Eine Rezension von Karl-Heiz Heinemann

 Warum gelang es in Norwegen, flächendeckend eine zehnjährige Einheitsschule zu etablieren, während die Gesamtschule in Deutschland über den Status einer Angebotsschule zusätzlich zum fortbestehenden gegliederten Schulsystem nicht hinausgekommen ist? Katharina Sass vergleicht in ihrer historisch-politischen Arbeit den politischen Prozess um Schulreform in Norwegen mit dem in Nordrhein-Westfalen.

Sie bezieht sich vorab auf die eindeutigen wissenschaftlichen Belege, dass eine frühe Spaltung der Schullaufbahnen die Reproduktion von Ungleichheit begünstigt. Dass diese Erkenntnisse hierzulande nur ungern zur Kenntnis genommen werden, liege an der festen Verankerung der Begabungsideologie in den Köpfen selbst der ErziehungswissenschaftlerInnen und Lehrkräfte – ein Erbe des Nationalsozialismus, mit dem Norwegen als im Zweiten Weltkrieg besetztes Land weniger zu kämpfen hat.

Katharina Sass ist Associate Professor an der Universität Bergen, sie kommt aus NRW. Sie bewegt die Frage: Warum gelang es hierzulande nicht, die Gesamtschule flächendeckend einzuführen? An ihrer Universität in Bergen hat der Soziologe Stein Rokkan die Theorie der „Cleavages“, der Spaltungslinien entwickelt, um politische Prozesse und Entscheidungen zu erklären. Diesen Ansatz wendet Sass auf die Schulentwicklung an: Neben der für Marxisten dominierenden Klassenspaltung von Arm und Reich, Arbeitern und Kapitaleignern zieht sie mit Rokkan Konflikte zwischen Staat und Kirche, Stadt und Land, Zentrum und Peripherie zur Erklärung heran. Aus diesen zueinander quer verlaufenden Spaltungen müssen sich im politischen Prozess Koalitionen bilden, um wirksam zu werden. In Norwegen hatte sich eine hegemoniale Koalition aus Sozialdemokratie (Arbeiterschaft), Landbevölkerung, Frauen und Staat gebildet, in Nordrhein-Westfalen, ihr deutscher Untersuchungsgegenstand, dominierten dagegen Konservative, sprich: die CDU, im Bündnis mit den Kirchen und den Vertretern der Landbevölkerung.

Katharina Sass stellt die Schulentwicklung in beiden Ländern seit dem 19. Jahrhundert dar. In Norwegen wurde schon im 19. Jahrhundert eine allgemeine Volksschule zumindest bis zum fünften Schuljahr eingeführt. In Preußen war die Schulentwicklung zunächst vom Kulturkampf geprägt, also der Auseinandersetzung zwischen Kirche und Staat, immerhin kam es 1900 zur Gleichstellung der Realgymnasien mit den klassischen höheren Bildungsanstalten. Die Auseinandersetzung um die Einheitsschule und die „Arbeitsschule“ in der Weimarer Republik stellt sie ebenfalls dar.

In der Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg sieht sie in Norwegen eine relativ geschlossene Arbeiterbewegung um die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften, die in Deutschland am Antikommunismus scheiterte. Das ist gerade für die Schulentwicklung bedeutsam, weil das gemeinsame Lernen mit dem Etikett „Einheitsschule“ versehen und mit Verdikt „Kommunismus“ belegt werden konnte. Die Spaltung in sozialdemokratische und kommunistische Bewegung macht sie am Konflikt um die Berufsverbote deutlich.

Für Sass ist bedeutsam, dass auch in NRW die Kirchen eine wichtige Rolle in der Schulpolitik spielten-So wurde das konfessionelle Schulwesen eingeführt, und die katholische Kirche wehrte sich in den sechziger Jahren gegen die Ablösung der Volksschule durch die Grund- und Hauptschulen, weil ihr Einfluss dann im Wesentlichen auf die Grundschulen beschränkt blieb.

Auch in Norwegen gab es Konflikte um die Rolle der Kirchen, und ebenso wie bei uns mit der Einrichtung von Mittelpunktschulen, um den Ausgleich des Stadt-Land-Gefälles. Doch hier wie dort hängen die „Cleavages“, die Spaltungslinien im Rokkanschen Sinn, doch eng mit den parteipolitischen Bindungen zusammen.

In NRW, das arbeitet Sass auch mithilfe der Zeitzeugeninterviews heraus, die sie geführt hat, sind ja die Sozialdemokraten im Landtag und der Regierung durchaus nicht die Verfechter der Gesamtschule – die Partei ist darüber gespalten. Und sie suchen auch keine Bündnispartner dafür.

Ihr Fazit: In Norwegen gab es einen breiten Konsens bis in die bürgerliche Mitte, der von der Sozialdemokratie gesucht wurde. In Deutschland dagegen war die Gesamtschule Gegenstand interner Spaltungen, etwa in der SPD, nicht zu vernachlässigen sei auch der starke Antikommunismus als „Spaltpilz“.

Das Buch bietet einen guten und fast umfassenden Überblick über die Schulpolitik in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert, und wer sich über das norwegische Schulsystem informieren möchte findet hier hinreichend Material. Sass ruft Kämpfe und „Spaltungslinien“ ins Gedächtnis – so die heftigen Debatten um die Koop-Schule, die die CDU vereinte, die SPD eher spaltete, um die Konfessionsschule, um konservative oder progressive Anlage der Frauenrolle. Das Buch nimmt also die politische Dimension der Kämpfe um Schulreform in den Blick.

Das Buch:
Sass, Katharina: Die Politik der Gesamtschulreform. Spaltungslinien, Akteure und Koalitionen in Deutschland und Norwegen. Weinheim ; Basel : Beltz Juventa 2024, 262 S. - (Neue Politische Ökonomie der Bildung) - URN: urn:nbn:de:0111-pedocs-302131 - DOI: 10.25656/01:30213; 10.3262/978-3-7799-7798-8

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