Dieter Zielinski beschäftigt sich mit Aladin El-Mafaalanis Analyse des deutschen Bildungssstems - ein Meinungsaustausch
Dieter Zielinski bespricht in Die Schulefür alle 2020/1 das Buch "Mythos Bildung" von Aladin El-Mafaalani: ein brillante Analyse der Probleme, die wir in und mit dem deutschen Bildungssystem haben. Der Wermuthstropfen: Die konkreten Vorschläge für die Weiterentwicklug des Bildungssystems können die Befürworter der gemeinsamen Schule für alle nicht zufrieden stellen. El-Mafaalani hat erfreulicherweise geantwortet und legt seine Sichtweise dar.
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D. Zielinski: Widerspruch, Prof. El-Mafaalani
Widerspruch, Prof. El-Mafaalani
- und eine Aufforderung zur Zusammenarbeit
„Wenn alle pessimistisch werden, wirkt der Realist wie ein Optimist.“
(Aladin El-Mafaalani auf seiner Homepage)
„Auf die Dauer erreicht der Mensch nur, was er sich als Ziel vornimmt. Er täte deshalb gut daran, das Ziel, auch wenn es vorläufig unerreichbar ist, möglichst hoch zu stecken.“
(Henry David Thoreau in „Walden – Der Traum vom einfachen Leben“ )
In seinem Buch „Mythos Bildung“ gelingt Prof. Aladin El-Mafaalani eine brillante Analyse des Zustandes des deutschen Bildungssystems. Er beschreibt darin, dass sich trotz einer enormen Bildungsexpansion in den vergangenen 60 Jahren an der fundamentalen Bildungsungerechtigkeit in Deutschland nichts geändert habe. Im Gegenteil, diese habe sich sogar noch verschärft. El-Mafaalani räumt zwar mit dem Klischee auf, Bildung tauge als Lösung gesellschaftlicher Probleme, sieht diese aber als Voraussetzung für den Erfolg in unserer Gesellschaft. Ein Dilemma liege darin, dass vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Akzeptanz des Leistungsprinzips mit Bildung soziale Ungleichheit legitimiert werde. Nicht berücksichtigt werde bei dieser Betrachtung, dass die soziale Herkunft und damit die Klassenzugehörigkeit einen sehr starken Einfluss auf die Bildungschancen hätten. Zitat: „Bei gleicher Kompetenz wird also sehr unterschiedlich und gerade nicht unabhängig von der sozialen Herkunft sortiert.“
In dem anschaulichen Beispiel von der Tischgesellschaft sieht El-Mafaalani die Mehrheit der Gesellschaft aus Ober- und Mittelschicht am Tisch sitzend und eine Minderheit am Boden. Das Verhältnis zwischen den am Tisch und am Boden Sitzenden sei krass gestört. Der am Boden sitzenden Minderheit werde nicht mehr solidarisch begegnet. Ihr werde eigenes Verschulden für ihre Situation vorgeworfen. Dies führe zu Resignation und gegebenenfalls zur Etablierung von Parallelgesellschaften.
Seine Schlussfolgerung: „Wenn also etwas systematisch den Effekt der sozialen Herkunft und Milieuzugehörigkeit abzuschwächen imstande ist, dann sind es die Institutionen der Erziehung und Bildung.“
Die Schwäche seiner Analyse liegt in den vorgeschlagenen Lösungsansätzen beziehungsweise in dem, was er nicht mit in die Veränderungen einbeziehen will. Seine Umsetzungsvorschläge orientiert er an bestehenden Entwicklungstrends und Maßnahmen, die zum Teil derzeit eingeführt werden oder bereits etabliert sind. Unter anderem schlägt er vor, Kitas und Schulen müssten zu Orten werden, in denen Kinder alles erleben und lernen können. Dazu sei ein Ausbau des Ganztags und die Ausstattung mit multiprofessionellen Teams erforderlich. Das alles ist notwendig, aber nicht hinreichend. Andererseits kommt er zu dem Schluss, das Bildungssystem reduziere Ungleichheit deshalb kaum, weil bisherige Reformansätze lediglich ein Mehr vom Gleichen seien, es aber darauf ankomme, etwas anders zu machen.
El-Mafaalani bleibt hinter seinen eigenen Erkenntnissen zurück. So sagt er zum Beispiel, nationale und internationale Studien hätten gezeigt, dass eine frühe Selektion Chancenungleichheit erhöht und die Entscheidungen vielleicht sozial ausgewogener ausfallen, wenn der Übergang in unterschiedliche Bildungsgänge erst im Alter von 15 oder 16 Jahren erfolgte, wie in den meisten OECD-Staaten. Stattdessen favorisiert er ein zweigliedriges Schulsystem, in dem jede Schule jeden Abschluss vergibt. Seine Sympathie dafür, dass ein solches System nicht mit einer Verwässerung der Selektionslogik einhergehen muss, ist fatal. Das Gymnasium habe nach wie vor den Anspruch zum Abitur zu führen. Zustimmung äußert er auch für die Vorstellung, in einem solchen System ließe sich eine verbindliche Übergangsempfehlung politisch leichter durchsetzen.
