"Jede Sekundarschule muss zu allen Abschlüssen führen"
Der GGG-Bundesvorsitzende im Interview des zwd
zwd: Spätestens mit dem Scheitern der Primarschule in Hamburg ist eine bundesweite Tendenz hin zur Zweigliedrigkeit deutlich sichtbar. Die gymnasiale Klientel scheint zu stark, um "eine Schule für alle" durchzusetzen, die sich Gesamtschul-Befürworterinnen und Befürworter immer vorgestellt haben. Allerdings lösen die in vielen Ländern eingerichteten Oberschulen – als Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen – das dreigliedrige Schulsystem mitsamt der Hauptschule zunehmend ab. Die GGG hat sich im Vorfeld der Hamburger Schulreform sehr zurückgehalten. Bewerten Sie die Entwicklung grundsätzlich skeptisch oder als Schritt in die richtige Richtung?
LS: Eine Analyse des Hamburger Volksentscheides zeigt, dass die Stärke der konservativen Gymnasialklientel in ihrer Mobilisierungfähigkeit lag. Es hat ja keineswegs eine Mehrheit der Bevölkerung gegen die Verlängerung der Primarschule gestimmt; Umfragen zeigen vielmehr, dass eine Mehrheit für das längere gemeinsame Lernen ist. Dass dieser Umstand nicht im Abstimmungsergebnis sichtbar geworden ist, mag auch an der "Bildungsnähe" der Primarschulgegner und der vermuteten "Bildungsferne" vieler liegen, in deren Interesse die Reform gewesen wäre.
Mit dem Umbau der Schulstruktur in Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Berlin und dem Saarland gibt es nunmehr in 11 Bundesländern keine Hauptschulen mehr. Dabei muss man unterscheiden, ob die integrative Schule (neben dem Gymnasium) "unvollständig" ist – indem sie den Weg zum Abitur curricular und organisatorisch nicht enthält – oder ob sie "vollständig" ist – also alle Schulabschlüsse vergibt, wie es in den Bundesländern Hamburg, Bremen, Berlin und dem Saarland der Fall ist. Denn eine "unvollständige" integrative Schule führt zu deutlich unterschiedlich wertigen Schulformen. Auch der Umbau mit der "vollständigen" integrierten Schule beseitigt keineswegs den Auslesecharakter unseres Schulsystems, zumal gerade die beiden extremsten Formen der Auslese, die Förderschulen und die Gymnasien nicht systematisch einbezogen werden. Allerdings stellt sich schon die Frage nach der spezifischen Funktion des Gymnasium neben einer Schule, die grundsätzlich jeden Schüler aufnimmt und zu allen Abschlüssen führt.
Grundsätzlich ist jeder Schritt zu begrüßen, der die Anzahl der Kinder und Jugendlichen steigert, die ohne Aussonderung lernen, der die Anzahl der Kinder erhöht, die länger gemeinsam lernen, der jedem Kind, insbesondere dem, das mit Nachteilen zu kämpfen hat, ein besseres, erfolgreicheres Lernen ermöglicht. Die Bundesländer, die zwar das Gymnasium als exklusive Schulform nicht abschaffen, aber die "vollständige" integrative Schule als einzige andere Schulform daneben stellen, eröffnen hier zweifellos Chancen. Allerdings fällt der Jubel über diese Schritte etwas verhalten aus, wenn man auf den noch zurückzulegenden Weg zu einem wirklich inklusiven Schulsystem blickt: Man ist auf dem ersten Kilometer eines Marathons. Diese Haltung hat die GGG auch in Stellungnahmen von Bundes- und Landesvorständen zum Ausdruck gebracht.
zwd: Ihr Vorgänger als Vorsitzender der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule, Joachim Lohmann, hat in unserer letzten Ausgabe – zwd 08/2010– davon gesprochen, in Hamburg sei die Reform gescheitert, da Eltern Nachteile für die Bildungschancen ihrer Kinder befürchteten. Haben die Schulreformerinnen und -reformer in Hamburg etwas verkehrt gemacht?
LS: Falls die Eltern befürchten, dass ihre Kinder zusammen mit anderen weniger lernen, so können dem nationale und internationale Erfahrungen und Studien entgegen gehalten werden. Falls sie befürchten, dass ihre Kinder einer stärkeren Konkurrenz um attraktive Berufsperspektiven ausgesetzt werden, so sei darauf hingewiesen, dass schon jetzt Akademiker-Mangel herrscht; und außerdem, was bemängeln die Befürworter von Konkurrenz eigentlich an Konkurrenz? Bleibt der Wunsch nach sozialer Abschottung, ein ständisches Motiv aus dem 19. Jahrhundert, der nicht in ein demokratisches Denken und Handeln passt.
zwd: Eine Verlängerung der Grundschulzeit scheint nach den Erfahrungen von Hamburg gesellschaftlich nicht durchsetzbar. Wie steht es aufgrund dieser Entwicklung um die Zukunftschancen der Gesamtschule als spezifischer Schulform? Wird der Gesamtschule als Schule des gemeinsamen Lernens durch die Gemeinschaftsschul-Lösungen in vielen Bundesländern der Boden entzogen? Welche Konsequenzen ziehen GesamtschullehrerInnen und GGG aus der derzeitigen Entwicklung?
zwd: Wo liegen aus Sicht der GGG die entscheidenden Unterschiede zwischen den Oberschullösungen und der Gesamtschule?
LS: In der jetzigen Situation wäre die Oberschullösung mit "unvollständigen" Schulen wohl nur in Bayern und Baden-Württemberg kein Rückschritt. Der Unterschied zwischen Gesamtschule und der "vollständigen" integrativen Schule besteht in vielen Fällen im Namen und muss in jedem Fall regional differenziert beurteilt werden. In den Bundesländern, in denen das Schulsystem – neben den zunächst nur zögerlich abgebauten Förderschulen – aus "vollständigen" integrativen Schulen und dem Gymnasium besteht, ist durch Regierungshandeln ein Zustand entstanden, der in ähnlicher Weise, allerdings in einem längeren Zeitraum auch erreicht worden wäre durch schrittweise Neugründungen von Gesamtschulen: Jede Schule des Sekundarbereichs führt zu allen Abschlüssen. Das Ziel, dem die GGG verpflichtet bleibt, ist die Realisierung eines inklusiven, nicht auslesenden Schulsystems, in dem alle Kinder und Jugendlichen gemeinsam lernen. Die Bildungspolitik ist sich nicht einig, was sie von solchen Schulen halten soll. Langformschulen, die Primar- und integrierte Sekundarstufe umfassen, werden in einigen Bundesländern zugelassen, meist eher geduldet.