Einführungsvortrag zur Expertenrunde im Salzbrunnenhaus am 14.11.2012
Ich kam 1986 ins Saarland. Die ersten Gesamtschulen öffneten im August dieses Jahres ihre Tore. Daneben gab es Haupt- und Realschulen (und Gymnasium sowie Sonderschulen). In der Folgezeit wurden die Sekundarschule und die ERS eingeführt. Diese wurden mit Beginn dieses Schuljahres zusammen mit der Gesamtschule wieder abgeschafft. Der Bestand einer Schulform der Sekundarstufe I unterhalb des Gymnasiums und neben der Gesamtschule beträgt im Schnitt 8 Jahre.
Wie lange, glauben Sie, wird es die Gemeinschaftsschule geben?
Effektlose Reformiererei!?
Denn die Unterrichtsorganisation wie Stundenplan und der Unterricht selbst, die Schulgebäude – lange Flure und kleine Klassenräume für viele Jugendliche - Schulaufsicht und Steuerung durch Gesetz, Verordnung und Erlasse und vieles andere mehr sind mir aus meiner Schulzeit vor 50 Jahren noch wohl vertraut.
Tatsächliche Möglichkeit zur Veränderungen werden meine Kollegen vorstellen. Die Einführung des Schoolworking, die Mitarbeit von SozialpädagogInnen, auf die sie nicht zu sprechen kommen werden, halte ich darüber hinaus für die derzeit wichtigste Innovation.
Doch zu meinem Thema: Bildungsgerechtigkeit
- Die Verfassungsänderung vom 15.06.2011 besagt, dass das Gymansium Bestandsschutz erhält und dass im Saarland am 01.08.2012 die Gemeinschaftsschule eingerichtet wird. Diese führt zu allen Abschlüssen einschl. zur allgemeinen Hochschulreife (Art. 27. Abs. 3) nach 9 Schuljahren nach neun Jahren.
- Die Bertelsmann-Studie November 2012 stellt fest: In keinem anderen Bundesland verlassen anteilig so viele Schüler das Gymnasium vor Klasse zehn wie im Saarland: 1.3 Abschulungen pro Gymnasialklasse. Auf einen Aufsteiger kommen 4,6 Absteiger. Dem Gymnasium ist es egal in welche Schulform abgeschult wird.
- Der Hinweis, dass der Wechsel vom Gymnasium zu einer Gesamtschule kein Abstieg sei, da in beiden Schulformen die allgemeine Hochschulreife erworben werden kann, vernachlässigt die subjektive Betroffenheit der SchülerInnen und ihrer Eltern. Die von ihnen gewählte Schulform weist das Kind ab. Und für den Verbleib haben Eltern und SchülerInnen viel Zeit und Kraft und häufig auch viel Geld für Nachhilfe aufgewendet. - Die Kränkung bleibt.
- Das saarländische Schulsystem bleibt trotz dieser Reform der Sek.I selektiv: Schuleignungstest, Sitzenbleiben, Schulwahl nach dem 4. Schuljahr, verlassen der allg. bildenden Schule ohne Abschluss, unterschiedlichen Abschlüsse nach dem 9., 10., 12. und 13. Schuljahr – wobei der Hauptschulabschluss für viele SchülerInnen keinen Anschluss bietet – Abschulungen.
- Auch mit der Einführung der Gemeinschaftsschule bleibt das Dilemma: beanspruchte Elitebildung im Gymnasium einerseits und andererseits Gemeinschaftsschule mit Inklusionsauftrag Zynisch klingt die hin und wieder zu hörende Argumentation, dass das Gymnasium ja die Hochbegabten integriere.
- Dass dieses selektive System im internationalen Vergleich deutlich schlechter abschneidet als integrierte Systeme, ist spätestens seit der 1. PISA Studie 2000 bekannt und inzwischen Allgemeinwissen.
- Für Deutschland besonders schlimm ist die Tatsache, dass Bildungserfolg und soziale Herkunft eng verkoppelt sind. Ein Beispiel: Im Jahr 2006 beträgt der Anteil der GymnasiastInnen 41% der der Gesamtschülerschaft. In der zweithöchsten (von 4 Quartilen) Sozialschicht ist die Gymnasialquote 56%. Von den Mädchen, die aus dieser Schicht stammen, besuchen 76% eine Gymnasialklasse; hat ein Elternteil dieser Mädchen Abitur, sind es sage und schreibe 96%. Mehr geht nicht. -
Die Jungen der obersten Sozialschicht kommen demgegenüber auf nur mäßige 63%. Wir haben auch ein Gender-Problem.
Die Jugendlichen aus dem untersten Viertel stellen gerade mal 18%.