Andererseits stellt er fest, dass die „Selektionswut“ des deutschen Bildungssystems international einzigartig sei und dass die Neigung zu Differenzierung mit dem Ziel der Homogenisierung nicht funktioniert. Nachweislich sieht er die Entwicklungsmöglichkeiten für die Schülerinnen und Schüler an den Schulformen unterschiedlich. Am Gymnasium gebe es beispielsweise höhere Kompetenzzuwächse als an den Hauptschulen.
Wenn er zudem noch feststellt, Kinder aus unteren Schichten und in prekären Lebenskontexten litten darunter, dass sie nur einen sehr begrenzten Ausschnitt dessen erlebten, was unsere Gesellschaft ausmacht, und dass sich in den Bildungsinstitutionen alles abbilden müsste, was die Welt zu bieten habe, und zwar für jedes Kind, dann bleibt völlig unverständlich, warum er sich einem Systemwandel verschließt. Stattdessen argumentiert er mit dem Totschlagargument, dass ideologische Auseinandersetzungen über die großen Systemfragen nicht weiter führten und der Klassenkampf nicht auf die Klassenzimmer übertragen werden sollte. Das Gymnasium in der heutigen Form – auch wenn es, wie er einräumt, Selektion und soziale Ungleichheit verstärkt – wird von ihm als eine der Stärken des deutschen Schulsystems gesehen, weil es die beliebteste und letzte in allen Bundesländern verbliebene Schulform ist.
Das reicht nicht, Herr Professor! Lassen Sie uns bei den erforderlichen Reformen von Zielsetzungen ausgehen, die allen Kindern und Jugendlichen ermöglichen, ein erfülltes Leben in einer vom Wandel geprägten Welt zu führen, die mit den
Werten einer demokratischen, inklusiven Gesellschaft verträglich sind. Dazu müssen wir unser Bildungssystem nicht nur verändern. Wir brauchen einen grundlegenden Wandel, der das gesamte System in den Blick nimmt, auch das Gymnasium. Die GGG hat mit ihrem Aufruf „Aus der Krise lernen - die Zukunft gestalten“ und den darauf basierenden zehn Impulsen Orientierungen vorgezeichnet. Sie selbst halten andere als die von Ihnen vorgeschlagenen Wege für möglich. Lassen Sie uns in diesem Sinne konstruktiv zusammenarbeiten!
DIETER ZIELINSKI
A. El-Mafaalani: Dissenz an einer Stelle ...
Dissenz an einer Stelle ...
(m)eine Erwiderung
Ihr Einspruch ist nachvollziehbar, denn er bezieht sich auf das letzte Kapitel, „Bildung der Zukunft“, in dem ich relativ klare und praxisrelevante Schlussfolgerungen ziehe. Das ist auch für mich als Autor insbesondere deshalb unangenehm, weil ich zuvor auf 200 Seiten deutlich mache, wie viele Spannungsfelder, Widersprüche, Paradoxien und Dilemmata das gesamte Bildungssystem prägen. In diesem letzten Teil geht es tatsächlich nicht um meine persönliche Idealvorstellung oder Vision, sondern um einen tragfähigen Kompromiss, der alles zuvor Analysierte berücksichtigt, aber zugleich begründbare Relevanzsetzungen vollzieht. Und es geht nicht um Vorschläge für die Ewigkeit, sondern um einen mittelfristigen Zeithorizont von vielleicht zehn Jahren.
Ich habe in dem Buch unter anderem beschrieben, dass die vielen Widersprüche im Bildungsbereich damit zu tun haben, dass ziel- und strategielos gehandelt wurde. Diese Widersprüche aufzulösen ginge nur mit orthodoxem beziehungsweise radikalem Denken, das aber zugleich realitätsfern wäre. Gegen ein wesentlich längeres gemeinsames Lernen sind offensichtlich mehrheitlich alle Akteure: die Lehrkräfte, die Eltern, die Ministerien und auch die politischen Mehrheiten. Gegen all die Akteure etwas mit der Brechstange durchzusetzen ist extrem riskant, denn die Sekundarschulstruktur komplett zu verändern wird selbst bei einem breiten Konsens und bei anständiger finanzieller und personeller Ausstattung zu Reibungsverlusten führen, die Jahre andauern könnten. Mit fehlendem Konsens und fehlender Ausstattung ist es nicht mehr nur riskant und mutig, sondern geradezu fahrlässig. Ich berücksichtige also nicht nur die Effekte der Ungleichheitsforschung, sondern auch viele weitere Aspekte, etwa die Tatsache, dass wir mit den Lehrkräften, die wir haben, arbeiten müssen, und dass das System in weiten Teilen auf dem Zahnfleisch geht.
Daher setze ich Schwerpunkte:
- Was ist derzeit sehr sinnvoll, dringlich und zugleich realistisch?
