Neurodiversität: Die inklusive Sicht auf Abweichungen von der „Norm“ verändert Schule
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Verkannte Stärken
Herausforderungen und Perspektiven für ein neuro-inklusives Lernen
Peter Ehrich
Vorbemerkung
Dieser Artikel führt die Ergebnisse aus Interviews und Schreibgesprächen mit vier deutschen und internationalen Forschenden, Autor*innen, Lehrkräfteausbildner*innen und Berater*innen zum Thema Neurodiversität und Neuroinklusion zusammen. Interviewt wurden: Thomas Armstrong (Executive Director bei American Institute for Learning and Human Development und Autor), Paul Ellis (Head of Education Cambridge International Learning, Ausbilder und Autor), Karina und Svenka Kahl (Schul- und Elternchoaches) und Julia Thurner (Lehrkräftetrainerin und Transformationsbegleiterin für Schulen).
„Die Defizitorientierung hindert die Sicht auf die Stärken der Schüler und verstärkt das Gefühl des Andersseins“ (Thurner). Diese Erkenntnis ist besonders relevant im Kontext neurodivergenter Lernender, die unterschiedliche neurologische Bedingungen wie Autismus, AD(H)S, Dyslexie oder intellektuelle Beeinträchtigungen aufweisen. Diese Lernenden bringen besondere Herausforderungen und Stärken in das Bildungssystem mit.
Um eine inklusive Lernumgebung zu schaffen, müssen sowohl die individuellen Bedürfnisse dieser Schüler*innen als auch die Hürden des bestehenden Schulsystems berücksichtigt werden. Der folgende Artikel beleuchtet die wichtigsten neurodivergenten Bedingungen, ihre Herausforderungen und Stärken, die systemischen Hürden sowie konkrete Handlungsmöglichkeiten auf verschiedenen Ebenen.
Zappelphilipp, Träumer und Schusselchen – Neurodivergente Lernende in der Schule und ihre Stärken
In einer inklusiven Gesamtschule einer mitteldeutschen Großstadt stammen die Schüler*innen aus Familien mit unterschiedlichen Einkommensverhältnissen, einschließlich 14 % mit Migrationshintergrund. An einem Schultag unterrichtet eine Lehrkraft in vier Klassen mit je etwa 25 Schüler*innen und trifft auf 5–6 Kinder mit LRS/Dyslexie, ebenso viele mit AD(H)S und 3–8 mit Dyskalkulie. Oft ist auch ein Kind mit ASS dabei. Diese Prävalenz verdeutlicht die starke Vertretung neurodivergenter Lernender in Schulen. In der Tabelle werden die häufigsten Diagnosen mit ihren Herausforderungen nach DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) und den damit verbundenen Stärken aufgeführt.
Kondition |
Prävalenz |
Schwächen nach DSM |
Stärken |
Dyslexie/ |
Ca. 5 % in Deutschland, |
Schwierigkeiten beim Erkennen von Wörtern: Langsame, fehlerhafte oder stockende Lesefähigkeit: Rechtschreibprobleme: |
Kreativität und Problemlösungsfähigkeiten; Ausgeprägte Empathiefähigkeit. |
AD(H)S |
Ca. 5–7 % in Deutschland, |
Unaufmerksamkeit: Impulsivität: Hyperaktivität: |
Hyperfokussierung auf interessante Themen; hohe Kreativität und Innovationsfähigkeit; ausgeprägte Energie und Begeisterung. |
Rechen-schwäche/ |
Ca. 3–8 % in Deutschland, |
Schwierigkeiten beim Erlernen von Rechenoperationen: Probleme mit mathematischen Regeln und Konzepten. Probleme mit Zahlenverständnis: |
Häufig starke räumliche Vorstellungskraft; |
Dyspraxien |
Ca. 3–8 % weltweit |
Ungeschicklichkeit: Schwierigkeiten bei der Planung von Bewegungen. |
Kreative Ansätze zur Problemlösung; |
Autismus-Spektrum-störung/ |
0,6–0,7 % in Deutschland, |
Defizite in der sozialen Interaktion: Schwierigkeiten, soziale Signale zu erkennen. Eingeschränkte, stereotype Verhaltensweisen: |
Detailorientierung und tiefes Fachwissen in spezifischen Interessensgebieten; |
