasst und die Möglichkeiten nutzt, die sich daraus ergeben – etwa dass einzelne Kinder mehr Redeanteil bekommen –, hat das einen ziemlich großen positiven Effekt. Diese Chance wird aber oft nicht genutzt.“

Bereits 20201 hat Hattie auf darauf hingewiesen, dass strukturelle Veränderungen, wie die Verkleinerung der Lerngruppe, nur dann ihr volles Potential entfalten können, wenn die dadurch möglichen Verbesserungen für die Lernprozesse der Kinder und Jugendlichen von den Lehrenden gesehen und an die Lernenden weitergegeben werden. Das ist mit einer deutlichen Veränderung der Sichtweise auf Kinder, ihr Lernen – und die Lehrerrolle – verbunden: Weg vom Objekt des Unterrichts, hin zum Subjekt des eigenen Lernprozesses. Dies geschieht deutlich zu wenig. Z.B. bei der Reduzierung der Klassengröße bleibt dann im Wesentlichen eine Arbeitserleichterung für die Lehrer übrig – und bei den Schülern kommt zu wenig an. Schließlich illustriert er die Frage der Gruppengröße mit folgender Frage: „Stellen Sie sich vor, Sie können als Lehrer wählen: zwischen 40 Schülern, die in der Schule sein wollen, und 20 Kindern, die nicht in der Schule sein wollen. Welche Gruppe würden Sie nehmen?“

Will man wirklich hinreichend positive Effekte struktureller Veränderungen erreichen, ist es offensichtlich notwendig, strukturelle Veränderungen immer gemeinsam mit geeigneten Qualifizierungsmaßnahmen des Lehrpersonals zu verbinden. Seien wir ehrlich: Gesetzt den Fall, die Bildungspolitik beschließt die gemeinsame Schule für alle. Rechneten wir dann nicht auch damit, dass wesentliche Teile der Lehrerschaft „beweisen“ würden, dass das zum Scheitern verurteilt ist? Leider gibt es in der Vergangenheit Beispiele, die diese Befürchtung stützen, etwa die Einführung und dann – nach Lehrerprotesten – wieder Rücknahme der für alle verbindlichen jahrgangsübergreifenden Schulanfangsphase in Berlin, auch die sehr zögerliche Inanspruchnahme von schulgesetzlichen Öffnungen (Verzicht auf äußere Leistungsdifferenzierung, notenfreie Beurteilung, Jahrgangsmischung, …) ebenfalls in Berlin,

Das weitere Spiegel-Interview ist ebenfalls interessant zu lesen, bewegt sich aber eher im Rahmen der bisherigen Rezeption von Hatties Ergebnissen. Es geht um den Umgang mit herausfordernden Kindern, seine eigenen Schulerfahrungen (offenbar für ihn sehr wichtig), Lernfreude – „Kinder sind davon besessen, zu lernen, davon bin ich fest überzeugt.“ – und Langeweile in der Schule, die Haltung, Rolle und Verantwortung der Lehrpersonen sowie den Einsatz von KI. Empfehlenswert!

Mal’ sehen, ob die deutschen Bildungspolitiker diesmal die (für sie) neuen Aussagen von John Hattie genau so begierig aufgreifen und für die Umgestaltung des Deutschen Schulsystems nutzen, wie sie ihn zur Stützung des ständischen Schulsystems (um-)interpretiert und benutzt haben.

1 John Hattie, Klaus Zierer: Visible Learning – Auf den Punkt gebracht, Baltmannsweiler 2020, S. 11–13