Eine Antwort von Dieter Weiland auf Joachim Lohmanns Beitrag
Ist mit Hamburg die gemeinsame Schule für alle gescheitert?
(siehe auch GGG-Journal 1/2011)

Wer hätte das gedacht: Unsere guten alten GGG-Kontakte zeigen feine Ironie. Über sechs Seiten darf der gewiefte Polit-Taktiker Joachim Lohmann uns wieder mal das Zwei-Säulen-Modell – diesmal zweigliedrige Oberschul-Lösung genannt – als den Königsweg zur einen Schule für alle anpreisen.
"Guckt mal, was ich euch mitgebracht habe!" kommentiert dies die Titelkarikatur, auf der ein Mensch die Bürger mit einem Hunderttausend-Teile-Puzzle beglückt; Titel: "Eine Schule für alle" – Schulreformpuzzle made in Germany.
Ich befürchte, leider war ein solch kommentierender Zusammenhang zwischen Hauptartikel und Titelkarikatur nicht beabsichtigt, eher handelt es sich wohl um eine Freud'scheFehlleistung der Redaktion. Zum wiederholten Male macht sich unsere Verbandszeitschrift zum Propaganda-Organ für einen veritablen Holzweg in der Schulstrukturdebatte. Deshalb hier noch einmal in aller Kürze eine Gegenposition:

Lohmann und Mitstreiter halten sich offenbar in der Debatte um eine Veränderung der Schulstruktur für die schlauen Pragmatiker mit der einzig realistischen Reformperspektive. Die Voraussetzung ihrer Argumentation erscheint jedoch alles andere als realistisch. Sie glauben nämlich, den Widerstand des Bürgertums gegen die Einbeziehung des Gymnasiums in den Reformprozess durch eine geschickte bildungspolitische Taktik überwinden zu können. Man könne der Gymnasial-Lobby den Reformprozess sozusagen unterjubeln, indem man dem Gymnasium Stück für Stück seine Alleinstellungsmerkmale nehme. Das ist aber eine illusionäre Unterschätzung der Interessen und Fähigkeiten der Kerntruppen des Bildungsbürgertums. Es gebe (nach Hamburg) keinen Grund, die Gegner zu diffamieren, schreibt Lohmann. Wenn das bedeuten soll, die knallharte Interessenvertretung der Gymnasial-Lobby nicht mehr als solche benennen zu dürfen, ihre unverschämte Verweigerung von Bildungsgerechtigkeit, sozialer Integration und solidarischem Zusammenhalt, dann schließe ich mich dieser Aufforderung nicht an. Eine grundsätzliche Reform der deutschen Schulstruktur unter konsequentem Einfluss des Gymnasiums gehört – wie andere zentrale gesellschaftspolitische Fragen – ins Zentrum demokratischer Auseinandersetzungen und damit des Kampfes um Mehrheit.

Nach dem Hamburger Desaster gebe es für die Reformer keinen Grund zu resignieren, so Lohmann. Dem stimme ich uneingeschränkt zu, allerdings aufgrund einer anderen Analyse und aus anderen Gründen. Die in Hamburg geplante und gescheiterte Schulreform war alles andere als der Weg zum konsequenten Umbau des Schulsystems im Hinblick auf die Überwindung sozialer Bildungsbarrieren; denn sie sollte ja Selektion und Auslese nur um zwei Jahre hinausschieben und Privilegien des Gymnasiums keineswegs entscheidend schwächen. Das Konzept bedeutet bei Licht besehen – ebenso wie alle anderen Versionen des Zwei-Säulen-Modells die Beibehaltung und Zementierung (Schulfrieden!) der Drei-Klassen-Schule: Für die Dünkelbürger das Gymnasium, für den Rest eine irgendwie benannte "Oberschule" und für den Rest des Restes weiterhin die Sonderschule. Dieses "Kompromiss"-Konzept (in Wahrheit eine Kapitulation im Kampf um die gemeinsame Schule) war einerseits kaum geeignet, Anhänger einer konsequenten Schulreform zu aktivieren, andererseits genügte ein Aspekt (zwei Jahre länger mit den Schmuddelkindern) durchaus, die Gegner auf die Barrikaden zu bringen. Es wurde also der entschiedene Widerstand der interessierten Bildungsbürger provoziert, ohne eine überzeugte Unterstützung der Anhänger zu gewinnen. Das nenne ich eine Verschwendung von Ressourcen und Engagement für ein fragwürdiges Ziel. Man hat die Heftigkeit der Auseinandersetzung durch ein "Kompromiss"-Konzept nicht mildern können. Warum dann nicht gleich eine klare Auseinandersetzung um ein wirklich überzeugendes Konzept?

