Eine wichtige Fachtagung in Dachau mit Ausstrahlung in Bayern
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Peter Ehrich
Unter der Forderung: „Wir brauchen eine Schule, in der eine andere Lernkultur herrscht, die individuelles Lernen fördert und auf die Gemeinschaft ausgerichtet ist“, versammelte sich das von der GGG unterstützte Bündnis Gemeinschaftsschule Bayern am 15. Februar 2025 in der Montessori-Schule Dachau. In der Aula des Schulgebäudes trafen sich Vertreter*innen aus Wissenschaft, Politik, Elternschaft und Schüler*innenvertretungen, um in Vorträgen, Podiumsdiskussionen und offenen Gesprächen über die pädagogischen, gesellschaftlichen und politischen Aspekte der Gemeinschaftsschule zu debattieren.
Hans Wocken: Gelingens- und Scheiternsbedingungen der Gemeinschaftsschule
Der renommierte Bildungswissenschaftler Hans Wocken stellte in seinem Vortrag zentrale Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren für die Einführung der Gemeinschaftsschule in Bayern vor. Wocken, bekannt für sein Engagement für Kinder mit Behinderung, präsentierte drei zentrale Quoten zur Messung gelingender Inklusion: die Förderquote (Schüler*innen mit ausgewiesenem sonderpädagogischem Förderbedarf), die Separationsquote (Schüler*innen, die nicht an allgemeinen Schulen unterrichtet werden) und die Inklusionsquote (Schüler*innen mit Förderbedarf an allgemeinen Schulen).
Die aktuellen Zahlen auf Bundesebene/bayerischer Ebene aus 2023 zeigen eine stagnierende Förderquote von 7,6 /6,6 % und eine Exklusionsquote von ebenfalls 4,2/4,5%, während die Inklusionsquote nur 3,4/2,1 % beträgt (1). Wocken spricht von "Pseudoinklusion" – eine Entwicklung, bei der Schulen durch Diagnostik neue Förderbedarfe schaffen, ohne bestehende Förderschüler*innen in allgemeine Schulen zu integrieren. Die Ursachen sieht er in einer selektiven Haltung vieler Schulen, die sich ihre „Inklusionskinder“ gezielt aussuchen. "Inklusion heißt nicht wählen, sondern annehmen", so Wocken.
Ein weiteres Problem identifiziert er in der ausschließlichen „Input-Orientierung“ Bayerns: Statt die Separationsquote – für Wocken der tatsächliche Output bildungspolitischer Maßnahmen - zu senken, konzentriere sich das Land auf die Bereitstellung von Fortbildungen, Finanzmitteln und Zertifikaten – für Wocken der Input an bildungspolitischen Maßnahmen ins Bildungssystem -, ohne tatsächliche strukturelle Veränderungen herbeizuführen. Hinzu komme der politische Widerstand gegen die Gemeinschaftsschule, den er als "Bestandsschutz" für das gegliederte Schulsystem bezeichnet. Er verweist auf das Festhalten an selektiven Instrumenten – „Folterinstrumenten“ – wie dem "Grundschulabitur" und der Lernzielgleichheit, die eine individuelle Förderung erschweren. Erst ein ehrliches Bekenntnis zu Inklusion und Gemeinschaftsschule sowie konkrete landesweite Reformbestrebungen, die die "Folterinstrumente des selektiven Schulsystems" abschaffen, könnten das bestehende System ins Wanken bringen und eine echte Transformation zur Gemeinschaftsschule ermöglichen.
Erste Podiumsdiskussion: Mut zur Veränderung
In einer ersten Podiumsdiskussion diskutierten Stefan Ruppaner (Alemannenschule Wutöschingen), Prof. Dr. Zentel (LMU München), Dr. Michael Kirch (LMU München) und Dr. Antonia Green (Familientreffen Inklusion). Kirch formulierte eine provokante These: "Deutschland hat kein Transformationsproblem, sondern ein Erkenntnisproblem." Es fehle die Akzeptanz für notwendige Änderungen und der Mut, bestehende Strukturen aufzubrechen. Ruppaner appellierte an Schulleitungen, bestehende Gesetze zu ignorieren und aktiv neue Bildungswege zu erproben.
Kirch unterstrich die negativen Folgen des selektiven Systems, das durch frühzeitige Leistungstests und Aussiebverfahren Kinder demotiviere. Studien belegten, dass das Selektionssystem keine positiven Effekte auf Lernerfolge hat. Wocken betonte die gesellschaftliche Dimension: Gemeinschaftsschulen fördern das "Miteinander-Können" – eine Schlüsselqualifikation in einer zunehmend diversen Gesellschaft.
Emotionale Appelle der Schüler*innen
Vor der Mittagspause kamen dann noch zwei junge Menschen zu Wort: Amelie, eine Schülerin, die eine Petition gegen unangekündigte Tests (Exen) und Abfragen gestartet hat, und Tim Wiegelmann, ein erwachsener Schüler mit körperlicher Behinderung. Amelie kritisierte die sture Haltung der Landesregierung gegen Reformen, während Tim in einer bewegenden Rede betonte, dass Inklusion nicht die Abwesenheit von Barrieren, sondern die Präsenz von Verbindungen sei. Er beklagte, in der Sonderschule von diesen Verbindungen abgeschnitten gewesen zu sein, und appellierte an eine humane Schule, die den Menschen und nicht das Fach in den Mittelpunkt stellt.
Zweite Podiumsdiskussion: Die politische Dimension
In einer politischen Diskussionsrunde debattierten am Nachmittag Vertreterinnen aus Politik, Gewerkschaften und Bildungsverbänden über die strukturellen Hürden für die Gemeinschaftsschule. Der Landesschüler*innenrat kritisierte, dass junge Menschen oft allein gelassen würden, während Politiker*innen "für ihre Arbeit bezahlt würden, aber keine Lösungen lieferten". Stefan Ruppaner zeigte sich aus seiner Erfahrung als Kreisrat heraus resigniert: "Die hören nicht mal zu." Verantwortlichkeiten würden zwischen Ministerien hin- und hergeschoben, sodass keine Fortschritte erzielt würden.
Der Behindertenbeauftragte Holger Kiesel beklagte, dass Modellschulen, die Inklusion erproben, von der Politik ausgebremst würden – offenbar aus Angst, dass sich der Erfolg nicht länger ignorieren ließe. Die GEW-Vorsitzende Martina Bogendale forderte pragmatische Schritte, etwa durch die Abschaffung unangekündigter Tests. Nicole Gohlke (MdB, Die Linke) sprach sich für einen bundesweiten Bildungspakt aus, um Gesamtschulen finanziell und strukturell zu fördern. Ruppaner hingegen hielt dagegen: "Mehr Geld in Bildung ist Bullshit. Was es braucht, ist mehr Haltung und mehr Herz."
Fazit: Ein System im Stillstand
Die Tagung verdeutlichte, dass die Gemeinschaftsschule in Bayern weiterhin auf große Widerstände trifft. Trotz wissenschaftlicher Evidenz und persönlicher Schicksale bleibt das Bildungssystem rigide. Zwei Hauptforderungen ergaben sich aus der Diskussion: Erstens muss der Bestandsschutz für Förderschulen fallen, und zweitens müssen die selektiven Strukturen des gegliederten Schulsystems aufgebrochen werden. Nur so kann sich das bayerische Schulsystem von einer Kultur der Separation zu einer Kultur der echten Inklusion wandeln.
Weitere Informationen: https://www.eine-schule.de
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2