Die Begriffe ‚Schwächen‘, ‚Defizit‘ und ‚Störung‘ erscheinen hier als Zitate aus dem DSM. Der Autor dieses Artikels teilt diese Begrifflichkeit nicht. Sie werden ersetzt durch ‚Bedarf‘ und ‚Herausforderung‘. |
Herausforderungen und Stärken: Die duale Perspektive
Neurodivergente Lernende stehen häufig vor Herausforderungen wie der Stigmatisierung durch Mitschüler*innen und Lehrkräfte, einer mangelnden Akzeptanz ihrer Lernstile sowie einem an Defiziten orientierten Schulsystem, das ihre individuellen Stärken oft nicht erkennt. Leistungspotenziale können dann womöglich nicht in vollem Maß entfaltet werden. Es droht Leistungsversagen durch Underachievement. Kahl betont die Benachteiligung, die neurodivergenten Schüler*innen daraus erwächst, und stellt fest: „In der Schule bleibt man stehen, während andere sich weiterentwickeln.“
Trotz dieser Herausforderungen besitzen neurodivergente Schüler*innen einzigartige Stärken, die in einem unterstützenden Umfeld zur Entfaltung kommen können. Dies reicht von besonderen Problemlösungsfähigkeiten über Detailgenauigkeit bis hin zu kreativen Ansätzen in verschiedenen Fachbereichen.
Hürden im Schulsystem auf den betrachteten Ebenen: Die Herausforderungen der traditionellen Struktur
Systemische Hürden:
Das derzeitige Schulsystem ist oft starr und lässt wenig Raum für individualisierte Lernansätze. Daher „braucht es mehr Anerkennung für die Vielfalt der Talente und Interessen, die Kinder mitbringen“ (Ellis). Dies führt dazu, dass Lehrkräfte Schwierigkeiten haben, Lehrmethoden zu finden, die für alle Schüler*innen geeignet sind.
Mangelnde Differenzierung:
Die oft fehlende Differenzierung in den Unterrichtsmethoden kann dazu führen, dass neurodivergente Schüler*innen nicht die Unterstützung erhalten, die sie benötigen. Armstrong sagt dazu: „Eine Einheitsgröße passt nicht für alle; wir müssen den Unterricht an die Bedürfnisse der Lernenden anpassen“. Standardisierte Tests verstärken zudem den Druck und lassen oft wenig Raum für alternative Bewertungskriterien (Ellis). Dieses Defizit an Differenzierung bezieht sich auch auf die Öffnung der räumlichen und zeitlichen Lernumgebung (Thurner).
Lehrkräfte und Sensibilisierung:
Viele Lehrkräfte sind nicht ausreichend über neurodivergente Bedingungen informiert, was zu Missverständnissen und unzureichender Unterstützung führt. Ellis betont: „Die Ausbildung der Lehrkräfte muss dringend erweitert werden, um inklusiven Unterricht zu gewährleisten“. Hier sind regelmäßige Schulungen und Workshops notwendig, die Lehrkräfte für die Vielfalt in ihren Klassen sensibilisieren. Anzusetzen ist auch in der wissenschaftlichen Forschung und der Bereitstellung entsprechender Literatur. Thurner mahnt in diesem Kontext an, „Es ist wirklich erschreckend, wie wenig wir in Deutschland zu diesem Thema haben.“ Sowohl die Aufbereitung einschlägigen Informationsmaterials als auch entsprechender Fortbildungsangebote bleiben hier noch ein Desiderat.
Mangel an Ressourcen:
An vielen Schulen mangelt es an den notwendigen Ressourcen, um neurodivergente Lernende zu unterstützen. Dies betrifft sowohl Lehrmaterialien als auch Personal, das in den spezifischen Bedürfnissen dieser Schüler*innen geschult ist. Der Mangel an spezialisierten Fachkräften führt dazu, dass Lernende nicht die individuelle Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und das Fach- und Handlungswissen nicht interkollegial etwa bei der gemeinsamen Entwicklung von Unterricht oder gemeinsamen Fortbildungen gestreut werden kann.
