Beeindruckt von Otto Herz: ein tiefbewegendes Plädoyer für Mitmenschlichkeit in der Schule
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Gedanken zu einer Schule als liebenswerter Ort
Im Gedenken an Otto Herz
Tim Wiegelmann
„In Diktaturen werden die Menschen abgerichtet, in Demokraturen werden sie unterrichtet, in wahrhaft freien und sich befreienden Gesellschaften ist Schluss mit dem Abrichten und Schluss mit dem Unterrichten; dort werden die Menschen aufgerichtet!“ (1)
Otto Herz ist für mich deshalb so ein Vorbild, weil er in meinen Augen wie niemand anderes für die Botschaft stand, dass es ohne eine humane Schule keine humane Welt geben kann und geben wird.
Was mich an ihm besonders faszinierte, ist die Tatsache, dass er neben seinem Einsatz für das große Ganze nie aufgehört hat, ein komplett anderes Schulsystem zu fordern. Dafür setze er sich am intensivsten ein. Er brachte dies auf die einfache Formel: „Sag mir, welche Schule du willst und ich sage dir, welche Gesellschaft du bekommst.“ (2)
Er zitierte in diesem Zusammenhang den zutiefst erdrückenden Text des israelischen Psychologen Haim G. Ginot mit dem Titel „Liebe Lehrer“: „Ich bin ein Überlebender eines Konzentrationslagers. Meine Augen haben gesehen, was niemand je sehen sollte. Gaskammern, gebaut von gelernten Ingenieuren. Kinder, vergiftet von ausgebildeten Ärzten. Säuglinge, getötet von geschulten Krankenschwestern. Frauen und Babys, erschossen und verbrannt von Hochschulabsolventen. Deshalb bin ich misstrauisch gegenüber Erziehung. Meine Forderung ist, dass Lehrer ihren Schülern helfen, menschlich zu werden. Ihre Anstrengungen dürfen niemals führen zu gelernten Ungeheuern, ausgebildeten Psychopathen, studierten Eichmanns. Lesen, Schreiben und Rechnen sind nur wichtig, wenn sie dazu dienen, unsere Kinder menschlicher werden zu lassen.“ (3) Einen Spruch ließ er auf eine Postkarte drucken und verteilte ihn bei jeder Gelegenheit an Pädagog*innen:
„Wir sind nicht dazu da, Menschen an vorgegebene Systeme anzupassen. Unser Beruf, unsere Berufung ist es, für die – und vor allem mit den – Menschen Systeme so zu gestalten, dass sie sich in ihnen wohlfühlen, sie als ihre eigenen erfahren und in ihnen und dank ihrer Lebens-Kompetenz und Lebens-Sinn erfahren.“ (4)
Wenn Pädagog*innen Kinder und Jugendliche unterstützen würden, die Vision eines stärkenden und sinnstiftenden Lebensumfeldes zu entwickeln und dieses gemeinsam mit allen und im Sinne aller zu gestalten, wäre eine lebenswerte Welt vielleicht nicht so fern, wie sie heute erscheint.
Es ist doch im Grunde ganz einfach: Um liebevoll mit dieser Welt, mit anderen Menschen, mit der Vielfalt des Lebendigen umzugehen, muss ich sie zuerst als liebenswert erleben. Und was für ein Ort könnte sich besser eignen, um die Welt als liebenswert zu erleben, als der Ort, mit dem alle Kinder in der prägendsten Phase ihres Lebens in Berührung kommen?
Im Mittelpunkt der Ethik von Albert Schweitzer steht die Erkenntnis: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ (5) Sein Grundsatz: „Ehrfurcht vor dem Leben“ hat für mich eine besondere Bedeutung. Das Wort „Ehrfurcht“, so altmodisch wie es in manchen Ohren klingen mag, trägt für mich eine ganz besondere Schönheit in sich, denn die Furcht bezieht sich nicht auf das, was ich ehre, sondern auf meinen Gedanken, es nach meinen Vorstellungen verändern zu wollen und ihm dadurch seine Einzigartigkeit und seine Schönheit zu nehmen. der Grundsatz „Ehrfurcht vor dem Leben!“ (6) von Albert Schweitzer steht in schulischen Lehrplänen für Ethik und Religionslehre. (7)
Ich möchte natürlich nie irgendjemand etwas unterstellen. Ich weiß, dass alle an der Schule Beteiligten nur die besten Absichten haben. Doch ich frage mich schon, ob die Verantwortlichen für diese Lehrpläne daran gedacht haben, dass diese Ehrfurcht vor dem Leben auch eine Ehrfurcht vor den unvorstellbaren Potentialen eines jeden Kindes bedeuten müsste.
Ich möchte mit einem Satz des Soziologen Hartmut Rosa enden: „Demokratie bedarf eines hörenden Herzens, sonst funktioniert sie nicht.“ (8) Was für ein Ort könnte sich besser eignen, um ein „hörendes Herz“ zu bilden, als der Ort, an dem alle Kinder und Jugendlichen in der prägendsten Phase ihres Lebens in Berührung kommen? Dieser zentrale Lern- und Lebensraum sollte optimale Bedingungen schaffen, um ein „hörendes Herz“ zu bilden. Daraus würde folgen, dass Bildung vor allem zwei Hoffnungen schenken muss. Wir alle sind zu klein für die Welt. Niemand reicht sich selbst. Deswegen brauchen wir alle ein hörendes Herz. Die erste Hoffnung, die mir Bildung schenken muss, ist, dass ich darauf vertrauen kann, auf ein „hörendes Herz“ zu treffen, wenn ich zu klein für die Welt bin. Für mich hat diese Aussage eine besondere Brisanz, weil ich aufgrund meiner Körperbehinderung buchstäblich zu klein für die Welt bin. Ich brauche jeden Tag so viel Hilfe. Aber das ist nicht schlimm, wenn ich die Welt als einen Ort kennenlerne, an dem ich immer darauf hoffen darf, auf ein „hörendes Herz“ zu treffen. Die zweite zentrale Hoffnung, die mir Bildung schenken muss, ist, dass ich, wenn ich merke, dass andere zu klein für die Welt sind, genug Vertrauen und Hoffnung habe, ein „hörendes Herz“ für sie sein zu können.
Dass ich immer darauf vertrauen kann, auf ein „hörendes Herz“ zu treffen, wenn ich zu klein für die Welt bin, und dass ich genug Vertrauen in mich selbst habe, mir zuzutrauen, ein „hörendes Herz“ für andere sein zu können, wenn sie zu klein für die Welt sind; das ist Demokratie. Davon bin ich fest überzeugt.
Tim Wiegelmann
Schule, gib mir die Kraft
Schule, gib mir die Kraft, nicht wegzuschauen, dort, wo das Leid der Welt sichtbar wird.
Lehre mich, das Unbequeme nicht zu meiden, sondern in der Verletzlichkeit der anderen meine eigene zu erkennen.
Hilf mir, die Wunden dieser Welt zu spüren, ohne in Resignation zu verfallen. Gib mir Mut, aus Mitgefühl zu handeln, selbst dann, wenn der Weg schwer ist.
Lass mich lernen, dass Verletzlichkeit keine Schwäche, sondern Stärke ist, dass die Welt nicht abseits von mir geschieht, sondern in mir und durch mich.
Zeige mir, dass ich ein Teil des Ganzen bin, und lehre mich, Verantwortung zu tragen – nicht aus Zwang, sondern aus Liebe zu dieser Welt und den Menschen darin.
Schule, sei ein Ort, der mich stark macht, für die Würde, für den Frieden.
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2