"Politisch nicht durchsetzbar", das beweise ja gerade das Hamburger Desaster. Das hören die Gegner einer konsequenten Strukturreform gern, besonders wenn es von Anhängern dieser Reform in vorauseilendem Gehorsam selbst vorgebracht wird. Das Hamburger Plebiszit ist aber für die angebliche politische Undurchsetzbarkeit ein schlechter Beleg: Wer hat abgestimmt? Lediglich 39% der Hamburger Wahlbürger haben überhaupt ihre Stimme abgegeben. Davon hat etwas mehr als die Hälfte – also nur gut ein Fünftel der Hamburger – gegen die Reform gestimmt. Dabei darf man davon ausgehen, das die Bildungsbürger mit einem hohen personellen und finanziellen Aufwand ihr potential weitgehend ausgeschöpft haben, die eigentlichen Gewinner einer Strukturreform dagegen nicht einmal im Ansatz. Es ist keineswegs undenkbar, für ein schlüssiges Konzept einer gemeinsamen Schule für alle Mehrheiten zu gewinnen. Das zeigt sich auf einem anderen Feld, nämlich überall dort, wo Integrierte Gesamtschulen überzeugend die Theorie und Praxis einer Pädagogik der Heterogenität entwickeln und realisieren. Vielleicht hat es mancher überlesen: In der Organisationsskizze der Göttinger IGS (auch in der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift) findet sich folgende Information:

"An der Georg-Christoph-Lichtenberg Gesamtschule melden sich jedes Jahr etwa doppelt so viele Schüler/innen an, wie Plätze vorhanden sind. Unter diesen Schüler/innen sind mehr für das Gymnasium Empfohlene als sich bei jedem Göttinger Gymnasium anmelden (25% können nicht aufgenommen werden), außerdem befinden sich fast alle Schüler/innen mit einer Hauptschulempfehlung darunter (d.h. die Göttinger Hauptschulen erhalten ihre Schüler/innen fast ausschließlich durch nicht an der Lichtenberg-Schule aufgenommene.)"

Politisch nicht durchsetzbar? Faule Kompromisse vielleicht nicht. Klare Alternativen hingegen lohnen die Auseinandersetzung, und sie haben eine realistische Mehrheitsperspektive. Man darf gespannt sein, wann endlich eine politische Partei auf diesen Trichter kommt.

P.S.
Heute erhielt ich den Brief einer meiner ehemaligen Referendare, jetzt Gymnasiallehrer in Frankfurt und junger Familienvater. Hier lese ich folgendes: "... Malte ist nun fast 10 und wir sind in der 4. Klasse und haben den ganzen Mist mit dem Schulwechsel in einem dreigliedrigen Schulsystem am Bein und im Kopf und in unseren Träumen. Und sag, warum ist das Niveau in den städtischen IGSen so niedrig (Göttingen ist keine Stadt!)? Weil die verdammten Bildungsbürger, die die Grünen wählen, am Ende doch das Gymnasium vorziehen und so wächst nichts, wo nichts gepflanzt wird. Überhaupt ist das Bildungssystem im furzföderalen Deutschland eine stinkende Jauchegrube, ein heuchlerischer Mist aus faulenden Kompromissen, Mutlosigkeit und Terroranschlägen der Schuladministration. Ich bin gern Lehrer, ich liebe es, das ist ein ganz anderes Thema! ..."

Dieter Weiland

Siehe zu diesem Thema auch den einstimmigen Beschluss der Mitgliederversammlung vom 13.11.2010:

GGG-Einschätzung bildungspolitischer Entwicklungen (2010)