Soziale Isolation:
Neurodivergente Schüler*innen erleben oft soziale Isolation, sowohl durch das Stigma ihrer Bedingungen als auch durch Schwierigkeiten, soziale Beziehungen zu knüpfen. Armstrong hebt hervor: „Wenn wir soziale Integration nicht aktiv fördern, verlieren wir wertvolle Perspektiven und Talente“ (Armstrong). Programme, die den Austausch zwischen neurodivergenten und neurotypischen Schüler*innen fördern, sind dringend erforderlich. Vergleichbare Angebote wären auch auf Ebene der Elternarbeit förderlich.
Forderungen zur Verbesserung der inklusiven Bildung für neurodivergente Lernende
Um die schulischen Bedingungen für neurodivergente Lernende zu verbessern, sind folgende neun Forderungen wegweisend:
Lehrkräftebildung und Sensibilisierung
Lehrkräfte sollten in der Anerkennung und Wertschätzung von Neurodiversität geschult werden. Fortbildungsangebote zu inklusiven Lehrmethoden und den spezifischen Bedürfnissen neurodivergenter Schüler*innen können dazu beitragen, ein besseres Verständnis für deren Stärken und Herausforderungen zu entwickeln.
Differenzierte Lehrmethoden
Durch die Implementierung verschiedener Lehrmethoden, die sowohl visuelle, auditive als auch kinästhetische Lernstile berücksichtigen, können alle Schüler*innen besser erreicht werden.
Unterstützung durch Technologien
Die Integration moderner Technologien und digitaler Lernmittel kann neurodivergenten Lernenden helfen, ihre Lernprozesse zu optimieren. Tools, die auf persönliche Bedürfnisse zugeschnitten sind, bieten den Lernenden die Möglichkeit, ihr Lernen selbstbestimmt zu gestalten.
Förderung von Resilienz und emotionaler Intelligenz
Schulische Programme zur Förderung der sozialen und emotionalen Resilienz von neurodivergenten Schüler*innen sind von zentraler Bedeutung. Diese Programme können ihnen helfen, mit Herausforderungen besser umzugehen und ein starkes Selbstwertgefühl zu entwickeln.
Individuelle Lernpläne
Die Erstellung individueller Lernpläne für neurodivergente Lernende ist unerlässlich, um deren spezifische Stärken und Bedürfnisse zu berücksichtigen. Diese Pläne sollten regelmäßig überprüft und angepasst werden.
Peer-Mentoring-Programme
Die Implementierung von Peer-Mentoring-Programmen kann neurodivergenten Lernenden helfen, sich im Miteinander und im Lernen besser zurechtzufinden. Mentor*innen können wertvolle Unterstützung bieten und den Austausch fördern.
Zusammenarbeit mit Eltern und Fachleuten
Eine enge Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften, Eltern und Fachleuten ist entscheidend, um eine ganzheitliche Förderung neurodivergenter Lernender sicherzustellen. Regelmäßige Gespräche und Austausch sind notwendig, um den Bedürfnissen der Schüler*innen gerecht zu werden.
Anpassung der schulischen Infrastruktur
Die schulische Infrastruktur sollte so gestaltet werden, dass sie den Bedürfnissen neurodivergenter Lernender entgegenkommt. Dazu gehört die Schaffung von Rückzugsorten, Ruhebereichen und flexiblen Lernumgebungen.
Sensibilisierung der Schulgemeinschaft
Programme zur Sensibilisierung und Aufklärung über Neurodiversität in der Schulgemeinschaft können dazu beitragen, Mobbing und Stigmatisierung zu reduzieren und ein respektvolles Miteinander zu fördern.
Fazit: Die Vision einer inklusiven Bildung
Die Förderung neurodivergenter Lernender erfordert ein Umdenken im Bildungssystem. Durch die Anerkennung der individuellen Stärken und die Überwindung systematischer Hürden kann eine inklusive und unterstützende Lernumgebung geschaffen werden. Gezielte Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen – von der Aufklärung über die Anpassung der Lernmethoden bis hin zur Schaffung eines flexiblen Curriculums – sind unerlässlich, um allen Schüler*innen, unabhängig von ihren neurologischen Bedingungen, die bestmöglichen Voraussetzungen für ihren Lernerfolg zu bieten.
Mehr zum Thema:
Thomas Armstrong: www.institute4learning.com
Paul Ellis: https://paul-ellis.net
Karina und Svenka Kahl: www.menschenbildung.de
Julia Thurner: www.instagram.com/mrs_thurner/?hl=de
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2024/4