Ein Konsens für qualitativen Ausbau des Ganztags und eine Stärkung von Kitas und Grundschulen ist realistisch erreichbar, und aus verschiedenen Perspektiven erscheint dies sinnvoll: Frühe Investitionen sind sinnvoller als späte; multiprofessionelle Teams sind nicht nur sinnvoll für Kinder und Jugendliche, sondern entlasten auch Lehrkräfte. Darüber hinaus machen sie das System zumindest teilweise resistent gegen Personalmangel, und sie ermöglichen es den Schulen, den immer höheren Erwartungen und Anforderungen gerecht zu werden. Daher die klare Gewichtung in Richtung elementare und primäre Bildung sowie Ganztag und multiprofessionelle Teams. Aus einer Ungleichheitsperspektive ist diese Gewichtung auch klar begründbar. - Was ist sinnvoll und einigermaßen realistisch, hängt aber vom Schwerpunkt Nr. 1 ab?
Eine Verlängerung der Grundschulzeit (beziehungsweise des gemeinsamen Lernens) auf sechs Jahre wäre begrüßenswert, allerdings überhaupt nur dann sinnvoll umsetzbar, wenn Kitas und Grundschulen sowie der Ganztag umfassend gestärkt wurden. Daher bewerte ich die Verlängerung des gemeinsamen Lernens als sekundär. Man könnte es auch salopp formulieren: Strukturreformen in einem auf Kante genähten System sind zum Scheitern verurteilt. - Was wäre sinnvoll, ist aber heute nicht realistisch?
Der entscheidende Streitpunkt zwischen uns – auch im Hinblick auf Ihre 10 Impulse1 – liegt dann in der Sekundarstufe ab der 7. Jahrgangsstufe (beziehungsweise ab der 5. Jahrgangsstufe, sofern man Schwerpunkt Nr. 2 überspringt). Sie befürworten ein eingliedriges System, ich tendiere im Buch zu einem zweigliedrigen. Aber genau genommen ist es kein Streitpunkt im engeren Sinne. Denn ich wäre sofort bereit, nachdem die beiden ersten Punkte umgesetzt sind, die Lage neu zu bewerten. Nein: Eine Neubewertung wäre dann zwingend. Denkbar – vielleicht sogar wahrscheinlich – wäre eine Annäherung der Schulformen dadurch, dass sie alle mit größeren multiprofessionellen Teams arbeiten. Ich würde so weit gehen zu sagen, dass Ihre Vorstellungen von einer Schulstrukturreform überhaupt nur umsetzbar erscheinen, wenn die zuerst genannten Punkte umgesetzt wurden und sich etabliert haben. Aus heutiger Perspektive, da würde ich mich so klar festlegen, wäre eine Schulstrukturreform fahrlässig. Den Spielraum für umfassende Strukturreformen muss man sich zunächst erarbeiten.
Erst das Wichtigste umsetzen, worauf sich alle einigen können, streiten danach Zusammenfassend würde ich es so formulieren: Ich versuche, die Widersprüchlichkeiten im System zu ordnen und in eine Strategie zu überführen. Das kann man radikal machen oder pragmatisch. Mir kann man durchaus Pragmatismus vorwerfen, der womöglich damit zusammenhängt, dass mir meine Erfahrungen als Schüler, Vater und Lehrer im Schuldienst, als Bildungsforscher und Hochschullehrer in der Lehramtsausbildung sowie nicht zuletzt auch als Ministerialbeamter nicht mehr guten Gewissens erlauben, radikale Visionen zu formulieren. Ja, es ist ein pragmatischer Kompromiss, aber kein politischer. Es ist auch nicht die Suche nach dem „Einfachen“, sondern ein gewichtetes Stufensystem, das Relevanzen begründet und dabei alle Perspektiven zu berücksichtigen versucht. „Alle Perspektiven“ meint auch nicht-pädagogische und nicht-bildungswissenschaftliche, wie etwa Verwaltung und Politik, aber auch die Haltungen und Fähigkeiten der Lehrkräfte insgesamt – nicht nur derjenigen, die in der GGG organisiert sind oder mit ihr sympathisieren. Ich stelle im Buch auch
ernsthaft die Frage, inwieweit man die Lehrkräfteausbildung verändern kann. Wie kommt man darauf, dass Professoren und Universitäten offener und flexibler sind als andere Bildungsinstitutionen? Viele weitere Fragen stelle ich im Buch und bearbeite sie detailliert und kritisch.
Wenn man – wie ich es versuche – gründlich vorgeht, alle Perspektiven berücksichtigt und dabei etwas pragmatisch denkt, dann ist folgendes Ergebnis hochplausibel: Erst das Wichtigste, auf das sich (fast) alle einigen können, umsetzen. Streiten kann man danach über den Rest. Stellt man hingegen von Beginn an das Unrealistische an die erste Stelle, dann erreicht man mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht einmal mehr das Realistische, was zudem das Wichtigste und Dringlichste wäre.
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1 Dem Autor lagen die in der GGG formulierten und diskutierten „10 IMPULSE" in einer vorläufigen Fassung vor.
ALADIN EL-MAFAALANI