Den Menschen zu sehen und nicht die Herkunft, gemeinsame Werte zu vertreten und vorzuleben sind die Herausforderungen.
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Interkulturalität an deutschen Schulen
Zwischen großer Chance und echter Herausforderung
Ahmad Mansour
Deutsche Schulen sind längst zu Orten gelebter kultureller Vielfalt geworden. In den Klassenzimmern begegnen sich täglich Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Biografien, Sprachen, Wertesystemen und religiösen Prägungen. Diese Diversität birgt enormes Potenzial – sie stellt aber auch komplexe Anforderungen an das gesamte Bildungssystem.
Integration darf nicht ausschließlich auf Sprachförderung und schulischen Erfolg reduziert werden. Sie umfasst ebenso die Verinnerlichung gemeinsamer Grundwerte und die Entwicklung eines inklusiven Wir-Gefühls. Erst wenn Zugehörigkeit emotional erfahrbar wird, kann gesellschaftlicher Zusammenhalt entstehen.
Integration ist kein Selbstläufer. Die Voraussetzung für eine gelungene Integration ist die Bereitstellung von Ressourcen, die Sprachförderung, Wertevermittlung, eine sinnvolle Durchmischung an den Schulen, einen regelmäßigen Austausch mit Eltern und Kindern und eine gesunde Debattenkultur ermöglichen.
Den Menschen sehen – nicht die Herkunft
Lehrkräfte müssen ihre Schülerinnen und Schüler als Individuen wahrnehmen – nicht als Vertreter einer ethnischen, religiösen oder nationalen Gruppe. Im Klassenzimmer sitzen keine „Türken“, „Araber“, „Flüchtlinge“ oder „Ausländer“, sondern junge Menschen mit eigenen Persönlichkeiten, Erfahrungen und Träumen.
Natürlich prägen Herkunft, Sozialisation und kulturelles Umfeld das Denken und Verhalten – aber sie dürfen nicht zur Schablone werden. Interkulturelle Kompetenz beginnt mit der Bereitschaft, differenziert hinzuschauen, zuzuhören und Vorurteile bewusst abzubauen.
Werte als verbindende Grundlage
Interkulturelle Öffnung gelingt nur auf der Basis klarer, universeller Werte: Respekt, Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit und die Achtung der Würde jedes Einzelnen sind nicht verhandelbar. Diese Werte müssen von allen getragen werden – unabhängig von kultureller Prägung. Ohne sie kann Vielfalt nicht tragfähig gelebt werden.
Begegnung ermöglicht Wandel
Aus sozialpsychologischer Sicht ist klar: Der effektivste Weg, Vorurteile abzubauen, ist die echte, kontinuierliche Begegnung. Wenn Menschen gemeinsam lernen, arbeiten und lachen, schwindet die Distanz – der „Fremde“ wird zur Mitschülerin, zum Freund, zur Verbündeten.
Schulen brauchen deshalb bewusst gestaltete Räume, in denen Unterschiede nicht verschwiegen, sondern in einem Klima des Respekts thematisiert werden können. Interkulturalität lebt vom Dialog, nicht vom Nebeneinander.
Empathie fördern – emotionale Kompetenz als Bildungsziel
In einer Zeit, in der digitale Kommunikation direkte zwischenmenschliche Erfahrungen zunehmend ersetzt, gewinnt Empathie als Bildungsziel zentrale Bedeutung. Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, aktiv zuzuhören und mitzufühlen, ist ein Grundpfeiler demokratischer Gesellschaften.
Schulen müssen Orte sein, an denen emotionale Sicherheit erlebt werden kann – denn Empathie ist der Schlüssel zu sozialer Kompetenz, Konfliktfähigkeit und Frieden in der Vielfalt.
