Wohlbefinden in der Schule ist mehr als ein „nice to have“, vielmehr unerlässlich für Lernprozesse.
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Wohlfühlort Schule – nur ein „nice to have“?
Britta Klopsch & Antonia Deckstein
Einleitung
Wohlbefinden an Schulen fördern – das mag zunächst vielmehr nach einer unverbindlichen Option als nach einer Notwendigkeit klingen. Nach dem Sprichwort: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ könnte man hinsichtlich der allseits bekannten PISA-Ergebnisse von 2022 gar empörte Blicke ernten, schließlich erfordern die Umstände Handlungsbedarf hinsichtlich eines stärkeren Wissens- und Kompetenzerwerbs. Stellschrauben wie flexiblere Förderstrukturen, Investitionen in Lehrkräftefortbildungen, datengestützte Schulentwicklung, Einbindung von KI, Ko-Konstruktion und vor allem auch Maßnahmen zur Chancengerechtigkeit sind unumstritten wichtige und notwendige Aspekte, um zeitgemäße Bildung zu ermöglichen.
Doch auch „[d]ie Gesundheit und das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen [sind] globale Priorität“ (OECD, 2019, S. 77). Sie können Einfluss auf Lernprozesse nehmen (Sliwka & Klopsch, 2024) und sollten deshalb aktiv gefördert werden (Europäische Union, 2024, S. 9; OECD, 2019, S. 30; S. 51).
Wohlbefinden in der Schule
Nicht nur international (Andresen & Neumann, 2018; OECD, 2017; UNICEF, 2021) gewinnt Wohlbefinden (Wellbeing) als Teil des schulischen Bildungsauftrags zunehmend an Bedeutung. Auch deutsche Bundesländer beginnen Wohlbefinden als eines der Ziele ihrer Schulsysteme zu fokussieren (Kultusministerium SH, 2025). Wohlbefinden rückt damit in Verbindung mit der Persönlichkeitsentwicklung neben der Chancengerechtigkeit und der Leistungsorientierung als eine tragende Säule eines erfolgreichen Schulsystems in den Mittelpunkt der Schul(system)entwicklung (Sliwka & Klopsch, 2024).
Das komplexe normative Konzept des Wohlbefindens ist dabei Bildungsziel und Gestaltungselement zugleich (Sliwka, Klopsch & Batarilo-Henschen, 2022). Als Gestaltungselement beschreibt es, dass Kinder und Jugendliche möglichst unbelastet, angstfrei und ohne psychische Beeinträchtigung lernen können. Als Bildungsziel unterstützt es die Lernenden, sich die Kompetenz anzueignen, sinnstiftend zu handeln, ihr eigenes Wohlbefinden und das ihrer Mitmenschen aktiv zu gestalten (Hargreaves & Shirley, 2018).
Wohlbefinden trägt dazu bei, dass alle Lernenden ihr Potenzial voll ausschöpfen können – in kognitiver, emotionaler und sozialer Hinsicht (European Commission, 2024). Wie wichtig es ist, Wohlbefinden aktiv zu berücksichtigen, zeigen die Umfragen des Schulbarometers (Robert Bosch Stiftung, 2024a; Robert Bosch Stiftung, 2024b) sowie des Präventionsradars (Hansen, Neumann & Hanewinkel, 2023):
- 20% der Schüler:innen schätzen ihr schulisches Wohlbefinden als gering ein, darunter besonders Lernende, die psychische Auffälligkeiten zeigen.
- 46% der befragten Kinder und Jugendlichen litten mindestens wöchentlich an zwei von fünf (psycho-) somatischen Beschwerden. Besonders ein niedriger Sozialstatus ist dabei korrelierend. Zudem betreffen die Beschwerden zu einem größeren Anteil Mädchen.
- Über die Hälfte befragter Schüler:innen litten im Erhebungsjahr 2023/2024 mindestens einmal pro Woche an Erschöpfung.
- Das mentale Wohlergehen von Mädchen ist nahezu ausnahmslos geringer als das der Jungen; weitere signifikante Gruppen sind Schüler:innen aus armutsgefährdeten Haushalten und psychisch auffällige Kinder und Jugendliche.
Wie kann Schule zu einem Ort des Wohlfühlens werden?