Es ist klar, dass diese Eltern und die sie vertretenen PolitikerInnen das Gymnasiumprivileg für sich erhalten wollen. - Von ihnen und auch allgemein wird die Gemeinschaftsschule als niederes Schulangebot angesehen. Das ist und bleibt das ungelöste Problem des deutschen Schulsystems.
Was tun? - Was tun!
Mit der Einführung der Gemeinschaftsschule besteht für alle Kinder und Jugendliche die Möglichkeit lange gemeinsam und erfolgreich zu lernen.
Die Gemeinschaftsschulverordnung bietet viele Chancen, diese Schulform zur besseren Alternative zu entwickeln:
- Gemeinsames Lernen im Klassenverband auch über das 6. Schuljahr hinaus wird möglich.
- Auf äußere Fachleistungsdiffenzierung oder Einteilung in Abschluss bezogene Klassen kann verzichtet werden und damit auf Auf- oder (vor allem) Abstufungen
- Selbstständiges und individuelles Lernen wird gefordert.
- Durchlässigkeit zwischen den Bildungsgängen – auch und vor allem zu besseren Schulabschlüssen wird dadurch ermöglicht.
- Ein hohes Maß an Selbstständigkeit der Schulen durch Entwicklung eines je spezifischen pädagogischen Konzeptes, dass m.E. als ein Ziel den Anspruch enthalten soll, dass der MBA zum Mindestabschluss wird und dass die Schule den Anschluss an weiterführende Bildung und Ausbildung sichert.
- Die Konzeptentwicklung ist Aufgabe von Eltern, LehrerInnen, SchülerInnen, SozialpädagogInnen und VertreterInnen der Kommune - also demokratisch und partizipativ.
Die Gemeinschaftsschule wird das Ziel, die bildungsgerechtere Alternative zu werden, nur dann realisieren können,
- wenn die personellen, finanziellen und sächlichen Ressourcen bereitgestellt werden, die für eine qualitativ wertvolle Bildung hinreichend sind; Kinder aus bildungsfernen Familien brauchen, da ihre Wege weiter sind, mehr Ressourcen! Da die sog. Bildungsrendite im Schulsystem bleiben soll, sollten diese diese Mittel vorhanden sein. Sie müssen dieser Aufgabe entsprechend eingesetzt werden.
- wenn die LehrerInnen so ausgebildet sind, dass sie qualitativ gutes Lernen ermöglichen können; d.h. im Mittelpunkt der Aus- und Fortbildung stehen die fachliche, soziale und personale Entwicklung derSchülerInnen und nicht vordringlich Fachqualifikation.
- wenn Sozialpädagogen und Schulpsychologen in der Schule arbeiten, die die SchülerInnen beim sozialen und personalen Lernen unterstützen;
- wenn die drei Professionen einem Bildungsbegriff verpflichtet sind, der die Qualität der Schule an dem Ausmaß praktizierter Gerechtigkeit misst und ihnen bei der Weltaneignung ernergisch hilft.
- wenn LehrerInnen und SozialpädagogInnen ihr Handlungs- und Methodenrepertoire ernsthaft und konsequent auf diese Ziele ausrichten.
- wenn Klassenrat und andere Einrichtungen die Mitbestimmungsmöglichkeiten erhöhen und helfen, dass die SchülerInnen Verantwortung für ihr Lernen und Leben in der Schule übernehmen.
- wenn die Gemeinschaftsschule eine inklusive wird – einschließlich der Hochbegabten.
- wenn individualisiertes und selbstorgansiertes Lernen unterstützt von Lerndiagnose und Förderung realisiert wird.
- wenn zügig Ganztagsschulen eingerichtet werden und um diese Ganztagsschule keine Zäune gezogen werden.
- wenn alle Beteiligten sich bewusst machen, dass Bildung und Erziehung zur Freiheit in einer Demokratie das Ziel sein muss. „Bildung ist Bürgerrecht“, forderte Sir Ralf Dahrendorf bereits in den 60er Jahren
Die Ausgangsfrage, ob durch die Einführung der Gemeinschaftschule das Schulsystem gerechter wird, hängt davon ab, ob die richtigen zielführenden Entscheidungen getroffen werden.
Ich bin überzeugt, dass sie einen erheblichen Beitrag dazu leisten kann, wenn die Beteiligten, insbesondere die Politik auf landes- und kommunaler Ebene dies konsequent anstreben.
Die Gesamtschulen im Saarland und in anderen Bundesländern haben den Weg dazu gewiesen.
Bevor ich mich für Ihre Aufmerksamkeit bedanke, noch zwei Fragen zum Namen Gemeinschaftsschule, den wir ernst nehmen sollten.
Gehören nur Kinder und Jugendliche, die diese Schule besuchen, zur Gemeinschaft?
Oder werden GymnasialschülerInnen für den Aufbau- und Ausbau einer Parallel- bzw. Zwei-Klassen-Gesellschaft separiert?