Sicherheit durch Klarheit – nicht durch Kontrolle
Viele Konflikte im interkulturellen Kontext entstehen nicht nur aus mangelnder Bereitschaft, kulturelle Unterschiede zu akzeptieren oder ihnen mit Neugier und Lernbereitschaft zu begegnen. Sie entstehen auch durch wahrgenommene Unsicherheit auf Seiten der Lehrkräfte. Wer zögert oder unklar kommuniziert, wirkt orientierungslos – und verliert damit Autorität und Wirksamkeit.
Diese Unsicherheit bleibt nicht folgenlos: Sie wird mitunter gezielt genutzt, um im schulischen Kontext Normen und Verhaltensweisen durchzusetzen, die nicht zur interkulturellen Offenheit und Vielfalt beitragen, sondern darauf abzielen, die Bedürfnisse einzelner Gruppen mit einem überhöhten Anspruchsdenken allen anderen aufzuzwingen. Hier ist Wachsamkeit gefragt – nicht im Sinne von Kontrolle, sondern im Sinne von pädagogischer Klarheit und wertebasierter Führung.
Lehrkräfte müssen befähigt werden, mit kulturellen Unterschieden souverän umzugehen – nicht, indem sie Unterschiede relativieren, sondern indem sie ihre eigene Haltung kennen und kommunizieren. Interkulturelle Kompetenz bedeutet: klare Regeln, transparente Kommunikation und der Mut, auch bei sensiblen Themen Standpunkte zu vertreten – stets mit Respekt, aber ohne Beliebigkeit.
Debattenkultur als demokratisches Lernfeld
Ein zentrales Bildungsziel im 21. Jahrhundert ist die Fähigkeit zur Ambiguitätstoleranz – also zur Akzeptanz von Mehrdeutigkeit, Vielfalt und Widerspruch. Diese Kompetenz entsteht nicht durch Harmonie, sondern durch Streitkultur.
Schulen müssen Debattenräume sein: Orte, an denen Meinungen formuliert, Perspektiven ausgehalten und Konflikte konstruktiv ausgetragen werden können. Nur so lernen junge Menschen, Vielfalt als Stärke zu begreifen – nicht als Bedrohung.
Antidiskriminierung, Vielfalt und interkulturelles Verständnis entstehen nicht durch schweigendes Nebeneinander, sondern durch aktives Miteinander: durch das Aushalten von Differenzen, das Aushandeln von Kompromissen – und durch gemeinsame, tragfähige Werte.
Fazit: Interkulturelle Kompetenz braucht Haltung und Herz
Interkulturelle Kompetenz ist kein dekoratives Extra. Sie ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass unsere Schulen zu Orten des sozialen Zusammenhalts werden.
Sie verlangt von allen Beteiligten – Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern, Eltern, Behörden und politischen Entscheidungsträgern – eine klare Haltung und echtes Engagement.
Zentrale Voraussetzungen hierfür sind:
- Den Menschen zu sehen, nicht die Herkunft,
- gemeinsame Werte zu vertreten und vorzuleben,
- Räume für echte Begegnung und Dialog zu schaffen,
- Verunsicherung durch innere Klarheit zu überwinden,
- Empathie und Debattenkultur als Grundlagen demokratischen Zusammenlebens zu fördern.
Wenn wir diesen Weg mutig und konsequent gehen, wird kulturelle Vielfalt nicht zu einer Belastung, sondern zur Stärke unserer Gesellschaft. Dann wächst in unseren Schulen eine Generation heran, die selbstbewusst, kritisch, empathisch und frei in einer pluralistischen Welt lebt.
Daran müssen wir arbeiten – jeden Tag, mit Haltung und mit Herz.
Hinweis auf Publikationen von Ahmad Mansour
2015 erschien sein Buch »Generation Allah". Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen«,
2018 folgte »Klartext zur Integration – Gegen falsche Toleranz und Panikmache« und
2020 »Solidarisch Sein! Gegen Rassismus, Antisemitismus und Hass«.
2022 erschien im Verlag S. Fischer sein viertes Buch »Operation Allah" und
2024 die gemeinsam mit Dr. Josef Schuster verfasste Publikation
»Spannungsfelder. Leben in Deutschland« im Herder Verlag.
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2