Um Schulen zu einem Ort des Wohlfühlens zu transformieren, ist zunächst eine systemische Betrachtung notwendig. Sie beginnt mit der gemeinsamen Vision aller am Schulleben Beteiligten, gemeinsam einen Wohlfühlort Schule entstehen zu lassen, in dem alle Schüler:innen ihr volles Potenzial ausschöpfen können.
Die Maßnahmen, die gemeinsam ergriffen werden können, um einen solchen Wohlfühlort Realität werden zu lassen, können sich auf die folgenden acht Perspektiven beziehen. Sie können nicht nur als zusätzliche Angebote, sondern auch als genuiner Teil des Unterrichts angelegt sein.
1. Psychische Gesundheit
Um die psychische Gesundheit der Lernenden im Blick zu behalten, kann es sinnvoll sein, sich mit der Resilienz der Lernenden auseinanderzusetzen. Resilienz beschreibt Flexibilitätskompetenz. Sie trägt dazu bei, auch in schwierigen (Lebens-)Situationen auf eigene Ressourcen zuzugreifen, Herausforderungen zu meistern und daraus gestärkt hervorzugehen (Bengel & Lyssenko, 2012). Teil dessen ist eine schöpferische Haltung zur Welt, die dazu beiträgt, unterschiedliche Situationen als Lerngelegenheiten wahrzunehmen, neue Handlungsweisen und Methoden zu erproben und Veränderungen für die Gesellschaft herbeizuführen (Klopsch & Adams, 2024).
2. Sport- und Bewegungsangebote
Spiel, Sport und Bewegung leisten einen hohen Beitrag zur physischen, psychischen und sozialen Gesundheit von Lernenden: Schüler:innen, die sportlich aktiv sind, benennen eine allgemein höhere Lebenszufriedenheit (OECD, 2017, S. 5). Je mehr Sport die Lernenden bereits in der Schule ausüben, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie dies auch in ihre Freizeit übertragen. Das wiederum wirkt nicht nur langfristig gesundheitsfördernd, sondern trägt unter anderem auch zur Resilienz, zur sozialen Integration, zum Selbstvertrauen sowie zum Wohlbefinden der Lernenden bei und kann sogar die Angst vor Schularbeiten vermindern (DSLV, 2019, S. 2f.; OECD, 2017, S. 3; S. 5). Gerade in Hinblick auf Ganztagsschulen oder auch dem Ausbau von Digitalisierungsprozessen wirken vielschichtige Bewegungsangebote dem zunehmenden Bewegungsmangel entgegen. Eine „bewegungsfördernde Schule“ (Kultusministerkonferenz, 2023) legt die physische Gesundheit ihrer Schüler:innen nicht allein in die Hände des Sportunterrichts: bewegte Pausen, AGs, Exkursionen, Veranstaltungen, spielerische Wettbewerbe und Kooperationen mit Vereinen sind in den Schulprogrammen und Leitbildern fest verankert (Kultusministerkonferenz 2023).
3. Positives Schulklima
Das Schulklima, wie auch die Schulkultur, beschreibt das gemeinsame (Er-)Leben von Schule durch alle Beteiligten. Es unterstützt die „kontinuierliche individuelle und kollektive Identitätsbildung“ (Klopsch, 2019). Um das Schulklima positiv zu beeinflussen, eignen sich beispielsweise Anti-Mobbing-Strategien und soziale Projekte, die den Lernenden einerseits ein Gemeinschaftsgefühl vermitteln. Andererseits ermöglichen sie den Lernenden, Facetten ihrer individuellen Persönlichkeit, bspw. Interessen, Wünsche und Handlungen in den Lernprozess einzubringen – gemeinsam mit anderen und in Abgrenzung zu ihnen. Dabei finden sie heraus, wer sie sind und welchen Beitrag sie in der Gesellschaft und für diese leisten möchten (Klopsch & Adams, 2024).
