überregional
Bildungspolitik

 

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Ein Blick in die Bundesländer

Die Pressemitteilung von Ludger Wößmann:

Das gegliederte Schulwesen und die Nutzung des Humankapitals in der globalisierten Wirtschaft – oder:
Gehört das gegliederte Schulsystem in den Mülleimer der Geschichte?

Die frühe schulische Selektion, also die Aufteilung der Kinder nach der Grundschule auf die drei Schultypen Hauptschule, Realschule und Gymnasium, ist einer der wichtigsten Gründe für die hohe soziale Selektivität des deutschen Schulsystems. „Die Datenlage zeigt eindeutig, dass eine spätere schulische Selektion die Chancengleichheit der Schüler erhöht“, so Ludger Wößmann, Professor für Bildungsökonomik an der Ludwig-Maximilans-Universität München und Bereichsleiter am ifo Institut für Wirtschaftsforschung.

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 Diese Pressemitteilung  Studie: Ungleiche Bildungschancen  SZ: Lisa Nienhaus: Verlängert die Grundschule

„PISA hat uns zum wiederholten Mal vor Augen geführt, dass insbesondere in Deutschland die Schülerleistungen stark vom familiären Hintergrund abhängen“, erklärt Wößmann. Deutschland befindet sich regelmäßig unter den „Spitzenreitern“ der ungleichsten OECD-Länder. Für die Realität bedeutet dies, dass Kinder von gebildeten Eltern wesentlich bessere Schülerleistungen erzielen als Kinder aus bildungsfernen Schichten.

Neben einem ausgebauten frühkindlichen Bildungssystem ist es vor allem ein längeres gemeinsames Lernen, das die Chancengleichheit erhöhen kann. Dies zeigt sich sowohl im internationalen als auch im nationalen Vergleich: Je früher ein Bildungssystem die Kinder in verschiedene Schultypen aufteilt, desto stärker hängt der Bildungserfolg vom jeweiligen familiären Hintergrund ab. Schon seit längerem ist bekannt, dass im internationalen Vergleich Schulsysteme mit geringerer schulischer Selektion eine höhere Chancengleichheit erreichen. Eine neue ifo-Studie zeigt, dass dies auch im Vergleich der deutschen Bundesländer gilt: Bundesländer mit späterer Aufteilung und einer geringeren Anzahl von Schultypen erreichen weniger Ungleichheit der Bildungschancen für Kinder aus sozial schwachen Schichten. Trotz der vielfach beschworenen Durchlässigkeit zwischen den Schultypen hat die frühe Selektion also offensichtlich bleibende negative Konsequenzen.

„Auch in Deutschland kann durch eine spätere Aufgliederung der Kinder auf Hauptschule, Realschule und Gymnasium und durch eine geringere Anzahl an Schultypen die Chancengleichheit für Kinder mit unterschiedlichem sozioökonomischen Hintergrund erhöht werden“, fasst Wößmann die Ergebnisse zusammen. „Brandenburg und Berlin teilen ihre Schülerinnen und Schüler erst nach der sechsten statt wie andernorts üblich schon nach der vierten Klasse auf und erzielen eine geringere Abhängigkeit der Schülerleistungen vom jeweiligen familiären Hintergrund.“ Die Größe des statistisch berechneten Effektes ist beträchtlich: Er erklärt nahezu die Hälfte des gesamten Unterschieds zwischen dem chancengleichsten (Brandenburg) und dem chancenungleichsten (Mecklenburg-Vorpommern)
Bundesland. Und dieser Unterschied ist sehr groß: In einem internationalen Vergleich der Chancengleichheit bringt er die beiden Bundesländer auf die Plätze 10 und 40 von insgesamt 44 Ländern.

Ein weiterer Zusammenhang lässt sich zwischen einer geringeren Anzahl der Schultypen und einer höheren Chancengleichheit belegen. „In Bundesländern, in denen nur noch ein geringer Anteil der Schüler die Hauptschule besucht, könnte durch eine Verringerung der Schultypen die Ausgrenzung leistungsschwacher Schüler reduziert werden“, erläutert Wößmann. Darüber hinaus relativiert Wößmann das relativ schlechte Abschneiden von Gesamtschulen. Bei Berücksichtigung weiterer Einflussfaktoren weisen Bundesländer mit Gesamtschulen im Landesdurchschnitt keine signifikant schlechteren Leistungen auf. Gesamtschulen neben die existierenden Schultypen zu stellen bringt allerdings auch keine Vorteile: Das ursprüngliche Ziel, die Chancengleichheit zu verbessern, erreichen sie nicht.

Eine spätere und geringere Aufteilung geht nicht auf Kosten des Leistungsniveaus: Sie hat keinen nennenswerten Einfluss auf das Leistungsniveau, und wenn überhaupt, dann geht sie mit einem höheren Niveau einher. Maßnahmen, mit denen sich das Leistungsniveau insgesamt heben lässt, beinhalten nicht-staatliche Schulträgerschaft, höhere Entscheidungsautonomie der Schulen und externe Leistungsprüfungen.

In der ideologielastigen deutschen Bildungsdebatte scheint es schwer zu vermitteln, dass man in einer späteren Aufgliederung der Schüler nicht gleich den Untergang des Abendlandes sehen muss – oder den Einzug der sozialistischen Einheitsschule. In Anbetracht der Tatsache, dass so gut wie alle anderen westeuropäischen Länder diesen Weg schon vor mehreren Jahrzehnten gegangen sind, ist eine solche Befürchtung geradezu lächerlich. Die „bürgerliche“ Einheitsschule, die allen Schichten ein Recht auf Teilhabe an guter Bildung gewährt, hat überall in Europa Einzug gehalten. Es geht dabei natürlich keineswegs um die Abschaffung des Gymnasiums, sondern lediglich um die Verschiebung der Aufteilung.

In der heutigen globalisierten Wirtschaft ist es volkswirtschaftlich von entscheidender Bedeutung, das Bildungspotential der gesamten Bevölkerung zu nutzen. Die frühe Aufgliederung in Deutschland ist dafür ein Hindernis.

Prof. Dr. Ludger Wößmann
Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insb. Bildungsökonomik, Ludwig-Maximilians-Universität München
Bereichsleiter Humankapital und Innovation, ifo Institut für Wirtschaftsforschung
Tel.: (089) 9224-1699, EMail: , www.cesifo.de/woessmann

  Pressemitteilung des ifo-Instituts

Zu sehr ähnlichen Ergebnissen kamen Wößmann u. a. bereits 2005 und 2007:

  G. Schütz, L. Wößmann (2005) : Wie lässt sich die Ungleichheit der Bildungschancen verringern?

  L. Wößmann (2007) : Fundamental Determinants of School Efficiency and Equity: German States as a Microcosm for OECD Countries