Beitrag des GGG-Bundesvorsitzenden in "Die Grundschulzeitschrift" Sept. 2010
Liegt die Wartburgschule richtig? Unter dem Titel "Wartburgschule will wachsen" war die Meldung im Mai 2010 der taz mehr als eine halbe Seite wert: Die als Gewinnerin des Deutschen Schulpreises 2008 bundesweit bekannt gewordene Wartburg-Grundschule in Münster will künftig ihre pädagogische Arbeit bis zur 10. Klasse fortsetzen und hat dies bei den Schulbehörden beantragt. Sie ist nicht die einzige Grundschule mit der Absicht, die organisatorische Barriere zur Sekundarstufe zu beseitigen.
Die Bildungspolitik ist sich nicht einig, was sie von solchen Schulen halten soll. Langformschulen, die Primar- und integrierte Sekundarstufe umfassen, werden in einigen Bundesländern zugelassen, meist eher geduldet. Nur in Berlin sind sie als regionale Ausprägung der Gemeinschaftsschule Bestandteil der offiziellen bildungspolitischen Entwicklung; aber selbst hier bisher zahlenmäßig in der deutlichen Minderheit. In Hamburg gar werden die dort vorhandenen Langformschulen aufgelöst und dem schwarz-grünen bildungspolitischen Kompromiss geopfert. Die Begründung: Hätten die künftigen Stadtteilschulen eigene Grundstufen, dann müsste man diese auch den Gymnasien zugestehen. Die Argumentation zieht jedoch nicht: Erstens sind gymnasiale Vorschulen gemäß Grundgesetz aufgehoben, zweitens kann die Fortsetzung der integrativen Grundschule in einem Organisationsverbund nur eine integrative Schule und nicht eine selektive sein und drittens, wenn Gymnasien und nichtgymnasiale Schulen gleich behandelt werden sollen, dann grundsätzlich, auch bei der Aufnahme der Schüler.
Es gibt nicht nur außerhalb Deutschlands Erfahrungen mit Langformschulen. Ich selbst war Schulleiter der Fritz-Karsen-Schule in Berlin-Neukölln, die 1948 nach dem damaligen Berliner Schulgesetz als durchgängige Schule gegründet wurde und seit über 60 Jahren die Jahrgänge von der Einschulung bis zum Abitur unter einem Dach vereint.
Im letzten Jahr der Grundstufe werden keine Gutachten fällig, die sonst für den Übergang in die weiterführenden Schulen vorgeschrieben sind. Die häufig als entwürdigend erlebte Suche nach einem Schulplatz entfällt. Schüler/innen, Eltern und Lehrer/innen erleben den Wegfall von Gutachten und Schulplatzsuche als befreiend. Hier wird deutlich, dass es nicht Aufgabe der integrativ arbeitenden Grundschule sein kann, Hilfsdienste für das Sortieren der Schüler auf unterschiedlich wertige Schularten zu leisten und dabei die eigene pädagogische Arbeit zu belasten.
Nach der Grundschulzeit – in Berlin sechs Jahre – werden in der Fritz-Karsen-Schule zusätzlich zu den drei Klassen aus der eigenen Grundstufe drei neue Klassen aufgenommen. Sowohl die hauseigenen als auch die neuen Klassen sind nahezu bevölkerungsrepräsentativ zusammengesetzt. In ihrer Arbeitsfähigkeit unterscheiden sie sich dagegen signifikant: Während die hauseigenen Klassen ihr Lernen einfach fortsetzen, meist mit bekannten Lehrern, dauert es bei den neu gebildeten Klassen über ein halbes Jahr, ehe sie ihre sozialen Strukturen soweit geklärt haben, dass eine ähnlich positive Arbeitsatmosphäre einkehrt. Ohne die Vorgeschichte der Klassen zu kennen, gelang es Besuchern meist bereits nach einer Hospitationsstunde zutreffend zwischen hauseigenen und neuen Klassen zu unterscheiden. Ich vermute, bei einer wissenschaftlichen Untersuchung käme heraus, dass der Schulwechsel und damit verbunden der Aufbau eines neuen sozialen Gefüges mit mindestens einem halben Jahr Lernzeitverlust bezahlt wird.
Diese eigenen Erfahrungen lassen sich durch einen Blick auf die Preisträger des Deutschen Schulpreises objektivieren: 35% der bisherigen Preisträgerschulen sind Langformschulen und damit unter den Preisträgern deutlich überrepräsentiert. Langformschulen bieten die Chance ein pädagogisches Konzept aus einem Guss für die gesamte Schulzeit zu realisieren.
Also, die Wartburgschule liegt richtig! Und es ist nicht nur ihr zu wünschen, dass Politik und Behörden sie bei ihrem Vorhaben unterstützen.
Lothar Sack leitete bis 2006 die Berliner Fritz-Karsen-Schule und ist jetzt Bundesvorsitzender der GGG – Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule – Verband für Schulen des gemeinsamen Lernens e.V.