4. Lernförderliche Raumkonzepte
Die Nutzung eines Schulgebäudes ist in der Regel auf viele Jahrzehnte und Generationen von Lernenden ausgelegt, doch die Anforderungen an zeitgemäße Bildung wandeln sich rasch. Um einen lebensweltnahen und facettenreichen Lern- und Erfahrungsraum zu erschaffen, müssen Schulen sich physisch und digital nach außen hin öffnen (Sliwka & Klopsch, 2022, S. 174f.). Kommunikation, Kollaboration, Kreativität, kritisches Denken (4K), der Erwerb von Handlungskompetenz, nicht zuletzt hybride und auch bewegungsfördernde Konzepte erfordern Raumstrukturen, die diese Aktivitäten nicht nur zulassen, sondern die Schüler:innen auch aktiv dazu anregen. Dabei muss nicht gleich die ganze Schule um- oder neugebaut werden. Bereits kleinere Maßnahmen, wie Phasen der freien Arbeitsplatzwahl, offene Lernlandschaften im Klassenzimmer, flexible Anpassung des beweglichen Inventars oder das Ausschöpfen außerschulischer Lernorte können große Wirkung erzielen.
5. Eltern- und Gemeindeeinbindung
In der Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften, Lernenden, Eltern und Bildungspartner:innen können Netzwerke entstehen, innerhalb derer und durch die die Beteiligten ihr Wissen erweitern, sich gegenseitig unterstützen und Lösungen für Herausforderungen entwickeln (Sliwka & Klopsch, 2024). Doch nicht nur bei Herausforderungen, auch im alltäglichen Miteinander können alle Beteiligten das Schulleben gemeinsam anreichern, um einen gemeinsamen Wohlfühlort entstehen zu lassen. Dazu zählen auch Facetten wie Eltern-Lehrkräfte-Tandems zur Unterstützung des Lernens, gemeinsame Workshops für die am Schulleben Beteiligten, eine Schüler:innenzeitschrift oder die gemeinsame Gestaltung der Homepage.
6. Regelmäßige Befragungen
Wenn Schulen den Bereich des Wohlbefindens in ihre regelmäßigen Befragungen und Datenerhebungen einbeziehen, ermöglicht dies einen detaillierten Blick auf das Wohlbefinden aller am Schulleben Beteiligten – vom (pädagogischen) Personal bis hin zu den einzelnen Lernenden (Sliwka & Klopsch, 2024). Die zentral erfassten Daten können schriftlich oder mündlich erhoben werden. Sie dienen als Gesprächsgrundlage, um gemeinsam mögliche Verbesserungen an der Schule zu entwickeln und messbar in ihrer Implementierung zu evaluieren.
7. Sozial-emotionale Förderung
Sozial-emotionale Förderung kann durch die Stärkung der Selbstwirksamkeitserfahrung erfolgen, wie sie bspw. in Deeper Learning Projekten angelegt ist (Sliwka & Klopsch, 2022). Die Selbstwirksamkeitserfahrung ist einer der wichtigsten Einflussfaktoren auf das menschliche Handeln: „Motivation, Gefühle und [Lern-]Handlungen von Menschen resultieren in stärkerem Maße daraus, woran sie glauben oder wovon sie überzeugt sind, und weniger daraus, was objektiv der Fall ist“ (Bandura 1977, S. 71). Je größer die Überzeugung ist, desto größer auch die Zuversicht, Ziele selbst erreichen und Situationen lenken zu können, was wiederum positiv auf die Anstrengungsbereitschaft der jeweiligen Person einzahlt.
8. Demokratische Kompetenzen
Demokratie entsteht durch Partizipation. In Schulen kann diese durch Strukturen, wie den Klassenrat oder die Schülerverwaltung angelegt sein, zeigt sich aber auch in weiteren Projekten und Programmen, wie bspw. das Lernen durch Engagement, bei dem sich die Lernenden explizit im Bewusstsein ihrer eigenen Talente einbringen können, selbst Teilschritte im Projekt entwickeln und durchführen (Klopsch & Sliwka 2019, S. 93).
Fazit
Die Förderung von Wohlbefinden an Schulen ist kein optionaler Zusatz oder eine Kür. Sie ist ein notwendiges Puzzlestück der ganzheitlichen, zukunftsfähigen Schul(system)entwicklung und gleichzeitig Schlüssel zum Lern- und Lebenserfolg der Schüler:innen. Die einzelnen Perspektiven im schulischen Alltag, die Wohlbefinden unterstützen, sollten dabei nicht isoliert und punktuell eingesetzt werden, sondern systemisch verstanden und ineinandergreifend implementiert werden, um umfassend wirksam zu sein. Nur wenn alle gemeinsam an einem Wohlfühlort Schule arbeiten – Lehrkräfte, Schulleitungen, Bildungspartner:innen und die Lernenden selbst – kann sich aus einer Vision die gelebte Realität entwickeln.
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2