Bereits 1969 wusste man: Begabung ist entwickelbar.
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Begabung ist dynamisch
und keine statische Größe
Christa Lohmann
Mit Heinrich Roth wurde die Bildungsforschung revolutioniert, weg von der Vorstellung der ererbten Begabung, hin zu der Forderung, Begabung zu entwickeln; weg von dem genetisch dummen Kind hin zu einem Unterricht, der die Talente und Fähigkeiten aller Lernenden entdeckt und fördert.
Die Forschung entdeckt einen neuen Begriff des Lernens
Die 68er waren der Beginn bildungs- und schulpolitischer Reformen. Der Deutsche Bildungsrat, 1965 von Bund und Ländern gegründet, fungierte 1966–75 als Kommission für Bildungsplanung. „[Diese] hielt es für angemessen, einen Ausschuss von wissenschaftlichen Sachverständigen einzurichten, der das Problem der Begabung, Begabungsförderung und Begabungsauslese“ nach dem Stand der gegenwärtigen Forschung darstellt“1 (S. 17). Entstanden ist daraus das Gutachten Begabung und Lernen2. Die 16 Wissenschaftler in dem von Heinrich Roth herausgegebenen Band waren sich einig, dass Pauschalbegriffe wie Begabung oder Intelligenz keine entscheidende Rolle mehr spielen. Der Zentralbegriff wird der Lernbegriff, ein neuer Begriff des Lernens, ausdifferenziert in Lernfähigkeit, Lernprozess, Lernerfahrungen, Lernzuwachs, Lernleistungen sowie deren Steuerung und Steigerung. Lernleistungen, so der Ausschuss, sind von weit mehr und auch von weit bedeutsameren Bedingungsfaktoren abhängig als nur von dem Faktor Begabung im Sinne einer erblich eindeutigen Anlage. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die verschiedenen Faktoren, die eine Lernleistung beeinflussen, dann eine besonders günstige, lernfördernde Wirksamkeit haben, wenn sie zusammenwirken und sich gegenseitig unterstützen (S. 22).
Welche Bedingungsfaktoren sind für Lernleistungen verantwortlich?
Der Ausschuss entwickelte demzufolge eine Untersuchungsstrategie, nach der die verschiedenen Sachverständigen in ihren jeweiligen Gutachten – 14 an der Zahl – eindeutig und präzise darlegen sollten, „welche Persönlichkeits- oder Umweltvariable als Bedingungsfaktoren für das Zustandekommen von Lernleistung gemeint ist“ (S. 19). Im Einzelnen wurden untersucht:
- der biogenetische Anteil, d. h. die Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit der Lernleistungen (Begabung) von erbbestimmten Anlagen,
- der entwicklungspsychologische Anteil, d. h. die Abhängigkeit bzw. die Unabhängigkeit der Lernleistungen von endogenen Reifeprozessen, die Bedeutung altersspezifischer Lernbereitschaften und die Rolle sachstrukturell bedingter Sequenzen im Lernprozess,
- der Anteil der Leistungsmotivation, d. h. die Abhängigkeit der Lernleistungen von der Lernmotivation, von der Anstrengungsbereitschaft zu lernen,
- die Abhängigkeit dessen, was wir Begabung nennen, von transferfördernden Lernprinzipien, deren Anwendung in Lehrverfahren den Lernenden befähigt, auch die höchste intellektuelle Leistungsfähigkeit, das Problemlösen, zu erlernen,
- der Anteil der Lernangebote in der frühen Umwelt, d. h. die Abhängigkeit der Lernleistungen von den Lernangeboten und Lernerfahrungen in der Familie, wie sie in Sozialisationstheorien enthalten sind,
- der Anteil der sprachlichen Anregungs- und Lernangebote in der frühen Umwelt, d. h. die Abhängigkeit von der schichtspezifischen Unterschiedlichkeit des kulturellen Milieus der Elternhäuser,
- der Anteil der Bildungswilligkeit der Eltern, ihre Einstellung zu Schule, Schulleistung, Schulerfolg,
- die Frage der begabungsgerechten Auslese während der Schulzeit,
- die Frage, inwieweit das Lehrerurteil in Zeugnissen, Noten etc. den Lernleistungen gerecht wird – die Frage nach der Objektivität,
- die Frage nach der Zuverlässigkeit der Abiturnoten als Voraussage für die Studierfähigkeit.
- Schließlich sollte untersucht werden, inwieweit Schulorganisation, Lehrpläne, Lehrverfahren, Lehrerverhalten und Lernmittel auf die Entwicklung von Begabungen und die Steigerung von Lernleistungen Einfluss nehmen (S. 20f.).
Lernleistungen verbessern heißt, die Effizienz des ganzen Erziehungsfeldes zu erhöhen
Im Abschlusskapitel seiner Einleitung hält Roth als durchgängigen Erkenntnisgewinn aller Gutachten die erkannte und erforschte Vielfalt von Bedingungsfaktoren fest, die an der Effektivität von Lern- und Lehrprozessen beteiligt sind. Einseitige Aussagen über eine einzige Variable halten keiner ernsthaften Kritik stand. „Man darf also, wenn man von Begabung spricht, nicht an eine isolierte und statische Größe denken, die es als solche nicht gibt, sondern an eine dynamische Veränderliche in einem Netz von Bezugsgrößen, die alle mitentscheiden, ob Potentialitäten entwickelt oder nicht entwickelt werden. Wer die Lernfähigkeiten und Lernleistungen in einem Schulwesen verbessern will, muß versuchen, die Wirksamkeit aller Faktoren, die Effizienz des ganzen Erziehungsfeldes, zu erhöhen“ (S. 65).
Roths Forschungen haben die Pädagogik der Gesamtschule stark befruchtet
Unabhängig von der Neudefinition, was Begabung ist bzw. nicht ist, weisen die einzelnen Themen der wissenschaftlichen Untersuchungen weit in die spätere Arbeit und Entwicklung der Gesamtschulen hinein, für die es zeitgleich mit Begabung und Lernen die ersten Schulversuche gab. Z. B. die Bedeutung der Motivation, die frühkindliche Erziehung, die Rolle der Familie, die schichtspezifisch unterschiedlichen Herkunftsmilieus der Kinder, die Problematik des Lehrerurteils und vor allem der Zusammenhang der gesamten Schulorganisation auf Lernen und Lernleistung.
Auch wenn der Begriff nicht fällt, weist Roth bereits zu diesem Zeitpunkt auf die Bedeutung von Individualisierung hin, wenn er effektives Lernen dadurch gelingen sieht, dass jeder nach seinen Neigungen, Erfolgen und Fortschritten Schwerpunkte bilden darf, dass Neigungsgruppen gebildet werden und dass man Lehrgänge schneller durchlaufen darf. Und er vergisst nicht darauf hinzuweisen, dass Lehrer so ausgebildet sein müssen, dass sie dergleichen Anforderungen gerecht werden (S. 67).
1 Deutscher Bildungsrat. Gutachten und Studien der Bildungskommission, 4. Begabung und Lernen. Stuttgart 1969
2 Bis 1970 lagen u. a. auch die Gutachten zur Ganztagsschule und Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen vor.
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2024/4